Hier war seine gewaltige Diskothek untergebracht. Überall waren Lautsprecher montiert. Schönbächler liebte Symphonien. Seine Theorie (er war voller Theorien): Symphonien zwängen am wenigsten zum Mithören, man könne dazu gähnen, essen, lesen, schlafen, Gespräche führen usw., in ihnen hebe die Musik sich selber auf, werde unhörbar wie die Musik der Sphären. Den Konzertsaal lehnte er als barbarisch ab. Er mache aus der Musik einen Kult. Nur als Hintergrundmusik sei die Symphonie statthaft, behauptete er, nur als» Fond «sei sie etwas Humanes und nicht etwas Vergewaltigendes, so habe er die Neunte Beethovens erst begriffen, als er dazu einen Potaufeu gegessen habe, zu Brahms empfahl er Kreuzworträtsel, auch Wiener Schnitzel seien möglich, zu Bruckner Jassen oder Pokern. Am besten jedoch sei es, gleich zwei Symphonien gleichzeitig laufen zu lassen. Das tat er denn auch angeblich. Des Getöses bewußt, das er entfesselte, hatte er für die drei übrigen Parteien des Hauses die Miete nach einem genau berechneten System ausgeklügelt. Die Wohnung unter seiner Wohndiele war die billigste, der Mieter hatte nichts zu bezahlen, nur Musik auszuhalten, stundenlang Bruckner, stundenlang Mahler, stundenlang Schostakowitsch, die mittlere Wohnung kostete das übliche, die unterste war beinahe unerschwinglich. Schönbächler war ein empfindsamer Mensch. Sein Äußeres wies nichts Besonderes auf, im Gegenteil, er schien Außenstehenden als der personifizierte Musterbürger. Er war sorgfältig gekleidet, roch angenehm und war nie betrunken, stand überhaupt mit der Welt auf bestem Fuß. Was seine Nationalität betrifft, so bezeichnete er sich als Liechtensteiner. Das stelle nicht viel dar, pflegte er dazu zu äußern, das gebe er zu, doch brauche er sich wenigstens nicht zu schämen: Liechtenstein sei an der gegenwärtigen Weltlage relativ schuldlos, sehe man davon ab, daß es zu viele Briefmarken drucke, und übersehe man seine finanziellen Kavaliersdelikte; es sei der kleinste Staat, der auf großem Fuße lebe. Auch unterliege ein Liechtensteiner nicht so leicht dem Größenwahn, sich einen besonderen Wert nur aus der Tatsache zuzuschreiben, daß er Liechtensteiner sei, wie dies etwa den Amerikanern, den Russen, Deutschen oder Franzosen zustoße, die a priori des Glaubens seien, ein Deutscher oder ein Franzose sei an sich ein höheres Wesen. Einer Großmacht anzugehören — und für einen Liechtensteiner seien notgedrungen fast alle anderen Staaten Großmächte, sogar die Schweiz —, bringe psychologisch für die davon Betroffenen einen bedenklichen Nachteil mit sich, die Gefahr nämlich, einem bestimmten Verhältnisblödsinn zu erliegen. Diese Gefahr wachse mit der Größe einer Nation. Er pflegte das an einem Mäusebeispiel zu erläutern: Eine Maus, die sich mit sich allein befinde, betrachte sich durchaus noch als Maus, sobald sie sich aber unter einer Million Mäusen wisse, halte sie sich für eine Katze und unter hundert Millionen Mäusen für einen Elefanten. Am gefährlichsten seien jedoch die Fünfzig-Millionen-Mäusevölker (fünfzig Millionen als Größenordnung). Diese beständen aus Mäusen, die sich zwar für Katzen hielten, aber gerne Elefanten wären. Dieser übersteigerte Größenwahn sei nicht nur für die davon betroffenen Mäuse gefährlich, sondern jeweils auch für die ganze Mäusewelt. Das Verhältnis jedoch zwischen der» Mäuseanzahl «und dem von dieser erzeugten Größenwahn nannte er das» Schönbächlersche Gesetz«. Als Beruf gab er Schriftsteller an. Das mochte insofern erstaunen, als er weder einmal etwas veröffentlicht noch je etwas geschrieben hatte. Er leugnete es nicht. Er nannte sich nur schlicht einen» potentiellen Schriftsteller«. Er war um eine Erklärung seines Nichtschreibens nie verlegen. So behauptete er gelegentlich, die Schriftstellerei beginne mit dem» Sinn für Namen«, das sei ihre primäre poetische Bedingung, dazu komme ihre nicht minder moralische, die in der Wahrheitsliebe begründet liege. Überdenke man nun diese beiden Grundbedingungen, so werde klar, daß zum Beispiel ein Titel, > Gedichte von Raoul Schönbächler
Du Théâtre< auf, zur allgemeinen Verwunderung, denn er war sonst dort selten zu sehen. Er bezog einen Tisch und blieb den ganzen Tag. Am nächsten Morgen kam er aufs neue, so eine Woche lang, plauderte mit allen, befreundete sich mit dem Chef de Service und den Kellnerinnen, doch dann verschwand er, war wieder in den alten Stammbeizen anzutreffen, es war anscheinend ein Intermezzo gewesen.
In Wirklichkeit hatte Schönbächler die Hauptzeugen noch einmal vernommen. Was jedoch die weiteren Recherchen betrifft, so benutzte Lienhard Feuchting, der zu jenen berüchtigten Elementen zählt, die er in seiner Detektei im Talacker beschäftigt, und den ich damals noch nicht kannte — erst jetzt kenne ich ihn (von der > Monaco-Bar
Monaco
Arbeit in der Zentralbibliothek: Warum nicht die Steiermannsche Familiengeschichte erzählen? Eben erreichte mich eine neue Postkarte Kohlers — die letzte kam vor vier Wochen, das Katz-und-Maus-Spiel geht weiter, er will Samoa später besuchen, er fährt von Hawaii nach Japan — mit einem Luxusdampfer, und hier war ich vor der Aufsichtskommission, vor dem Präsidenten Professor Eugen Leuppinger. Der berühmte Strafrechtler, Schmisse im Gesicht, poetisch, totale Glatze, empfing mich in seinem Büro; der Vizepräsident Stoss, sportlich, überhaupt frisch, fromm, fröhlich, frei, war auch zugegen. Die Herren waren menschlich. Der Hinauswurf werde zwar unumgänglich, der Regierungsrat würde sonst darum ersuchen, und da sei es klüger zuvorzukommen, aber man bedauerte, war betrübt, väterlich, begriff sozusagen auf der ganzen Linie, hatte Mitgefühl, machte durchaus keine Vorwürfe, aber dennoch, unter Männern gesprochen, Hand aufs Herz, ich müsse das selber zugeben, gerade für Juristen sei offiziell ein bestimmter Lebenswandel in einem bestimmten Milieu angezeigt, ja man dürfe formulieren, je bedenklicher dieses sei, desto untadliger müsse jener sein, die Welt sei nun einmal ein greuliches Philisternest, besonders unsere liebe Stadt, es sei zum Davonlaufen, und wenn er, Leuppinger, mal hier seine Bude schließen könne, dann auf nach dem Süden, doch nicht das sei das Wesentliche, natürlich seien zwar Prostituierte Menschen, sogar wertvolle Menschen, arme Menschen, denen er persönlich, er gebe es ruhig zu vor mir und vor Kollega Stoss, viel verdanke, Wärme, Mitgefühl, Verständnis, selbstverständlich sei das Gesetz auch für den Strich da, um das ominöse Wort mal zu gebrauchen, aber durchaus nicht im Sinne einer Förderung, ich müsse doch als Jurist selber einsehen, daß gewisse Ratschläge, die ich da der Unter- und Halbwelt gegeben hätte, gerade weil sie gesetzlich nicht anfechtbar seien, eine verheerende Wirkung zeitigten, die Kenntnis der gesetzlichen Handhaben sei in den Händen gewisser Kreise katastrophal, die Polizei sei geradezu verzweifelt, die Aufsichtskommission schreibe zwar nichts vor, übe keinen Gesinnungsterror, sei überhaupt liberal, na ja, ich wüßte schon, Statuten seien nun einmal Statuten, auch ungeschriebene, und dann fragte mich Leuppinger noch, wie Stoss mal raus mußte, ganz alter Bursche und Haudegen, ob ich ihm nicht eine bestimmte Rufnummer vermitteln könnte, um eine bestimmte Person mit einer tollen Figur (Giselle) näher kennenzulernen, und als er dann mal raus mußte, fragte Stoss, ganz ehemaliger Kranzturner, auch. Zwei Wochen später war ich mein Patent los. So sitze ich denn abgebrannt bald im Alkoholfreien, bald in der > Monaco-Bar<, lebe mehr oder weniger von Luckys und Giselles Gnaden und habe Zeit, enorm Zeit, das Schlimmste, was es für mich gibt, und deshalb: Warum nicht die Steiermannsche Familienchronik niederschreiben, darum sitze ich schließlich in der Zentralbibliothek — nur natürlich, man wurde sehr energisch, als ich mit der Flasche Gin anrückte —, warum nicht gründlich sein, peinlich genau, warum nicht den Hintergrund aufdecken, und überhaupt, was sind die Steiermanns ohne Hintergrund ihrer Familiengeschichte und — geschichten. Der Name trügt, der Ur-Steiermann wanderte zwar wie viele Industrielle einmal vom Norden her in unser Land ein, doch schon um das Jahr 1191, als ein süddeutscher Herzog auf den boshaften Einfall kam, unsere heutige Bundeshauptstadt zu gründen. Der Einfall hatte bekanntlich Erfolg, und die Steiermanns sind Urschweizer. Was nun den Gründer des Geschlechts betrifft, Jakobus Steiermann, so zählte er zu den Galgenvögeln aller Art und Stände, die sich im Raubkaff auf dem Felsen über dem grünen Fluß einnisteten (damals vier tüchtige Tagesmärsche von uns entfernt), ein aus dem Elsaß entwichener Krimineller, der auf diese Weise seinen Kopf vor dem Straßburger Henker in Sicherheit bringen konnte und sich in der neuen Vaterstadt zuerst als Landsknecht betätigte, später jedoch den Beruf eines Waffenschmieds ergriff, ein wilder, verrußter Geselle. Mit der blutigen Geschichte dieser Stadt bleiben denn auch die Steiermanns durch Jahrhunderte zäh verbunden, als Waffenschmiede verfertigten sie die einheimischen Hellebarden, mit denen man in Laupen und St. Jakob drosch, und zwar nach dem Standardmodell des Adrian Steiermann (1212–1255). Auch das verbriefte Privileg, für sämtliche süddeutschen Bistümer Richtbeile und Folterwerkzeuge herzustellen, besaß die Familie. Es ging steil aufwärts, die Schmiede in der Kesslergasse kam zu Klang und Namen. Schon der Sohn Adrians, der glatzköpfige Berthold Steiermann der Erste (der Berthold Schwarz der Sage?) machte sich daran, Feuerwaffen herzustellen.