Fieber an Bord: Fregattenkapitan Bolitho in Polynesien - Kent Alexander


Fur Winifred in Liebe

Wo liegt das Land, nach dem sie Segel hissen? Weit, weit voraus, ist alles, was sie wissen. Und wo das Land, woher ihr Schiff gekommen? Weit, weit zuruck, mehr hat man nicht vernommen.

Arthur Hugh Clough

I Erinnerungen

Es war nahezu Mittag, und die Sonne brannte mit erbarmungsloser Intensitat auf den Hafen von Sydney herab. Der Himmel uber der jungen Kolonie hatte strahlend blau sein mussen, aber er war von Schleiern durchzogen, wie durch roh gegossenes Glas betrachtet, und die Luft um die Gebaude an der Kaimauer und dem Ankerplatz war gleichzeitig staubig und feucht.

Abseits der Ansammlung ortlicher Kustenfahrzeuge und gro?erer Kauffahrteifahrer lag fur sich ein Kriegsschiff uber seinem Spiegelbild, als ob es dort festgewachsen ware und sich nie wieder fortbewegen wurde. Seine Nationalflagge uber dem hohen Achterdeck flatterte nur gelegentlich, und der breite Stander des Kommodore im Gro?topp zeigte nur wenig mehr Leben.

Doch trotz der Hitze und des Unbehagens waren die Decks schon seit einiger Zeit von beobachtenden Gestalten bevolkert, da ein anderes britisches Kriegsschiff gemeldet worden war, das sich dem Hafen naherte. Der Kommodore stutzte sich auf die Fensterbank seiner Kajute, zog die Hande aber hastig wieder zuruck. Das trockene Holz fuhlte sich an wie ein hei?geschossener Kanonenlauf. Aber er beobachtete weiter, war sich der ungewohnlichen Stille auf seinem Schiff bewu?t, wahrend der Neuankommling uber das schimmernde Wasser langsam naherkroch und seine Masten und Rahen, dann auch der geschwungene Bug mit der Galionsfigur im Dunst klarere Formen annahmen.

Das Flaggschiff des Kommodore war die alte

[1] sechsunddrei?ig Geschutze, und sie hatte England noch nie gesehen.

Er wartete, wahrend sein Diener mit Galauniform und Degen, den Abzeichen seines Dienstranges, um ihn herumtappte; er erinnerte sich an das, was er von der

gehort hatte.

Sechs Jahre zuvor, als der Krieg mit den amerikanischen Kolonien und der franzosisch-spanischen Allianz zu Ende ging, wurden Schiffe, die im Kampf ihr Gewicht in Gold wert gewesen waren, wie auch die meisten ihrer Besatzungen nicht langer benotigt. Ein Land verga? schnell, wer fur es gekampft hatte und gestorben war. Da wog der Weiterbestand eines Schiffes noch weniger. Doch der Friede zwischen den gro?en Machten schien nie sehr dauerhaft, wenigstens nicht fur jene, die an dem Preis fur jeden blutigen Sieg beteiligt gewesen waren. Und nun bestanden neue Spannungen mit Spanien, die leicht zu Schlimmerem ausarten konnten. Es ging um rivalisierende Anspruche auf verschiedene Territorien, die jeder durch Handel und Besiedlung auszubeuten hoffte. Wieder einmal war die Admiralitat angewiesen worden, mehr Fregatten einzusetzen, diese Lebensnerven jeder

Flotte.

Die

war auf der Werft der Honourable East India Company in Bombay erst vor vier Jahren gebaut worden. Wie bei den meisten Schiffen der ostindischen Handelsgesellschaft waren beim Bau das beste Teakholz aus Malabar und die besten verfugbaren Plane verwendet worden. Im Gegensatz zur Navy baute die Gesellschaft ihre Schiffe fur langjahrige Verwendung und mit einiger Rucksicht auf jene, die sie bemannen sollten.

Die Vertreter der Admiralitat in Bombay hatten das Schiff dann fur den Dienst des Konigs gekauft, bevor es unter der Flagge der Handelsgesellschaft eingesetzt worden war. Es hatte sie achtzehntausend Pfund gekostet. Die Admiralitat mu?te in einer verzweifelten Lage gewesen sein, um einen so furstlichen Preis zu bezahlen, uberlegte der Kommodore; oder — und das war ebensogut moglich — ein paar zusatzliche Goldstucke hatten in anderer Richtung den Besitzer gewechselt.

Er winkte seinem Diener, ihm das Fernrohr zu reichen, und richtete das Glas auf das langsam manovrierende Schiff. Wie die meisten Marineoffiziere war er vom Anblick einer Fregatte immer wieder beeindruckt. Diese hier war schwerer als ublich, verfugte aber dennoch uber die anmutigen Proportionen, bot das gleiche Bild latenter Schnelligkeit und Manovrierfahigkeit, die diese Schiffe zum Wunschtraum jedes jungen Seeoffiziers machten. Trotz des Dunstes konnte der Kommodore auf dem Vorschiff der Fregatte eine Ansammlung von Gestalten ausmachen. Ein Anker war gekattet und zum Fallenlassen bereit, wahrend das Schiff zielstrebig uber seinem Spiegelbild dahinglitt, wobei sein Bug kaum die blaue Wasserflache riffelte. Nur unter Marssegeln und Kluver fahrend, ging sie uber Stag, um die schwache Brise zu nutzen; er konnte beinahe die Erregung jenseits des Wassers spuren. Der Anblick eines Hafens, jedes Hafens, verwischte immer die Erinnerung an die Muhsal und mitunter brutalen Bedingungen der Fahrt.

Der Kommodore hatte die

schon vor zwei Wochen oder fruher aus Madras erwartet. Depeschen, die er bereits durch eine Kurierbrigg erhalten hatte, hatten ihn nicht daran zweifeln lassen, da? die

punktlich eintreffen wurde. Als sich ihr Einlaufen verzogerte, war er nicht beunruhigt, wie er es bei einem anderen Schiff gewesen ware. Die

stand unter dem Befehl von Kapitan Richard Bolitho, nicht gerade einem personlichen Freund, aber doch einem Landsmann aus Cornwall, und das war unter den ublen Verhaltnissen dieser Strafkolonie beinahe genausoviel wert.

Er hob das Glas wieder ans Auge. Jetzt konnte er die Ga-lionsfigur der Fregatte erkennen, eine Frauengestalt mit wilden Augen, wehendem Haar und vorspringenden Brusten, die ein gro?es Muschelhorn an die Lippen hielt. Haar und Korper waren blank vergoldet, nur die Augen leuchteten in einem intensiven Blau und blickten weit in die Ferne, als folgten sie dem Weg ihrer Kinder, der Sturme. Die Vergoldungen der Galionsfigur und der Verzierungen rings um den Kajutaufbau mu?ten Bolitho ein kleines Vermogen gekostet haben. Aber in diesen Gewassern gab es wenig, wofur man sonst sein Geld verwenden konnte. Er zuckte unwillkurlich zusammen, als er seine Marinesoldaten zur Schanzpforte stampfen horte. Schon ihre Stiefeltritte schienen ihm schwer genug, die alte Hebrus zu zertrampeln. Ein Leutnant blickte respektvoll durch den Turvorhang. Der Kommodore nickte knapp. Er wollte seinen Untergebenen nicht erkennen lassen, da? er sich so sehr fur das andere Schiff interessierte.»Ja, ja, ich wei?. Ich komme hinauf.»

Noch als er nach seinem Hut griff, hallte der erste Salutschu? uber den Hafen und scheuchte die dosenden Vogel vom Wasser auf, die kreischend durcheinanderflatterten, wie um den Neuankommling dafur zu beschimpfen, da? er ihre Ruhe storte. Auf dem Achterdeck war es trotz des ausgespannten Sonnensegels hei? wie in einem Backofen. Der Flaggkapitan legte die Hand an seinen Hut und versuchte, die Stimmung seines Vorgesetzten zu ergrunden. Er meldete:

sechsunddrei?ig Geschutze, Kommandant Fregattenkapitan Richard Bolitho. «Geschutz um Geschutz feuerte weiter Salut; der dunkle Qualm sank auf das Wasser hinab, als ob er eine schwere Masse ware.

Der Kommodore legte die Hande auf dem Rucken zusammen.

«Signalisieren Sie, sobald sie Anker geworfen hat: Kommandant zu mir an Bord!»

Der Flaggkapitan unterdruckte ein Lacheln. Die Laune war also gut. Er hatte schon erlebt, da? er mitten in die letzten Manover anderer Schiffe ein Dutzend Signale hatte geben mussen; als ob der Kommodore Vergnugen an der Verwirrung fande, die er damit stiftete. Dies mu? ein Sonderfall sein, dachte er.

Mit Marssegeln, die noch unter dem fur einen Kommodore vorgeschriebenen Salut von elf Schussen vibrierten, setzte Seiner Britannischen Majestat Fregatte

ihre langsame Fahrt durch den Hafen fort. Die Wasseroberflache glei?te so grell, da? es schmerzhaft war, uber Takelage oder Gangway[2] hinauszusehen.

Richard Bolitho stand an der Reling des Achterdecks, die Hande lose auf dem Rucken zusammengelegt, und versuchte, trotz der ublichen Spannung beim Anlaufen eines unbekannten Ankergrunds gelassen zu erscheinen. Wie still es war. Er musterte sein Schiff und fragte sich, wie wohl der Kommodore es beurteilen wurde. Er hatte das Kommando uber die

vor zwei Jahren in Bombay ubernommen, als sie von der Marine in Dienst gestellt worden war.

Beim Gedanken an dieses Datum lachelte er, und sein ernstes Gesicht wirkte dadurch jugendlicher. Wie heute, war auch damals sein Geburtstag gewesen. Denn an diesem 7. Oktober 1789, der ihm ein weiteres Einlaufen unter vielen, langst vergessenen brachte, wurde Richard Bolitho aus Falmouth im County Cornwall dreiunddrei?ig Jahre alt. Schnell warf er einen Blick zur anderen Seite hinuber, wo Thomas Herrick, der Erste Offizier der

und sein bester Freund, mit einer Hand die Augen beschattend, die Stellung der Rahen und die perspektivisch verkurzten, halbnackten Seeleute im Topp kontrollierte. Er fragte sich, ob Herrick an seinen Geburtstag denken wurde. Hoffentlich nicht. In diesen Gewassern, wo Woche auf Woche feindseliges Klima und hartnackige Windstillen einander folgten, war man sich der Verganglichkeit der Zeit nur zu bewu?t.

«Noch funf Minuten, Sir.«»Gut, Mr. Lakey.»

Bolitho brauchte sich nicht umzusehen. In den zwei Jahren seines Kommandos auf der

hatte er die Stimmen und das Temperament aller langer unter ihm Dienenden kennengelernt. Tobias Lakey war der hagere, schweigsame Steuermann, geboren und aufgewachsen auf den rauhen Scilly-Inseln, die seiner eigenen Heimat Cornwall vorgelagert waren. Im Alter von acht Jahren war Lakey zur See gegangen; jetzt war er etwa vierzig. Nach all diesen Jahren auf Schiffen jedes Typs, vom Fischerboot bis zum Linienschiff, hatte die See ihm nur noch wenig Neues beizubringen.

Bolitho versuchte, sich an die anderen Gesichter zu erinnern, die in den zwei Jahren von Bord verschwunden waren: durch Tod oder Verletzung, Krankheit oder Desertation; die Manner waren gekommen und gegangen wie die Gezeiten. Die jetzige Besatzung der

glich der anderer Schiffe, die nie einen britischen Hafen angelaufen hatten, und war so vielfaltig wie die Kusten, die sie auf ihren Reisen sahen. Manche darunter waren Manner, die bei der Marine wirklich ihren Beruf gesucht hatten. Meist hatten sie auf Schiffen in England angeheuert und waren dann auf ein beliebiges anderes versetzt worden. Besser als die meisten anderen kannten sie die Verhaltnisse in England, wo die sechs Jahre seit dem Krieg in manchem schlimmer gewesen waren als das Leben an Bord. Unter einem fairen Kommandanten und mit einer gro?en Portion Gluck konnten sie ihren Weg machen. In ihrer Heimat dagegen, fur die viele so lange und hart gekampft hatten, gab es kaum Arbeit, und die Hafen waren nur zu oft von. Kriegsversehrten und menschlichem Strandgut uberfullt.

Aber im ubrigen war die Besatzung der

ein Schmelztiegel, der Franzosen und Danen, mehrere Neger, einen Amerikaner und viele andere vereinte. Wahrend Bolitho die Manner an Brassen und Fallen musterte, die Bootsbesatzung, die darauf wartete, seine Gig zu Wasser zu lassen, die Reihe der schwitzenden Marinesoldaten, die auf dem Huttendeck eingetreten waren, sagte er sich, da? er zufrieden sein sollte. Ware er in England gewesen, hatte er sich gegramt und bemuht, wieder auf See zu kommen, ein neues Schiff zu erhalten, irgendein Schiff. So war die Situation nach dem Krieg gewesen. Seither hatte er bereits zwei Kommandos innegehabt, eine Korvette und seine geliebte Fregatte

Als ihm die

Tempest

Wieder blickte er zu Herrick hinuber und uberlegte. Herrick au?erte seine Ansichten jetzt kaum noch, obwohl er sie einmal deutlich genug ausgesprochen hatte. Bis auf seinen Bootsfuhrer John Allday kannte Bolitho sonst niemanden, der es wagte, durch offene Worte seinen Zorn herauszufordern.

Alte Erinnerungen wurden wach, als die

vor zwei Monaten in Madras geankert hatte. Wahrend seine Bootsmannschaft sich verzweifelt bemuhte, ihren Kommandanten durch die wilde Brandung zu rudern, ohne da? er bis auf die Haut durchna?t wurde, hatte er sich an seinen ersten Besuch erinnert. Damals hatte er Viola Raymond, die Frau des Beraters der Britischen Regierung bei der Hast India Company, als Passagier an Bord gehabt.[3] Herrick hatte ihn damals offen vor den Gefahren einer Affare gewarnt, vor dem Risiko fur seinen guten Namen und seine Karriere in einem Beruf, den er liebte. Automatisch tastete er nach der Uhr in seiner Tasche: Viola hatte sie ihm als Ersatz fur jene geschenkt, die in einem Gefecht zerschossen worden war. Wo mochte Viola jetzt sein?

Bei seinem kurzen Aufenthalt in England war er auch nach London gefahren. Zwar hatte er sich gesagt, er wolle nicht wirklich versuchen, sie wiederzusehen, wolle nur an ihrem Haus vorbeigehen und sehen, wo sie lebte. Doch er hatte genau gewu?t, da? das Selbstbetrug war. Dabei hatte er sich ebensogut mit der Erinnerung begnugen konnen. Denn das Haus war, von der Dienerschaft abgesehen, leer. James Raymond und seine Frau weilten im Auftrag der Regierung im Ausland, wie ihm Raymonds Hauswart, abweisend bis zur Beleidigung, verkundete. An Bord mochte ein Kommandant zwar gleich nach Gott kommen, doch in den Stra?en von St. James hatte er gar keine Bedeutung. Bolitho horte Herrick rufen:»Klar zum Ankern, Mr. Jury?«Jury, der Bootsmann mit der breiten Brust, brauchte keinen Hinweis auf seine Pflichten bei den Ankergasten; folglich mu?te Herrick Bolithos Stimmung erraten haben und versuchte nun, ihn herauszurei?en.

Bolitho lachelte wehmutig. Herrick kannte er schon, seit er das Kommando der

ubernommen hatte, und seither waren sie selten getrennt gewesen. Herrick hatte sich nicht sehr verandert. Vielleicht war er nun etwas breiter, aber das runde, offene Gesicht mit diesen leuchtend blauen Augen, die so vieles mit ihm gemeinsam gesehen hatten, war sich gleichgeblieben. Wenn, wie Bolitho jetzt vermutete, seine kurze Affare mit Viola Raymond hoheren Orts aufgefallen war, dann mu?te auch Herrick darunter leiden, und das ohne jeden Grund. Dieser Gedanke wurmte Bolitho und stimmte ihn traurig. Vielleicht wurde der Kommodore etwas Licht in die Dinge bringen. Aber diesmal wollte er nicht hoffen; er wagte es nicht. Bolitho dachte an seine Depeschen, an die zusatzlichen Nachrichten, die er Kommodore James Sayer uberbrachte. An Sayer erinnerte er sich gut, er war ihm ein- oder zweimal in Cornwall begegnet. Vorher hatten sie im selben Geschwader in Amerika gedient, beide als Leutnants. Wahrend der letzte Salutschu? noch in der Luft widerhallte, glitt die

die letzte halbe Kabellange[4] zu ihrem Ankerplatz.

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