Bolitho vernahm ein erschrecktes Stohnen, wandte den Kopf und sah Midshipman Seton auf die turmhohen Masten mit den festgemachten Segeln starren. Angst fullte sein Gesicht, seine Hand war verkrampft wie eine Vogelklaue, als er nach dem Dollbord der Gig fa?te. Ruhig fragte Bolitho:»Wie alt sind Sie, Mr. Seton?»
Der Junge ri? die Augen von dem Schiff los und murmelte:»S… Sechzehn, Sir. «Ernsthaft nickte Bolitho.»Nun, ich war ungefahr ebenso alt, da kam ich auf ein Schiff, das war ziemlich genauso wie dieses hier. Und im selben Jahr wurde die
gebaut. «Ein knappes Lacheln.»Wie Sie sehen, Mr. Seton, leben wir alle beide noch.»
Er sah an dem bleichen Gesicht des Midshipman, wie die Gemuts- bewegungen einander jagten, und war froh, nicht erwahnt zu haben, da? es sich damals um sein zweites Schiff gehandelt hatte. Denn Bolitho war schon seit seinem zwolften Jahr zur See gefahren. Warum mochte der Vater Seton wohl so lange gewartet haben, bis er seinen Sohn zur Marine schickte?
Er reckte sich hoch. Das Boot scho? zur Fallreepspforte, eine Stimme ertonte:»Boot ahoi?«und Allday rief durch die hohlen Hande:
Nun bestand kein Zweifel mehr, falls dem je so gewesen war. Jeder einzelne Mann an Bord wu?te nun, da? der straffe Offizier mit dem goldbetre?ten Hut sein neuer Kommandant war und nachst Gott der absolute Herrscher uber alle auf diesem Schiff. Alle waren sie in seine Hand gegeben — er konnte jedermann auspeitschen oder hangen lassen, ebensogut aber auch Leistungen belohnen und Schwachen anprangern.
Nach dem Kommando» Riemen hoch!«fa?te der Bootsmann mit dem Haken in die Gro?rusten, und Bolitho brauchte seine ganze Selbstdisziplin, um reglos im Heck sitzenzubleiben. Seltsamerweise war es der seekranke Midshipman, der den Zauber brach. Er machte Miene, an der Bordwand hochzuklettern; aber Allday knurrte:»Noch nicht, junger Herr!«, und zog ihn auf seinen Sitz zuruck.»Der Ranghochste geht zuletzt ins Boot, aber zuerst hinaus, kapiert?»
Bolitho starrte auf die beiden und verga? sie sofort. Er druckte das Gehange fest an den Schenkel, denn einmal hatte er erlebt, wie ein neuer Kapitan uber seinen Degen gestolpert und rucklings ins Boot gefallen war. Steifbeinig kletterte er das Fallreep hoch und trat durch die geschnitzte und vergoldete Schiffspforte.
Als er den Hut luftete, war er fast uberwaltigt von der unmittelbaren Reaktion, die von allen Seiten, von unten und von oben, zu kommen schien. Die Ehrenbezeugung, die mit den schrillen Querfloten begonnen hatte, als sein Gesicht uber der Schanz erschien, war in ein wildes Crescendo ausgebrochen, in dem er zuerst nur mit Muhe die Einzelheiten unterscheiden konnte: die Trommeln und Pfeifen des kleinen Spielmannszuges der Marine-Infanterie, das Klirren und Klappern der prasentierten Musketen und das Schwirren der gezogenen Degen vereinten sich zur Gerauschkulisse der Begru?ungszeremonie.
Irgendwie beengten ihn die scharlachroten Reihen der Seesoldaten, das Blau und Wei? der versammelten Schiffsoffiziere, die dichtgedrangten, bezopften Kopfe der Matrosen, die aus dem ganzen Schiff eiligst zusammen- und vom Dienst weggerufen worden waren.
Er hatte eigentlich darauf vorbereitet sein mussen, aber da er so lange auf Fregatten Dienst getan hatte, verwirrten ihn diese plotzlichen Menschenmassen auf einem Schiff. Doch als der erste Schreck vorbei und sein Blick rasch uber die Reihen der blanken Geschutze, die frischgescheuerten Planken, das dichte Netzwerk des Riggs fuhr, wurde ihm — und vielleicht zum ersten Male — der ganze Umfang seiner neuen Verantwortung klar.
Bis zu diesem Augenblick hatte er die
nur als neue Umgebung betrachtet, in der es sich etwas anders leben wurde als bisher. Jetzt, als die Spielleute plotzlich verstummten und ein gro?er, schlanker, ernsthaft blickender Leutnant ihm entgegentrat, begriff er, was es mit diesem Kommando wirklich auf sich hatte. Diese Erkenntnis uberraschte ihn und machte ihn zugleich demutig.
Der plumpe, einhundertachtzig Fu?* lange Rumpf der
umschlo? eine vollig neue Welt. Eine merkwurdige, festumgrenzte
* = ca. 60 m
Existenz, in der einige sechshundert Manner — Offiziere, Matrosen und Seesoldaten — zusammenlebten, arbeiteten und, wenn es sein mu?te, starben, jedoch durch Dienstrang und Disziplin streng in einzelne Gruppen geschieden waren. Es war kaum verwunderlich, da? manche Kommandanten von Linienschiffen dem Bewu?tsein ihrer Macht und Bedeutung erlagen.
Der schlanke Offizier beobachtete ihn gespannt, doch mit dienstlich ausdrucksloser Miene. Lieutenant Quarme, Sir«, stellte er sich vor.»Ich bin der Dienstalteste an Bord.»
Bolitho nickte.»Danke sehr, Mr. Quarme. «Er fa?te in die Brusttasche und holte seine Bestallung hervor. Durch den Larm und die plotzliche Erregung uberkam ihn eine Schwache, so da? er nach all dem Warten und Bangen der letzten Wochen auf einmal das Bedurfnis nach Ruhe und Alleinsein in seinem neuen Quartier empfand.
Dieser Quarme sieht wie ein tuchtiger Offizier aus, dachte er. Plotzlich stand ihm Herrick vor Augen, sein ehemaliger Erster Leutnant auf der
und der
und von ganzem Herzen wunschte er, Herrick und nicht Quarme stunde jetzt vor ihm, um ihn zu begru?en.
Quarme schritt langsam die Reihen der Offiziere ab, Namen murmelnd, hier und da dienstliche Erlauterungen gebend. Bolithos Miene blieb dabei vollig unbewegt. Es war noch viel zu fruh fur Lacheln und naheres Kennenlernen. Die wirklichen Charaktere wurden erst spater hinter diesen starren, respektvollen Gesichtern hervortreten. Es scheint eine ziemlich durchschnittliche Kollektion zu sein, dachte er vage — aber was fur eine Menge Leute gegen die paar Offiziere an Bord einer Fregatte! Er schritt die Reihe entlang, an den Leutnants und hoheren Deckoffizieren vorbei bis zu den in faszinierter Spannung wartenden Midshipmen. Er dachte an den jungen Seton — was mochte der wohl von diesem ehrfurchtgebietenden Schauspiel halten? Wahrscheinlich war er vollig erschuttert. Zwei Offiziere der Marine-Infanterie standen stramm vor den Reihen der Manner in Scharlachrot mit dem wei?en, uber Kreuz geschnallten Lederzeug und den silbernen Knopfen; und im zweiten Glied standen die niederen Deckoffiziere, die Handwerker, von denen es abhing, ob ein Schiff lebte oder starb: Bootsmann, Zimmermann, Kufer und so weiter.
Bolitho fuhlte den warmen Sonnenschein auf der Wange und entfaltete rasch seine Papiere. Die Leute druckten sich naher heran, um besser horen und sehen zu konnen; manche schlugen die Augen nieder, als er sie ansah, als ob sie Angst hatten, schon jetzt aufzufallen.
Mit klarer Stimme und unbewegt verlas Bolitho seine Bestallung, dieses Schreiben an Richard Bolitho, Esqu. das von Admiral Samuel Hood unterzeichnet war und den Befehl enthielt, das Kommando uber Seiner Britannischen Majestat Schiff
zu ubernehmen. Die meisten Manner hatten derlei Bestallungen schon ofter gehort, doch als er die knappen, dienstlich-formellen Satze verlas, war ihm die tiefe Stille bewu?t, die ihn umgab. Als hielte das ganze Schiff den Atem an.
Bolitho rollte seine Papiere zusammen und steckte sie wieder in die Brusttasche. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Allday sich langsam zum Achterdecksniedergang hinschob. Nach alter Gewohnheit hielt er sich auch hier den Ruckzug vor lastigen Formalitaten und Unbequemlichkeiten offen.
Trotz der uber die Finknetze scheinenden Sonne fuhlte sich Bo-litho leicht schwindlig, und ein Frosteln uberlief ihn unvermittelt. Doch er bi? die Zahne zusammen und zwang sich, vollig reglos stehenzubleiben. Dies war ein kritischer Moment. Der Eindruck, den er jetzt auf die Manner machte, konnte eines Tages ihr Schicksal entscheiden — und seines auch. Scheu?lich, wenn er jetzt einen Fieberanfall bekame und alle Zeugen seiner demutigenden Schwache wurden! Uberraschenderweise gab ihm diese Vorstellung seine innere und au?ere Festigkeit zuruck.
Er hob die Stimme.»Ich will Sie nicht langer vom Dienst abhalten, denn es gibt viel zu tun. Die Trinkwasserboote werden gleich langsseits kommen, denn ich beabsichtige, diesen gunstigen Wind zu nutzen und heute nachmittag Segel zu setzen. «Er sah die beiden Leutnants rasche Blicke tauschen und fuhr in harterem Ton fort:»Meine Segelorder besagt, da? ich mich mit diesem Schiff unverzuglich dem Geschwader Lord Hoods vor Toulon anzuschlie?en habe. Sobald wir dort sind, werden wir uns die gro?te Muhe geben, den Feind in seinen Hafen festzuhalten. Und wenn irgend moglich, werden wir ihn zu stellen und zu vernichten suchen.»
Ein leises Murmeln ging durch die dichtgedrangten Reihen, und Bolitho erriet, da? viele hoffnungsvolle Seelen bis zum letzten Moment, auch noch als das Schiff von der Brest-Blockade abgezogen und nach Gibraltar beordert worden war, geglaubt hatten, die
wurde nach Hause segeln. Seine Worte, seine neue Bestallung hatten diese Hoffnung zerschlagen. Jetzt, mit dem ersten Stuck windgefullter Leinwand, wurde jede Meile, die der algenbewachsene Kiel verschlang, sie noch weiter von England weg fuhren. Und fur manchen wurde es bestimmt eine Reise ohne Wiederkehr.
Etwas ruhiger sprach er weiter:»England liegt im Kriege mit einem Tyrannen. Wir brauchen jedes Schiff und jeden loyalen Mann, um ihn zu sturzen. Jeder gebe sein Bestes. Ich fur mein Teil will das ebenfalls tun.»
Mit einem kurzen Nicken drehte er sich auf dem Absatz um.»Machen Sie weiter, Mr. Quarme. Teilen Sie Leute zur Wasserubernahme ein, und sorgen Sie dafur, da? der Zahlmeister reichlich frisches Obst an Bord nimmt. «Er blickte uber die nebeldurchzogene Bai nach Algeciras hinuber.»Da wir ja neuerdings mit Spanien verbundet sind, sollte das nicht allzu schwer fallen.»
Der Erste Offizier fa?te an den Hut. Dann rief er aus:»Drei Hurras fur Konig George!»
Langsam schritt Bolitho nach achtern. Er fuhlte sich ausgelaugt und eisig kalt. Die Hurras waren zwar rasch genug gekommen, aber sie klangen mehr wie eine Pflichtubung, ohne echtes Gefuhl.
Er stieg die Stufen hinauf und schritt uber das geraumige Achterdeck. Als er unter der Kampanje den Kopf einzog, sagte Allday gemachlich grinsend:»Ist nicht notig, da? Sie sich bucken, Captain. Hier haben Sie reichlich Platz.»
Richard Bolitho schob die Papiere auf seinem Tisch etwas beiseite und lehnte sich zuruck, um die Augen auszuruhen. Er blickte auf seine Taschenuhr und merkte uberrascht, da? er fast sechs Stunden lang pausenlos uber den Schiffsbuchern und Berichten gebrutet hatte, wobei sich sein geschaftiger Geist die ganze Zeit der Gerausche drau?en und oben an Deck bewu?t gewesen war. Mehr als einmal war er versucht gewesen, seine konzentrierte Arbeit zu unterbrechen und in die Sonne hinauszugehen, sei es auch nur, um sich zu uberzeugen, da? der Bordbetrieb normal ablief; aber jedesmal hatte er sich dazu gezwungen, sitzenzubleiben und mit dem Studium der Schiffsangelegenheiten fortzufahren.
Zeit und Erfahrung wurden ihm zeigen, wo die wirklichen Starken und Schwachen seines neuen Schiffes lagen; schon in diesen paar Arbeitsstunden in seinem Quartier hatte er sich im Geiste ein brauchbares Bild gemacht. Nach allem, was er gelesen und uberpruft hatte, schien die
unter dem verstorbenen Kommandanten Turner das normalste Schiff gewesen zu sein, das man sich nur vorstellen konnte. Das Strafbuch, das sich Bolitho zuerst angesehen hatte — seiner Erfahrung nach der sicherste Ma?stab fur einen Kapitan und seine Schiffsfuhrung —, wies die ubliche Liste kleiner Vergehen auf; Auspeitschungen und Degradierungen gab es nicht mehr, als normalerweise zu erwarten waren. Wahrend der Stationierung in Westindien hatte es mehrere Todesfalle durch Fieber und Unfalle gegeben (meist auf Unvorsichtigkeit zuruckzufuhren). Auch die Logbucher wiesen nichts Besonderes auf.
Stirnrunzelnd lehnte sich Bolitho noch weiter im Stuhl zuruck. Das war alles so normal, sogar langweilig fur ein Schiff mit der kriegerischen Vergangenheit der
da? es den Eindruck einer gewissen Lassigkeit machte.
Wieder sah er sich in seinem neuen Quartier um, als wolle er sich ein schwaches Abbild des fruheren Bewohners verschaffen. Es war, fand er, eine geraumige, sogar elegante Kajute und im Vergleich zu der kargen Enge an Bord einer Fregatte der reine Palast. Der Salon, in dem er sa?, nahm die ganze Breite des Hecks ein und ma? uber drei?ig Fu? von einer Wand zur anderen; die hohen Heckfenster, unter denen der geschnitzte Schreibtisch stand, schimmerten im Abendlicht und umrahmten das farbenprachtige Panorama des weitraumigen Hafens mit seinen vielen vor Anker liegenden Schiffen.
Es gab noch einen ebenso gro?en Speiseraum, und an den beiden Schmalseiten je einen kleineren abgetrennten Verschlag: das Schlafkabinett und die Kartenkammer.
In plotzlichem Impuls stand Bolitho auf und ging zu dem E?tisch aus Mahagoni hinuber. Er hatte sechs Ausziehplatten; Turner schien gern Gaste bei sich gesehen und sie gro?zugig bewirtet zu haben. Alle Stuhle, auch die lange Sitzbank unter den Heckfenstern, waren mit feinem grunem Leder bezogen; und uber dem ublichen Bodenbelag aus schwarz-wei?-gewurfelter Leinwand lag ein uppiger Teppich — mit dem Geld, das er gekostet hatte, konnte man mehrere Monate lang die Heuer einer Fregattenbesatzung bestreiten, schatzte Bolitho.
Er suchte sich einzureden, seine innere Spannung, die nicht weichen wollte, beruhe eher auf mangelndem Selbstvertrauen als auf realen Ursachen.
Er starrte sein Bild im Kajutspiegel an, sah die Falten auf der Stirn, die Schwei?flecken auf dem Hemd. Automatisch strich er die schwarze Strahne aus der Stirn; dabei ruhrten seine Finger an die tiefe Narbe, die von der Braue schrag nach oben bis zum Haaransatz verlief. Ein seltsamer Gedanke, da? die
damals in nur wenigen Meilen Entfernung vorbeigesegelt war, als jenes Entermesser ihn niederstreckte und fur den Rest seines Lebens zeichnete.
Ein nervoses Klopfen an der Tur, und ehe Bolitho antworten konnte, ging sie auf, und ein schmalschultriger Mann in einfachem blauem Rock kam mit einem Silbertablett herein.
Bolitho blickte ihm unwillig entgegen.»Was ist?«Der Mann schluckte muhsam.»Mein Name ist Gimlett, Sir. Ich bin Ihr Kajutsteward, Sir. «Er hatte eine piepsige Stimme, und bei jeder Silbe bleckte er gro?e vorstehende Zahne wie ein verangstigtes Kaninchen.
Bolitho bemerkte, wie die Augen des Mannes zu einem Seitentischchen glitten, auf dem er sein zweites Fruhstuck angerichtet hatte. Es war noch unberuhrt. Bolitho hatte es, was der armselige Gimlett nicht wu?te, uberhaupt nicht bemerkt. Sein Arger uber die Storung legte sich etwas. Die Angst auf dem Gesicht des Mannes war durchaus echt. In der Flotte kursierte das Gerucht von einem jahzornigen Kapitan, der seinen Steward auspeitschen lie?, nur weil dieser einen Becher Kaffee verschuttet hatte.
Gimlett sagte:»Wenn das Fruhstuck nicht nach Ihrem Geschmack war, Sir, dann werde ich…»
«Ich hatte keinen Hunger. «Das stimmte zwar nicht, war jedoch ein brauchbarer Kompromi?.»Aber danke, Gimlett, da? Sie daran dachten. «Auf einmal interessierte ihn dieser Steward.»Haben Sie Captain Turner lange gedient?»
«Jawohl, Sir. «Gimlett trat nervos von einem Fu? auf den anderen.»Und er war ein guter Herr, Sir. Sehr rucksichtsvoll, wirklich.»
«Sie stammen wohl aus Devon?«fragte Bolitho mit fluchtigem Lacheln.
«Aye, Sir. Ich war Erster Pferdeknecht im >Goldenen Lowen
Bolithos Lacheln wurde breiter. Anscheinend furchtete Gimlett, sein fruherer Herr konnte irgendwo den wahren Grund seines An-heuerns schriftlich niedergelegt haben.»So waren Sie also mit Captain Turner nur in Westindien? Und nicht mit ihm an Land, bei ihm zu Hause?«Diese letzte Frage stellte er, weil Gimlett ihn so verstandnislos ansah.