Browne lachelte.»Es schien mir wichtig fur Sie. Wenn Sir George Beauchamp noch lebte und seine Hand uber den Ablauf kunftiger Ereignisse halten konnte, wurden Ihre Aktionen im neuen Einsatzgebiet kein Sicherheitsrisiko fur Sie bedeuten, ganz gleich, in welches Wespennest Sie auch stochern wurden. «Sein jugendliches Gesicht wirkte uber seine Jahre hinaus gereift, als er Bolitho nun direkt in die Augen sah.»Aber nach Sir Georges Tod ist keiner mehr da, der Ihre Partei ergreifen wird, wenn etwas schiefgeht. Seine Verdienste um England geben diesen letzten Befehlen genug Gewicht, so da? niemand sie anzweifeln wird. Sollte Ihr Einsatz jedoch mit einem Mi?erfolg enden, werden Sie als Sundenbock, nicht als tapferer Seeheld in die Heimat zuruckkehren.»
Bolitho nickte.»Es ware nicht das erstemal.»
Browne mu?te grinsen.»Seit der Schlacht von Kopenhagen traue ich Ihnen alles zu, Sir, aber diesmal gibt mir das hohe Risiko doch zu denken. Ihr Name ist von Falmouth bis zu den Bierkneipen in Whitechapel in aller Munde. Aber das gilt auch fur Nelson, und trotzdem sind Ihre Lordschaften davon nicht beeindruckt; sie werfen ihm nichts weniger als Insubordination vor, wegen Kopenhagen.»
«Erzahlen Sie. «Bolitho starrte den jungen Offizier an, als kame er aus einer anderen Welt. Aus einer Welt der Intrigen und Taktiken, der Familienklungel und Geldsacke. Kein Wunder, da? Browne lieber zur See fahren wollte. Die
Bolitho war entsetzt. Immerhin hatte er schon allerhand Geruchte uber Nelsons verachtliche Haltung gegenuber seinen Vorgesetzten gehort, uber sein sagenhaftes Gluck, das ihn bisher vor dem Kriegsgericht gerettet hatte, vor dem andere an seiner Stelle unweigerlich gelandet waren. Also wollte Browne ihn, Bolitho, nur schutzen. Denn wenn er Beauchamps Plane nicht mit dem gro?tmoglichen Erfolg in die Tat umsetzte, wurde man den Stab uber ihm brechen.
Ruhig sagte Bolitho:»Wenn Sie immer noch mit mir kommen wollen — ich beabsichtige, morgen mit der Tide auszulaufen. Sagen Sie Allday, was Sie brauchen, er wird es zu
Leise sagte er zu Browne:»Ich mu? noch einen Brief schreiben.»
Er blickte sich in der gro?en Achterkajute um, sah die schimmernden Lichtreflexe vom Wasser unten uber die wei?en Deckenbalken tanzen. Wenn er dies alles nun eintauschte gegen die schneidige Kampftechnik und feurige Begeisterung auf einer kleinen Fregatte, wenn er mit seinem zusammengewurfelten Geschwader gegen die Festung Frankreich anrannte, dann war das keine leere Geste. Vielleicht entwickelte sich alles fur ihn mit der Folgerichtigkeit eines vorherbestimmten Schicksals. Zu Beginn des Krieges hatte Bolitho als blutjunger Kapitan an dem ungluckseligen Angriff auf Toulon teilgenommen, an diesem Versuch franzosischer Royalisten, die Revolution aufzuhalten und den Lauf der Geschichte zu andern. In die Geschichte eingegangen waren sie zwar, dachte Bolitho grimmig, aber geendet hatte das Ganze mit einem blutigen Fehlschlag.
Es lief ihm kalt uber den Rucken. Vielleicht war wirklich alles vorherbestimmt. Belinda hatte wohl damit gerechnet, da? er jetzt monatelang in Falmouth bleiben durfte, moglicherweise noch langer, falls es wirklich zum Friedensschlu? kam. Vielleicht bewahrte diese uberraschende Wendung sie nur vor einem noch gro?eren Schmerz in der Zukunft. Bolitho starrte durch die Heckfenster auf die ankernden Schiffe hinaus. Denn diesmal wurde er nicht zuruckkehren. Irgendwann mu?te es ja ein letztes Mal geben. Er rieb sich den linken Schenkel, um den vertrauten Schmerz der Wunde zu fuhlen, die von einer Musketenkugel stammte. Aber so bald schon? Ohne eine letzte Gnadenfrist, ohne jede Vorwarnung?
Abrupt sagte er zu Browne:»Ich habe es mir uberlegt, der Brief wird nicht geschrieben. Ich ziehe jetzt sofort auf
Herrick berichtete noch:»Das Geschwader wird schon in wenigen Wochen seeklar sein, Sir. Von Monaten ist nicht mehr die Rede. Ich bin erst dann zufrieden, wenn
«Falls Sie ihr begegnen, Thomas. «Er druckte dem Freund die Hand, ohne den Satz vollenden zu konnen.
Herrick erwiderte den Handedruck.»Ich werde es ihr sagen, Sir. Geben Sie gut acht auf sich. Und greifen Sie dem Gluck notfalls unter die Arme!»
Damit trennten sie sich und lie?en der formellen Abschiedszeremonie ihren Lauf.
Als das Beiboot geschickt vom hohen Rumpf des Vierundsiebzigers absetzte, wandte Bolitho sich noch einmal um und hob die Hand, aber Herricks Gestalt verschmolz bereits mit den anderen Mannern der Benbow, diesem Schiff, das ihnen beiden so viel bedeutete.
Bolitho kletterte den Niedergang hinauf und blieb kurz stehen, um sein Gleichgewicht zu bewahren, wahrend die Fregatte unter ihm wieder in ein tiefes Wellental sackte. So ging es nun schon den ganzen Tag. Sobald sie frei waren vom Plymouth Sound, hatte Styx auch das letzte Fetzchen Tuch gesetzt, um den auffrischenden Nordost voll nutzen zu konnen. Obwohl Bolitho fast den ganzen Tag in seiner Kajute geblieben war und seine schriftlichen Befehle sorgsam durchgearbeitet hatte, wobei er sich Notizen fur spater machte, war er doch standig an die Beweglichkeit und das Temperament eines kleineren Schiffes erinnert worden.
Kapitan Neale hatte den gunstigen raumen Wind dazu genutzt, seine Leute an und uber Deck exerzieren zu lassen. Den ganzen Nachmittag vibrierten die Planken vom Stampfen nackter Fu?e, erschollen die antreibenden Stimmen von Offizieren und Decksoffizieren, die aus Chaos Ordnung zu schaffen bemuht waren. Was die Mannschaftsstarke betraf, war Neale auch nicht besser dran als die anderen Kommandanten. Von seinen erfahrenen, gut ausgebildeten Leuten waren viele befordert und auf andere Schiffe versetzt worden. Was an verla?lichen Matrosen zuruckgeblieben war, hatte er strategisch unter den Neulingen verteilen mussen; von den neuen Leuten waren manche durch den Schock des Gepre?twerdens oder den abrupten Abschied von der relativ sicheren Gefangniszelle noch so entnervt, da? sie nur mit Schlagen dazu gebracht werden konnten, in den schwankenden Webeleinen aufzuentern.
Bolitho bemerkte Neale, der mit seinem wortkargen Ersten Offizier am Luvschanzkleid des Achterdecks lehnte, das Haar vom Wind ins Gesicht geweht und die Augen uberall auf der Suche nach einem Fehler bei der Segelbedienung oder einem Bummelanten, der seinen Befehlen nicht flott genug nachkam. Solche Nachlassigkeiten konnten spater Menschenleben kosten, vielleicht sogar das ganze Schiff. Neale war mit seinen Aufgaben gewachsen, obwohl es Bolitho immer noch leichtfiel, in ihm den dreizehnjahrigen Seekadetten zu erkennen, dessen Vorgesetzter er einst gewesen war.
Neale entdeckte seinen Admiral und eilte gru?end herbei.
«Binnen kurzem werde ich Segel kurzen lassen, Sir. «Er mu?te schreien, um Wind und See zu ubertonen.»Aber wir sind heute gut vorangekommen!»
Bolitho schritt zu den Finknetzen und mu?te sich kraftig festhalten, als das Schiff wieder einmal nach vorne und abwarts scho?, wobei der Kluverbaum die Gischt wie eine Lanze durchstach. Kein Wunder, da? Adam so ungeduldig auf das Kommando uber ein eigenes Schiff wartete; ihm selbst war es nicht anders ergangen. Bolitho sah zu den vollstehenden Segeln auf, zu den Toppsgasten, die mit gespreizten Beinen in den Fu?pferden der schwankenden Gro?rah standen. Ja, das hatte er am meisten vermi?t: die Gelegenheit, ein Schiff wie die
Neale hatte ihn beobachtet.»Hoffentlich werden Sie hier nicht allzusehr gestort, Sir?«fragte er.
Bolitho schuttelte den Kopf. Fur ihn war es wie ein Aufputschmittel, die beste Arznei gegen alle Sorgen; nur das Hier und Jetzt zahlte noch.
«An Deck!«Der Ruf des Ausguckpostens wurde vom Wind verzerrt.»Land in Luv voraus!»
Neale grinste triumphierend und ri? ein Fernrohr aus seiner Hal-terung neben dem Ruder. Er stellte es richtig ein und reichte es Bolitho.
«Dort druben, Sir: Frankreich.»
Bolitho wartete, bis das Deck auf einem Wellenkamm kurz ruhig lag, dann richtete er das Glas auf die Peilung aus. Zwar dammerte es schon, aber trotzdem konnte er noch den verwischten violetten Schatten erkennen: die Insel Ouessant und irgendwo dahinter Brest. Das waren Namen, die sich tief ins Gedachtnis jedes Seemanns eingebrannt hatten, der hier monatelang im harten Blockadedienst geschwitzt hatte.
Nun konnten sie bald ihren Kurs andern und Sudost laufen, tiefer in den Golf von Biskaya. Doch das war Neales Problem — und nichts im Vergleich zu der Aufgabe, mit der er selbst seine Schiffe konfrontieren mu?te. Spater.
Innerhalb einer Woche wurden Beauchamps Befehle von den betroffenen Staben bestatigt werden. Die Kommandanten wurden ihre Leute aufscheuchen, die Kurse zum Rendezvous mit dem neuen Konteradmiral berechnen. Ihr Ziel war ein Kreuz auf der Seekarte, irgendwo bei Belle Ile. Und innerhalb eines Monats wurde man von Bolitho die ersten Aktionen erwarten, die ersten Schlage gegen den in seinem eigenen Lager uberraschten Gegner.
Da? Bolitho die vorgeschlagene Taktik so ruhig besprechen konnte, als sei ihr Erfolg eine unumsto?liche Tatsache, hatte Browne sichtlich beeindruckt. Aber Browne hatte seine Adjutantenstelle den Beziehungen seines Vaters in London zu verdanken, er war nie durch die harte Schule der Kriegsmarine gegangen. Bolitho dagegen war wie die meisten Marineoffiziere noch als halbes Kind auf sein erstes Schiff gekommen. Binnen kurzester Zeit hatte man ihm beigebracht, eine Barkasse zu befehligen und Autoritat auszuuben, einen schwe ren Warpanker im Boot auszubringen, Passagiere oder Waren von und an Bord zu transportieren und spater seine Bootsmannschaft im Nahkampf gegen Piraten oder Kaperer zu fuhren: all dies gehorte zur harten und grundlichen Schulung eines jungen Offiziersanwarters.
Leutnant, Kapitan oder jetzt Konteradmiral — Bolitho war derselbe geblieben, fand sich aber damit ab, da? mit der Beforderung in den Stabsrang alles fur ihn anders geworden war. Jetzt kam es nicht mehr darauf an, sich mit Mut und Wahnwitz zu behaupten und eher Leib und Leben zu riskieren, als vor den Untergebenen Schwache oder Furcht zu verraten. Auch war es nicht mehr eine Frage des blinden Gehorsams unter allen Umstanden, gleichgultig, welch entsetzliche Szenen sich rundum abspielten. Jetzt hatte er uber das Schicksal anderer zu bestimmen, und ob sie uberlebten oder starben, hing von seinen Fahigkeiten ab, von seiner Auslegung der wenigen Informationen, die er zur Verfugung hatte. Genaugenommen entschied er mit seinem Urteil nicht nur das Geschick der ihm Untergebenen, sondern daruber hinaus — und das hatte Beauchamp ihm klargemacht — auch das Schicksal unzahliger anderer Menschen, vielleicht sogar das des ganzen Landes.
In der Tat, die Marine war eine grausame Lehrmeisterin, dachte Bolitho. Aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Es gab weniger Sadisten und Tyrannen von eigenen Gnaden, denn vor den Breitseiten des Feindes konnte keiner nur mit Gro?mauligkeit bestehen. Taglich wuchsen in der Navy neue gewandte Fuhrerpersonlichkeiten nach — Manner wie Neale, dachte Bolitho mit einem Seitenblick auf seinen Flaggkapitan — , die es verstanden, in ihren Leuten Loyalitat und Begeisterung zu wecken, wenn sie am dringendsten gebraucht wurden.
Neale schien den prufenden Blick seines Vorgesetzten nicht bemerkt zu haben.»Um Mitternacht gehen wir auf den anderen Bug, Sir«, sagte er.»Hoch am Wind wird es dann etwas ungemutlicher an Bord, furchte ich.»
Bolitho lachelte, weil ihm Browne einfiel, der halbtot vor Seekrankheit unten in seiner Kajute lag.»Dann sollten wir morgen das eine oder andere unserer Schiffe in Sicht bekommen«, sagte er.
«Aye, Sir. «Neale wandte sich um, als ein Midshipman uber die nassen Planken heranbalancierte und schnell etwas auf die Schiefertafel neben dem Ruder kritzelte.»Oh, dies ist Mr. Kilburne, Sir, unser Signalfahnrich.»
Der Junge, etwa sechzehn Jahre alt, erstarrte und blickte Bolitho an, als sei er der Leibhaftige.
Bolitho mu?te lacheln.»Freut mich, Sie kennenzulernen.»
Da der Fahnrich immer noch dastand wie vom Schlag geruhrt, fuhr Neale fort:»Mr. Kilburne hat eine Frage an Sie, Sir.»
Leise sagte Bolitho:»Qualen Sie den Jungen nicht, Neale. Haben Sie denn ein so schlechtes Gedachtnis?«Er wandte sich an Kilburne.»Worum geht's?»
Kilburne stammelte, offenbar uberrascht, da? er seinem Admiral Auge in Auge gegenuberstehen und trotzdem noch atmen konnte:»Also, Sir, wir waren alle so aufgeregt, als wir horten, da? Sie an Bord kommen.»
Mit» alle «meinte er wahrscheinlich die drei anderen Midship-men des Schiffs, dachte Bolitho.
Kilburne fing sich etwas.»Stimmt es, Sir, da? die erste Fregatte, die Sie befehligten,
war?«platzte er heraus.
Schroff sagte Neale:»Das reicht, Mr. Kilburne!«Entschuldigend wandte er sich an Bolitho.»Bitte um Vergebung, Sir. Ich dachte, der junge Tolpel wollte was ganz anderes fragen.»
Aber Bolitho war die plotzliche Anspannung nicht entgangen.»Worum geht's, Mr. Kilburne?«wiederholte er.»Ich bin immer noch ganz Ohr.»