Kohler schaute mich ruhig an, strahlend, glücklich, rosig.
«Sie werden meinen Auftrag annehmen, junger Freund«, sagte er,»ich kenne Sie besser als Sie sich selbst: Eine Chance ist eine Chance, und die benötigen Sie. Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte. Und nun, Möser, gehen wir wieder Körbe flechten.»
Die beiden gingen, Arm in Arm, so wahr ich lebe, und ich war froh, den Ort des vollkommenen Glücks zu verlassen. Eilig. Machte mich regelrecht aus dem Staube. Entschlossen, die Hände von der Angelegenheit zu lassen, Kohler nie mehr zu sehen.
Ich sagte dann doch zu. Zwar war ich noch am anderen Morgen willens abzusagen. Ich fühlte, daß mein Ruf als Rechtsanwalt auf dem Spiele stand, auch wenn ich noch keinen Ruf besaß, aber der Vorschlag Kohlers war sinnlos, eine Spielerei, unter der Würde meines Berufs, eine bloße Gelegenheit, auf eine törichte Art Geld zu verdienen, die mein Stolz verschmähte. Ich wollte damals noch sauber durch die Welt kommen, sehnte mich nach wirklichen Prozessen, nach Möglichkeiten, den Menschen zu helfen. Ich schrieb einen Brief an den Kantonsrat, teilte ihm meinen Entschluß noch einmal mit. Die Sache war für mich erledigt. Den Brief in der Tasche verließ ich mein Zimmer in der Freiestraße, wie jeden Morgen, punkt neun, in der Absicht, mich gewohnheitsmäßig zuerst ins > Select
a) Der alte Knulpe: er erwischte mich beim Briefkasten. Ich wollte eben meinen Absagebrief einwerfen, als er mir zuvorkam, mit einem ganzen Bündel von Briefen, von denen er einen um den anderen sorgfältig einwarf. Der Alte war wie immer von seiner Frau begleitet. Professor Carl Knulpe war fast zwei Meter groß, ausgemergelt, schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen, wie Prediger Simon Berger und Niklaus von der Flüe, doch ohne Bart, verwildert, schmutzig, trug sommers und winters eine Pelerine, dazu eine Baskenmütze. Seine Gattin war ebenso groß wie er, ebenso ausgemergelt, ebenso verwildert und schmutzig, trug auch jahraus, jahrein Pelerine und Baskenmütze, so daß viele sie gar nicht für seine Frau, sondern für seinen Zwillingsbruder hielten. Beide waren bedeutend in ihrem Fachgebiet, beide Soziologen. Doch so unzertrennlich sie auch im Leben zusammenhielten, wissenschaftlich waren sie Todfeinde, die sich publizistisch oft boshaft bekämpften, er war ein großer Liberaler (> Kapitalismus als geistiges Abenteuer
«Grüß Gott«, machte ich mich bemerkbar, den Brief an Kohler noch in der Hand. Professor Carl Knulpe grüßte nicht zurück, blinzelte nur mißtrauisch durch seine staubige randlose Brille zu mir herunter, und auch seine Frau (mit gleicher Brille) schwieg.
«Ich weiß nicht recht, ob Sie sich noch an mich erinnern, Herr Professor«, sagte ich etwas entmutigt.
«Doch, doch«, antwortete Knulpe.»Erinnere mich. Studierten Jurisprudenz und trieben sich bei mir in der Soziologie herum. Sehen ein wenig wie ein ewiger Studiosus aus. Examen bestanden?»
«Längst, Herr Professor.»
«Rechtsanwalt geworden?»
«Jawohl, Herr Professor.»
«Tüchtig, tüchtig. Wohl Sozi, wie?»
«Teils, Herr Professor.»
«Ein wackerer Sklave des Kapitals, he?«fragte Carl Knulpes Frau.
«Teils, Frau Professor.»
«Haben wohl etwas auf dem Herzen«, stellte Carl Knulpe fest.
«Jawohl, Herr Professor.»
«Begleiten Sie uns«, sagte sie. Ich begleitete die beiden. Wir gingen gegen den > Pfauen
«Kohler hat mir erzählt, Sie hätten da einen recht eigenartigen Auftrag angenommen, Herr Professor«, sagte ich.
«Eigenartig? Weshalb eigenartig?»
«Herr Professor! Hand aufs Herz: daß Kohler seinen eigenen Mord auf die Folgen hin untersuchen läßt, ist doch eine gar zu verrückte Geschichte. Da mordet der Kerl am heiterhellen Tag, grundlos, so mir nichts dir nichts, und läßt dann noch soziologische Studien darüber anstellen, unter dem Vorwand, damit sei die Wirklichkeit auszuloten.»
«Sie wird aber ausgelotet, junger Mann. Klaftertief.»
«Da muß doch irgend etwas dahinterstecken! Irgendeine Teufelei!«rief ich aus.
Knulpes blieben stehen. Ich keuchte. Er reinigte seine randlose Brille, trat auf mich zu, so daß ich zu ihm hinauf-, er zu mir heruntersehen mußte. Er setzte seine Brille wieder auf, seine Augen glotzten. Auch sein Weib glotzte mich entrüstet an, rückte eng an ihren Gatten und somit auch an mich.
«Die Wissenschaft steckt dahinter, junger Mann, nur die Wissenschaft. Zum ersten Male können die Folgen eines Mordes in der bürgerlichen Gesellschaft mit methodischer Gründlichkeit untersucht und erschöpfend dargestellt werden! Dank unseres fürstlichen Mörders. Eine Riesenchance! Zusammenhänge tauchen auf! Verwandtschaftliche, berufliche, politische, finanzielle, kulturelle.
Nicht verwunderlich. Alles hängt zusammen in dieser Welt, auch in unserer lieben Stadt, einer stützt sich auf den anderen, einer protegiert den anderen, und wenn einer fällt, purzeln viele, und so sind denn viele gepurzelt. Stecke jetzt in der Darstellung der Folgen bei unserer verehrten Alma mater. Und das ist nur der Anfang.»
«Entschuldigen, ein Auto.»
Ich zog die beiden in Sicherheit, Knulpes waren vor Aufregung vom Trottoir auf die Straße getreten, und ein Taxi mußte scharf bremsen. Es war überfüllt, eine alte Dame mit einem Hut voller Kunstblumen prallte innen gegen die Scheibe, der Chauffeur schrie zum Fenster hinaus, war sehr grob. Knulpes wurden nicht einmal blaß.
«Gänzlich gleichgültig«, sagte er,»statistisch unerheblich, ob wir überfahren werden oder nicht. Nur der Auftrag zählt, nur die Wissenschaft.»
Aber Frau Professor Knulpe war anderer Meinung:»Um mich wäre es schade gewesen«, behauptete sie.
Das Taxi fuhr davon. Knulpe kam wieder auf seine soziologische Untersuchung zu sprechen.
«Mord ist Mord, gewiß, doch für einen Wissenschaftler ist er ein Phänomen, das wie alle anderen Phänomene erforscht werden muß. Bis jetzt hat man sich darauf beschränkt, die Ursachen festzustellen, Motive, Herkommen, Umwelt, ich habe mich jetzt auf die Folgen zu werfen. Und da darf ich sagen: ein Segen für die Alma mater, ein Segen für die ganze Universität, dieser Mord, man möchte sozusagen selber etwas morden. Na ja, natürlich, an sich bedauerlich, so eine Untat, aber durch die unverhoffte Lücke, die Winter hinterließ, strömt frische Luft, neuer Geist. Toll, was sich da alles herausstellt, der liebe selige Winter war Sand im Getriebe, ein rückständiges Element, wie schon Shakespeare sagte: > Der Winter unseres Mißvergnügens
b) Architekt Friedli: saß neben ihm kurz darauf im > Select
Er erkannte mich auf der Stelle. Der Morgen war wie gesagt föhnig und warm, man fühlte sich zu Hause, war wie gelähmt und verhext in der Schlappheit des Klimas, saß zusammengedrängt, ich an Friedli geklebt, der bester Laune war, einen Gipfel um den anderen in einen Milchkaffee um den anderen tunkte, unmäßig, schmatzend, schlürfend, der Kaffee lief in braunen Streifen über seine seidene Krawatte und über das weiße Hemd.
Der Ursprung seiner Freude war eine Todesanzeige in unserem weltbekannten Lokalblatt. Es hatte Gott dem Herrn gefallen, durch einen tragischen Unfall» unseren unvergessenen Gatten, Vater, Sohn, Bruder, Onkel, Schwiegersohn und Schwager Otto Erich Kugler zu sich zu rufen. Sein Leben war lauter Liebe.»
«Ihr Feind?«fragte ich.
«Mein Freund.»
Ich kondolierte.
«Da muß er gegen Cham und in einen Baum sausen, der brave, gute, liebe Kugler«, erläuterte Friedli, strahlend, Kaffee schlürfend, Gipfel tunkend und essend,»kugelt ins ewige Leben.»
«Das tut mir leid«, sagte ich.
«Seinen Fiat sollten Sie erst gesehen haben, ein einziges Blechschlamassel.»
«Schauerlich.»
«Schicksal. Müssen alle mal sterben.»
«Offenbar«, sagte ich.
«Mensch«, sagte er,»Sie wissen wohl gar nicht, was dieser Schicksalsschlag für meine Wenigkeit bedeutet?»
Ich wußte es nicht. Die massive Wenigkeit glotzte mich freundschaftlich an.
«Kugler hinterläßt eine Witwe«, erklärte er,»ein herrliches Weib.»
Mir ging ein Licht auf:»Und dieses herrliche Weib wollen Sie nun heiraten.»
Architekt Friedli schüttelte jenen Teil seines Fettes, in welchem man den Kopf vermuten konnte:»Nein, junger Mann, ich will nicht die Witwe heiraten, sondern die Frau ihres Geliebten. Auch ein Prachtweib. Kapiert? Ganz einfach: Heiratet der Liebhaber die Witwe, muß er sich vorher scheiden lassen, und dann heirate ich seine Frau.»
«Gesellschaftsmathematik«, sagte ich.
«Kapiert.»
«Nur müssen Sie sich dann auch scheiden lassen«, gab ich zu bedenken und hoffte vage auf ein Geschäft.
«Bin ich. Schon seit einer Woche. Meine fünfte Scheidung.»
Wieder nichts.
Der Kellner brachte neue Gipfel. Eine Schulklasse lief über den Platz, Mädchen, einige mit Zöpfen, manche schon wie junge Frauen, ein Rudel blieb stehen, betrachtete die Standfotos vor dem Kino. Friedli spähte nach der Gruppe.