Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia 5 стр.


Doch Jonathan druckte die Ratte an sich wie einen Schatz. »Das Leben kommt von Gott«, sagte er mit einem leisen Lacheln. »Auch das Leben einer Ratte. Lernt ihr keine Gottesfurcht, da, wo du herkommst?«

Jose knurrte. »Carmen«, sagte er dann.

Sie erreichten Santiago, als der Abend kam. Es war ein Tag voller Schweigen gewesen. Jonathans Schweigsamkeit war wie eine Mauer, gegen die Jose nicht ankam. Er wunschte, er hatte noch ein Dutzend Ratten unter Deck gefunden, damit Jonathan uber sie lachen konnte, doch Carmen blieb der einzige blinde Passagier. Sie hatte sich mit etwas Brot futtern lassen und war offenbar jetzt damit beschaftigt, unter Deck aufzuraumen. Ab und zu horte man etwas hinunterfallen.

Jose versuchte die Sullivan Bay anzulaufen. Er kannte die Bucht aus Erzahlungen: Sie war ein einziges Feld aus dunklen, ubereinandergelegten Stricken schwarzer Lava, die wirkten wie riesige Taue. Wo Gasblasen die oberste Lavaschicht zum Aufplatzen gebracht hatten, gab es Locher in der Lava: Hornitos, langst erkaltete Gesteinsformen. Sie sahen aus wie Augen. Jose schuttelte sich unwillkurlich.

»Auf der anderen Seite der Insel gibt es Siedler«, sagte er. »Angeblich. Du wirst jemanden finden, der dir weiterhilft.«

Jonathan antwortete nicht. Und dann drehte der Wind und druckte die Mariposa von Santiago fort.

»Es ware einfacher, eine der beiden Buchten da druben anzulaufen«, sagte Jonathan und zeigte zur anderen Seite.

Jose schnaubte. »Das ist Bartolome. Eine winzige Insel. Da gibt es keine Menschen. Was willst du dort?«

»Das wei?t du genau«, sagte Jonathan. »Und du wei?t auch, dass ich dazu keine Menschen brauche. Steure uns nach Bartolome.«

Jose seufzte und wendete die Mariposa. Er war inzwischen zu mude, um zu diskutieren. Er musste sich eine Weile auf festem Boden ausstrecken und schlafen. Im Abendlicht glichen die sandigen Zwillingsbuchten von Bartolome den Flugeln einer Mowe. In ihrer Mitte reckte sich steil eine schwarze Felsspitze in die Hohe wie ein Schnabel.

»Pinnacle Rock«, sagte Jose laut. Die Amerikaner hatten von diesem Felsen gesprochen, und auch seine Bruder, hinter vorgehaltener Hand. Als ware der schwarze Stein etwas Lebendiges, etwas Unberechenbares, etwas Gefahrliches. Jose spurte, dass die Abuelita etwas sagen wollte, und verbot ihr den Mund. Er ubergab Jonathan noch einmal das Steuer, kletterte nach vorn, um den Anker auszuwerfen und die Segel einzuholen. Trotz der Mudigkeit fuhlte sich jeder Handgriff leicht und eingeubt an, als hatte Jose sein Leben lang nichts anderes getan, als die Mariposa zu segeln. Aber der Schatten von Pinnacle Rock war tief und dunkel, und seine Spitze streifte die honiggelbe Flanke des Schiffs wie eine Drohung.

Das Wasser war hier nicht tief, es ging Jose nur bis zur Hufte. Er half Jonathan beim Hinunterklettern und spurte einmal mehr, wie schmachtig er war. »Wenn du ins Meer hinausschwimmst, wie willst du je darin versinken?«, sagte Jose mit einem unpassenden Lacheln. »Du hast kein Gewicht, dass, dich in die Tiefe zieht.«

»Wir werden sehen«, sagte Jonathan.

Dann wateten sie an Land. Dort blieben sie stehen und sahen sich an, und schlie?lich streckte Jonathan seine Hand aus. Er schuttelte Joses Hand stumm zum Abschied. Jose wollte tausend Dinge sagen. Er wusste, dass keines der tausend Dinge Jonathan umstimmen konnte. So legte er sich in den wei?en Sand, schloss fur einen Moment die Augen und bemuhte sich, nicht daran zu glauben, dass dieser Verruckte wirklich versuchen wurde zu sterben. Er bemuhte sich mit solcher Konzentration, dass er daruber einschlief.

Im Traum segelte er auf der Mariposa uber das Meer bis nach London. Jose wusste, dass es London war, denn am Ufer stand Jonathan und winkte mit einer englischen Flagge. Auf seiner Schulter sa? Carmen, die Reisratte, und mitten in der Flagge war ein Loch. »Das hat jemand mit der Pistole hineingeschossen!«, rief Jonathan in Joses Traum vom Ufer aus. »Aber wer? Wem gehort sie?«

Fruher hatte Jonathan gedacht, die Inseln waren von Anfang an grun: Man setzte seinen Fu? darauf und befand sich im Urwald, wo Millionen von gro?en bunten Bluten an den Baumen wuchsen und ihren su?lichen Duft verstromten. Isabela war nicht von Anfang an grun gewesen. Und auch hier lag nur vertrocknetes, sonnenverbranntes Land hinter dem Strand. Sein eigener Schatten zeichnete sich mit brutaler Scharfe auf dem Boden ab.

Er folgte einem vor langer Zeit ausgetretenen Pfad zwischen niedrigen Buschen hindurch – und trat beinahe auf das Nest eines Blaufu?tolpels. Ein Stuck weiter sonnte sich eine Schlange auf einem Stein, zwei Eidechsen huschten davon und ein trager gelber Landleguan beaugte Jonathan mit einem Blick voll gutmutiger Langeweile.

»Du hattest recht«, flusterte Jonathan. »Mama, du hattest recht. Sie lassen sich von einem dummen Menschen nicht storen. Wenn du nur hier warst und sie sehen konntest! Die Tiere, und auch die Pflanzen. Sie werden hoher und gruner, je weiter man sich vom Ufer entfernt …«

Und da beschloss Jonathan, auf den schwarzen Felsen am Rand der Bucht zu steigen, um die Insel von dort aus zu betrachten: als konnte er sie seiner Mutter zeigen, indem er sie selbst sah. Vielleicht konnte er ihr davon erzahlen. Er wurde ihr bald begegnen, nicht wahr? Sobald er den Mut fand, noch einmal ins Wasser zu gehen.

Er kehrte zuruck zum einen Ende des Strands, kletterte uber spitze Lavasteine und verfluchte seine blo?en Fu?e. Und dann sah er hinunter zum Wasser und entdeckte die Pinguine. Sie waren kleiner und unscheinbarer als ihre schwarz-wei?en Verwandten vom Sudpol, sie trugen einen schlichten Anzug mit braunlich gesprenkelter Brust und keinen schwarzen Frack. Dennoch waren es unzweifelhaft Pinguine. Sie spielten im Wasser zwischen den schwarzen Felsen wie Kinder, pfeilschnell, fischschnell. Doch die, die an Land kamen, verloren ihre Eleganz. Sie watschelten langsam und schwankend uber die Steine: wie eine Reisegruppe aus alteren Herrschaften, die auf dem Kreuzfahrtschiff ein Glaschen Sekt zu viel getrunken hatten. Er merkte, wie sich ein Grinsen in sein Gesicht stahl. Mama, dachte er, hatte laut gelacht.

Ein paar der Pinguine schienen die Kopfe zusammenzustecken, um uber etwas zu tuscheln. Nein, sie hatten sich uber etwas gebeugt, das am Boden lag. Einen weiteren Pinguin. Jonathan schluckte. War er tot? Oh, wie satt er den Tod hatte! Er schlich sich uberall ein, selbst in den Momenten, in denen man lachen wollte … Dann sah er, wie der Pinguin einen Flugel bewegte, hilflos, schwach, aber lebendig. Jonathan kletterte schneller uber die spitzen Steine hinunter, als er es fur moglich gehalten hatte.

Als er sich neben den Vogel kniete, wichen die anderen zuruck und sahen ihn aus verwunderten Knopfaugen an. Blut hatte das helle Gefieder des Pinguins dunkel verfarbt. Er hatte eine gro?e Wunde an der einen Flanke und offenbar konnte er den Flugel auf dieser Seite nicht bewegen. Es sah aus, als hatte jemand etwas nach ihm geworfen. Einen der scharfkantigen Steine, die hier herumlagen.

»Aber wer?«, wisperte Jonathan. »Wer hat das getan? Weshalb?«

Behutsam hob er den Pinguin hoch und hielt ihn im Arm wie ein Kind. Die blanken Augen des Vogels fanden seine und er las eine Bitte darin: Hilf mir, bat der Pinguin. Es war ein hoflicher Pinguin. Wenn du mich hier liegen lasst, werde ich sterben. Es macht nichts aus, denn uberall sterben Tiere, jeden Tag, es gehort dazu. Aber mir personlich wurde es doch etwas ausmachen.

»Naturlich«, flusterte Jonathan. »Naturlich helfe ich dir. Vielleicht gibt es auf der Mariposa etwas, um die Wunde zu saubern. Alkohol. Und Verbandszeug. Ich werde Jose fragen. Ich …«

Der Pinguin drehte den Kopf und sah aufs Meer hinaus, und Jonathan folgte seinem Blick.

Dort naherte sich vor der sinkenden Sonne von Westen her ein Schiff. Es war gro?er als die Mariposa, und obwohl er die Farbe nicht genau erkennen konnte, schien es ihm grau. Militargrau. Jonathan duckte sich instinktiv hinter einen Felsbrocken.

Der Militarsegler glitt jetzt elegant und lautlos in die Bucht hinein, die Segel wurden eines nach dem anderen heruntergenommen und ein Motor sprang an. Das Schiff steuerte direkt auf die ankernde Mariposa zu. Im letzten Moment riss jemand auf dem gro?en Schiff das Steuer herum und es legte sich langs, Flanke an Flanke mit dem kleinen honiggelben Boot.

War Jose dort? War er wieder an Bord?

Jonathan sah, wie ein Mann von dem gro?en Schiff auf die Mariposa hinuberstieg. Er horte Stimmen, sah den Mann in der Kajute verschwinden und nach einer Weile wieder auftauchen, um zuruck auf den gro?en Segler zu klettern. Gleich darauf ankerte das Schiff wenige Meter von der Mariposa entfernt. Zwei Manner wateten an Land. Sie gingen uber den Strand hinauf, dorthin, wo die ersten, niedrigen Busche standen.

»Sie suchen etwas«, flusterte Jonathan. »Sie suchen jemanden. Jemanden, den sie auf der Mariposa nicht gefunden haben. Sie suchen Jose.«

Aber wo war Jose? Jonathan konnte ihn am Strand nirgends entdecken. Versteckte er sich zwischen den duftenden Balsambaumen, irgendwo im Schatten, unsichtbar geworden, eins mit der Dammerung? Wusste er, dass jemand ihm folgte? Jonathan schloss die Augen, um besser nachdenken zu konnen. Und er merkte, dass er Angst hatte. Angst, dass die Manner Jose fanden.

Er wartete lange mit geschlossenen Augen und klopfendem Herzen, und schlie?lich horte er die Stimmen der Manner ganz nah, horte ihre Schritte vor seinem Felsen uber den Strand gehen. Sie sprachen englisch, aber einer, der so weit gereist ist, versteht auch Englisch. Einer, in dessen Pass steht, dass er in London geboren wurde, sollte Englisch verstehen.

»… machen, dass wir hier wegkommen«, sagte der eine. »Das Schiff aus der Bucht schaffen. Es ist gleich dunkel. Du wei?t, was bei Einbruch der Dunkelheit passiert.«

»Wir hatten ihnen sagen sollen, dass wir hier sind … Wir sind zu ubersturzt aufgebrochen … Uber Funk kriege ich keinen rein. Wer konnte auch ahnen, dass er ausgerechnet nach Bartolome fahrt?«

»Wir. Wir hatten es ahnen konnen. Es ergibt Sinn.«

»Ja. Eine Menge ergibt jetzt Sinn. Lass uns irgendwo drau?en auf ihn warten, vor der Bucht. Er sitzt in der Falle hier. Spatestens morgen fruh haben wir die Karte in der Hand. Und dann hat es ein Ende mit der Reise der Mariposa. Mariposa! Was fur ein harmloser Name, verglichen mit …«

Die Stimmen entfernten sich, und als Jonathan wieder wagte, seinen Kopf hinter dem Felsen hervorzustrecken, wateten die Manner bereits ins Wasser zuruck. Sie trugen die Uniformen der US-Marine. Er hatte noch nie jemanden so rasch waten sehen.

Etwas wurde auf Bartolome geschehen, wenn die Sonne unterging, etwas, das man besser nicht miterlebte. Kurz darauf legte das Schiff der Amerikaner ab, ohne Segel zu setzen. Als das Drohnen des Motors die Bucht verlie?, wurde es sehr, sehr still. Die schwarze Nadel des Pinnacle Rock ragte in die Stille wie eine stumme Warnung.

Jonathan stand auf, den Pinguin noch immer auf dem Arm. Mit einem Mal verstand er, warum die Stille so still war. Die Pinguine waren nicht mehr da. Sie mussten allesamt ins Wasser getaucht und geflohen sein. Wovor geflohen?

Es war etwas, das schon haufiger passiert war, immer zur gleichen Zeit, etwas, an das sie sich hatten gewohnen konnen.

Jonathan lie? seinen Blick uber die Insel schweifen, suchend. Und er entdeckte eine kleine Gestalt, die uber den Strand auf ihn zukam. Jose. Er winkte, aber er sah nicht aus, als hatte er es eilig. Er hatte das Gesprach der Amerikaner nicht gehort.

Denk!, befahl Jonathan sich selbst. Denk, denk, denk! Rascher!

Er sah den verletzten Pinguin an, dachte an den Stein und plotzlich sah er noch etwas. Mehr Steine. Uberall verstreut lagen Stucke von Felsen, harte, kantige Stucke, die das Wasser nicht glatt geschliffen hatte. Diese Felsbrocken waren neu. Sie wirkten wie … abgesprengt.

In seinem Kopf tauchten Worte auf: Baltra. Die Amerikaner. Die Militarbasis.

Dann formte sich in der Stille ein hoher Ton, weit, weit fort – mehr die Ahnung eines Tons. Er schmerzte in den Ohren und schwoll langsam an. Jose war jetzt ganz nah.

Er winkte noch einmal.

Und in diesem Moment begriff Jonathan etwas.

Er hielt den Pinguin ganz fest und rannte los. Nie war er schneller gerannt. Er flog uber die spitzen Steine, er spurte nicht, wie ihre Kanten seine blo?en Fu?e ritzten. Der Ton wurde lauter und lauter und lauter und LAUTER, eine Art seltsames Heulen in der Luft, naher und naher … Jonathan erreichte Jose mit einem letzten Satz, dort, wo der Felsen in Strand uberging. Er riss ihn mit sich zu Boden, und als sie nebeneinander im Sand lagen, druckte er Joses Kopf in den Sand und schutzte mit seinem Korper den Pinguin.

Hinter ihnen explodierte die Welt.

El fin del paraiso

Das Ende des Paradieses

Es regnete Felssplitter. Irgendwo fiel etwas ins Wasser.

Schlie?lich richtete Jonathan sich wieder auf und zog Jose hoch.

Der Pinnacle Rock wies stumm in den Himmel: Er wies in die Richtung, aus der die Rakete gekommen war. An seiner Spitze fehlte ein winziges Stuck. Kurz hinter Jonathan und Jose lag ein gro?er Felsbrocken im Sand.

»Was …?«, fragte Jose.

»Raketen«, sagte Jonathan. »Die Amis. Sie schie?en von Baltra aus.«

Er sah die Verbluffung in Joses Augen. »Woher wei?t …«

»Ich wei? es nicht. Aber es ware eine gute Erklarung. Sie uben. Der Fels ist ein hervorragendes Ziel.«

Er streichelte den verletzten Pinguin. Er hatte Angst gehabt, er hatte ihn bei seinem Sturz gequetscht, aber dem Vogel schien nichts geschehen zu sein.

»Danke«, sagte Jose leise. »Ich glaube, wir sind quitt. Du hast mich gerettet.«

»Hm«, sagte Jonathan. »Sieht so aus.«

»Warum?«, fragte Jose. »Und warum bist du gerannt? Ich dachte, du wolltest sterben?«

Jonathan zuckte die Schultern und streichelte weiter den Pinguin. »Oskar«, sagte er. »Ich werde ihn Oskar nennen. Er sieht so aus.« Dann sah er auf und lachelte. Seine blauen Augen lachelten mit. »Vorerst … sterbe ich nicht. Vorerst halte ich andere davon ab, es zu tun. Jose, wir konnen ihn doch mitnehmen, oder? Oskar.«

»Wohin?«, fragte Jose.

»Das wollte ich dich auch fragen«, antwortete Jonathan ernst. »Wohin segeln wir?«

Keiner von ihnen hatte Lust, die Nacht auf Bartolome zu verbringen. Die Luft um sie schien zu zittern, als sie zuruck zur Mariposa wateten – zu zittern in Erwartung eines weiteren hohen Tons, einer weiteren Explosion.

Es war ganz dunkel, als Jose den Anker aus dem Schlick zog. Und dann segelten sie hinaus in eine weitere pazifische Nacht, eine Nacht voller Wolken, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie regnen sollten. Carmen hatte auf Jonathans Schulter Platz genommen, und auf seinem Scho? hielt er Oskar, den Pinguin, der ab und zu kleine besorgte Laute von sich gab.

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