Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia 4 стр.


Jose wartete lange, doch der fremde Junge tauchte nicht wieder auf. Eine Weile hatte er ihn dort unten herumtappen horen, aber nun war es still. Die Nacht und die Mariposa gehorten ihm allein. Er hatte eine Menge Zeit, uber den fremden Jungen nachzudenken, aber seine Gedanken wurden immer zaher und verworrener. Die beiden Amerikaner lehnten darin am Mast und tranken Bier. Seine Bruder sa?en auf dem Dach der Kajute und sortierten Saatgut, wahrend Mama Carmelita mit einer gro?en Schere das Gro?segel zerschnitt, um Kleider fur Joses kleine Schwestern daraus zu nahen. »Lasst das bleiben!«, wollte er rufen, und da merkte er, dass er traumte.

Er riss sich zusammen und korrigierte den Kurs, aber Minuten spater war er wieder weggenickt. So kampfte er bis zum Morgengrauen einen Kampf gegen sich selbst und seine Mudigkeit. Und als das Meer im Osten eine rote Blase ausstie?, die uber den Horizont hinaufstieg und sich schlie?lich vom Wasser loste, da begriff er erst nach einer Weile, dass dies kein Traum war, sondern die Sonne. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er den Jungen brauchte, den er aus dem Wasser gezogen hatte. Egal, wer er war. Er brauchte jemanden, der das Steuer ubernahm, wenn er mude wurde. In dieser Nacht war der Wind lau – bei jedem anderen Wetter wurde es nichts nutzen, das Steuer einfach festzustellen.

Er wusste nicht, wie lange er zur Isla Maldita brauchen wurde, aber plotzlich erschrak er uber sich selbst, uber die Idee, es allein zu versuchen.

Er schuttelte die alte Frau aus seinem Kopf, befestigte das Steuer abermals und stieg die vier Stufen zur winzigen Tur der Kajute hinunter. Er offnete die Tur vorsichtig. Das erste rote Morgenlicht stromte in den kleinen Raum, als hatte es sich seit Stunden danach gesehnt, ihn zu erhellen. Wie Wasser stieg es an den Wanden hoch, und als es die Kabine ganz ausgefullt hatte, fand Jose darin den fremden Jungen. Er lag auf der Steuerbordbank, in Joses Kleidern, halb in eine Decke gewickelt. Die Decke musste er irgendwo in der Kajute gefunden haben. Vielleicht, dachte Jose, war der alte Casaflora unter dieser Decke gestorben. Vielleicht auf dieser Bank. Aber die Brust des Jungen hob und senkte sich regelma?ig und sehr lebendig.

Auf dem kleinen Tisch in der Mitte der Kajute lagen seine Kleider. Jose hielt die nasse Jacke ans Gesicht und atmete ihren fremden Geruch: den Geruch nach weiter Ferne, nach einer zu langen Reise und nach Angstschwei?. Er beobachtete, wie das rotliche Morgenlicht mit vorsichtigen Fingern das Gesicht des Jungen betastete. Das blonde Haar war ihm aus der Stirn gefallen und gab eine schlecht verheilte Narbe frei. Was hatte dieser Junge erlebt und wie war er hierhergekommen?

Jose kam sich vor wie ein Dieb, als er seine Jackentaschen durchsuchte. Er fand eine zusammengeknullte alte Mutze, ein rotes Seidenband … und einen Pass. Tatsachlich, einen Pass. »Jonathan Smith«, las Jose. »Geboren am 12.2.1929 in London.« Aber wer war Jonathan Smith?

Hatte Jose gewusst, dass der wahre Jonathan Smith tot war, hatte ihn das vermutlich nicht beruhigt.

Jonathan schlug die Augen auf und spurte, dass es Morgen war. Aber Morgen wo? Und wann?

Als er sich aufsetzte, stie? er sich den Kopf an einem Regal und erinnerte sich, dass er in der engen Kajute eines Schiffs war. Er sah an sich hinab und erschrak. Er trug fremde Kleider. Er horte wieder Waterwegs Worte, die er auf der ganzen Reise so oft gehort hatte: Niemand darf je erfahren, wer du wirklich bist. Er sah sich um. Wo waren seine Kleider? Hatte jemand anders sie ihm abgenommen? Nein, er hatte sie selbst ausgezogen und auf den kleinen Tisch gelegt.

Langsam fullten sich die Lucken der Erinnerung. Er war ins Wasser gefallen und hatte sterben wollen. Und jemand hatte ihn davon abgehalten. Aber seine Kleider waren nicht mehr da. Stattdessen lag auf dem Tisch ein kleiner schwarzer Gegenstand: eine Pistole. Er wog sie in der Hand und war erstaunt uber ihr Gewicht.

Das kalte Metall an seiner Schlafe fuhlte sich an, als gehorte es dorthin. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf seinen Finger am Abzug. Er brauchte ihn nur zu krummen … Jemand riss ihm die Waffe aus der Hand. Er sah auf und blickte in das Gesicht des Jungen, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte. Jose.

»Bist du wahnsinnig?«, rief er. »Was tust du da? Woher hast du das Ding?«

»Es lag hier auf dem Tisch«, sagte Jonathan. »Hast du es nicht dorthin gelegt?«

»Nein«, sagte Jose.

Eine Weile sahen sie sich schweigend an. Die Luft zwischen ihnen zitterte vor Anspannung.

»Ich wei? deinen Namen noch immer nicht«, sagte Jose schlie?lich und steckte die Pistole in seine Jackentasche.

»Jonathan«, sagte Jonathan.

»Gut«, sagte Jose, als ware damit alles geklart. »Komm jetzt mit. Es ist Zeit, etwas zu essen.«

Jonathan folgte ihm die vier Stufen hinauf an Deck. Das Meer lag so glei?end blau unter der Sonne, dass er einen Moment lang die Augen zukneifen musste. In der Ferne erhoben sich Inseln aus dem Blau. Etwas sprang aus dem Wasser und verschwand wieder darin, tauchte abermals auf … Delfine. Ein Schwarm ubermutiger Vogel war uber den Himmel unterwegs. Die Rucken der silbernen Fische glanzten dicht unter der Wasseroberflache.

»Hier ist so viel Leben«, sagte Jonathan. »Da, wo ich herkomme, ist nur Tod.«

Jose nickte. »London«, sagte er.

Jonathan musste sich zusammenrei?en, um nicht instinktiv den Kopf zu schutteln. »Ja«, sagte er. »Aus London.« Er war noch nie in London gewesen. Wie war es wohl in London? Wie sah es dort aus?

»Wie ist es in London?«, fragte Jose. »Wie sieht es dort aus?«

Jonathan zuckte die Schultern. »Es sieht so aus … wie … wie es eben aussieht. Soll ich das Brot schneiden?«

Er setzte sich auf eine der schmalen Banke an der Reling und nahm das Messer, das neben dem Kanten Brot lag.

»Ja, schneide nur das Brot«, sagte Jose, »aber komm nicht darauf, dir mit dem Messer die Pulsadern aufzutrennen.«

Jonathan gab Jose eine Scheibe Brot und betrachtete das Messer. »Ist es scharf genug?«

»Dieses Brot«, sagte Jose, »ist jedenfalls hart genug, um jemanden damit zu erschlagen. Da hast du gleich noch eine Methode, dich ins Jenseits zu befordern.« Er sah zu den wei?en Segeln der Mariposa auf, die sich im Wind blahten. Jonathan folgte seinem Blick. Jose hatte seine Kleider in der Takelage aufgehangt und da flatterten sie jetzt im Wind wie merkwurdige Wimpel. Das Holz des Schiffs leuchtete honiggelb in der Sonne und der Duft nach Kuhle und Geheimnissen wehte vom Meer her. Wie schon und froh alles war! Wie sehr es der kleinen Julia gefallen hatte, auf einem solchen Schiff zu segeln! Und Mama! Sie hatte sich mit einem Fernglas an die Reling gestellt und nach dem blauen Schmetterling mit den goldenen Tupfen Ausschau gehalten – jenem, den ihr alter Professor beschrieben hatte, als Mama noch an der Universitat studiert hatte. Der Professor war auf den Inseln gewesen. Durch ihn hatte Mama von ihnen erfahren, und durch Mama hatte Waterweg davon erfahren, der Jonathan hierhergeschleppt hatte. Letztendlich war der alte Professor an allem schuld …

»Jonathan?«, sagte Jose. »Ich habe dich etwas gefragt.«

»Hm?«

»Wer bist du?«

»Du hast meinen Pass in der Hand gehabt. Du wei?t, wer ich bin.«

»Nein.« Jose schuttelte langsam den Kopf. »Ich wei? gar nichts. Ich wei?, dass ich dich aus dem Wasser gezogen habe, aber ich wei? nicht, wie du hineingekommen bist. Ich wei?, dass ich eine Kajute verlassen habe, in der es keine Pistole gab, und dass da eine war, als ich zuruckkam. Ich wei?, dass du Spanisch kannst, aber ich wei? nicht, woher. Ich wei?, dass du nicht gern redest, aber ich wei? nicht, woruber du nicht redest.«

Jonathan grinste unwillkurlich. Jose, dachte er, redete dafur umso lieber.

»Das sind zu viele Fragen«, sagte er. »Wichtig ist nur eines: Ich wollte nicht gerettet werden. Auch heute Morgen nicht. Bitte, bitte, hor auf, mich dauernd zu retten.«

»Gut«, sagte Jose. »Spring zuruck ins Wasser und ertrink. Ich werde dich nicht daran hindern.«

»Nein?« Jonathan stand auf und legte die Scheibe Brot, die er nicht angebissen hatte, zuruck auf die Bank.

Das Meer war noch immer so blau und die Sonne so warm und alles so friedlich, dass er sich beinahe dumm vorkam. Aber er musste es tun. Jetzt, ehe er den Mut dazu nicht mehr aufbrachte. Er kletterte auf die Bank, stieg auf die Reling und sprang. Das Wasser war kuhl, aber nicht kalt. Er kam hoch und horte Jose fluchen. Er sah die Mariposa davonsegeln. Er legte sich im Wasser auf den Rucken und sah in den Himmel, uber den einzelne Wolken unterwegs waren. Er wurde hier so liegen bleiben und in den Himmel sehen, bis … Im Augenwinkel sah er, wie die Mariposa wendete. Kurz darauf war sie wieder neben ihm, und er spurte, wie sich Joses Hand um seinen Arm schloss. Er versuchte wegzuschwimmen, er war ein guter Schwimmer. Aber Jose war stark. Sekunden spater sa? Jonathan wieder an Deck wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Er blickte in Joses wutendes Gesicht und dann gab Jose ihm eine Ohrfeige. Irgendwoher kannte er diese Szene – war ihm nicht das Gleiche in einem Luftschutzkeller passiert, damals, in jener Nacht?

»Bei uns sagt man, Ohrfeigen sind fur kleine Kinder und verruckte Frauen«, knurrte Jose. »Such dir aus, was du bist.«

»Du … du hast gesagt, du wurdest mich nicht hindern …«

»Dann habe ich eben gelogen«, sagte Jose. »Was bildest du dir eigentlich ein, so mit deinem Leben umzugehen? Das Leben kommt von Gott. Lernt ihr keine Gottesfurcht, da, wo du herkommst?«

»Nein«, murmelte Jonathan. »Da, wo ich herkomme, gibt es keinen Gott. Er ist verloren gegangen.«

»Aber hier, hier gibt es einen«, sagte Jose argerlich. »Und deshalb lasst du es jetzt schon bleiben, dich umzubringen, kapiert? Ich werde dich so oft aus dem verdammten Wasser ziehen, wie du hineinspringst. Notfalls schlage ich dich bewusstlos, aber solange du auf meinem Schiff bist, stirbst du nicht. Klar?«

»Es ist noch nicht mal dein Schiff«, sagte Jonathan. »Sonst wusstest du besser Bescheid uber gewisse Pistolen, die unter Deck herumliegen. Wo hast du es her? Hast du es geklaut?«

Jose schuttelte den Kopf. »Es ist das Schiff eines Toten.«

»Das Schiff eines Toten! Siehst du!«, rief Jonathan. »Alle sind tot. Die ganze Welt ist tot! Es ist nur logisch, auch sterben zu wollen!«

»Wenn du dich horen konntest«, sagte Jose. »Vielleicht hat der Krieg in Europa dir den Verstand geraubt. Die Narbe an deiner Stirn – ist sie … von … einem Granatsplitter? Einem Streifschuss? Von einer nahen Explosion? Einer …«

»Stehlampe«, sagte Jonathan nuchtern.

»Steh… Stehlampe? Die Deutschen kampfen mit seltsamen Waffen.«

Plotzlich beugte Jose sich vor, packte Jonathans Arm und zog ihn vom Boden hoch. Sein Gesicht war Jonathans ganz nah. »Ich brauche dich«, sagte er. »Ich habe es gestern Nacht gemerkt.«

Es klang wie ein Satz aus einem mittelma?igen Schnulzenfilm. Jonathan dachte an Richard, den Blockwart vom Hauserblock 21, der auch versucht hatte, ihm nah zu sein. Zu nah. Sein Magen drehte sich um. »Wie bitte?«

»Ich brauche dich, um dorthin zu kommen, wo ich hinwill. Ich brauche einen zweiten Mann am Steuer, der nachts auf den Kurs achtet.«

Die Erleichterung brachte Jonathan beinahe zum Lachen. »Vergiss es«, sagte er. »Ich verstehe nichts von Schiffen. Lass mich zuruck ins Wasser.«

»Dios!« Jose lie? Jonathans Arm so plotzlich los, dass er unsanft auf die Decksplanken zuruckfiel. »Gut. Ich mache sowieso halt auf Santiago, da setze ich dich ab und versuche es allein. Von mir aus kannst du dann vom nachstbesten Felsen springen und dir das Genick brechen. Aber solange du auf meinem Schiff bist, trage ich die Verantwortung. Also iss jetzt das verdammte Brot.«

Jose verbrachte den ganzen Nachmittag damit, sich zu argern. Er argerte sich uber den Jungen, den er aus dem Wasser gezogen hatte. Er argerte sich uber die Abuelita, die ab und zu in seinen Gedanken kicherte.

Er fragte sich zum Beispiel, woher die Pistole gekommen war. Wenn Jonathan die Wahrheit sagte, war es nicht seine. Jose musste sie bei seinem ersten Besuch in der Kajute ubersehen haben. Aber hatten die Amerikaner sich das Schiff nicht angesehen, das in den Hafen von Baltra geschleppt worden war? Hatten sie die Waffe nicht mitgenommen, wenn sie schon damals auf dem Tisch gelegen hatte?

Jonathan hatte die ganze Zeit uber still dagesessen und aufs Meer hinausgesehen. Er trug wieder seine eigenen Kleider, obwohl auch die ihm zu gro? zu sein schienen. Er hatte darauf bestanden, sich in der Kajute umzuziehen. Aber wenigstens hatte er keinen Versuch mehr gemacht, ins Wasser zu springen.

»Ubernimm du das Steuer«, sagte Jose jetzt. »Ich bin gleich wieder da.«

»Ich kann nicht …«

Jose seufzte. »Jeder kann ein Steuer festhalten.«

Er kletterte unter Deck und sah sich noch einmal genauer um. Er schuttelte die Kleider bei den Kanistern aus. Es war nur ein Haufen alter Kleider. Die Kleider eines Toten. Nichts in den Taschen. Er untersuchte die beiden Banke. Sie lie?en sich hochklappen, und fur einen Moment dachte Jose, er wurde dort ein Geheimnis finden, doch er fand nur Werkzeuge und Farbtopfe. Uber den Banken gab es zu jeder Seite ein Regal, vorn gesichert durch ein zusatzliches Brett, damit die Dosen mit den Nahrungsmitteln nicht herunterfielen. Rechts, an der Steuerbordseite, konnte man die Wand uber dem Regal aufklappen, und dahinter standen noch mehr Dosen mit Nahrungsmitteln. Immerhin wurde er nicht verhungern. Trotzdem gab es noch immer keine Erklarung fur das Auftauchen der Pistole.

Durch die angelehnte Kajutentur sah Jose, wie Jonathan das Steuerruder mit beiden Handen festhielt. Er lachelte. Da war etwas in Jonathans Augen, das ihn hoffen lie?. »Hilf mir, Mariposa«, wisperte Jose. »Zeig ihm, wie gut es sich anfuhlt, dich zu steuern. Lass ihn diese alte Rechnung vergessen, die er mit dem Tod offen hat. Lass …«

In diesem Augenblick legte jemand eine Hand auf seine Schulter. Er schrie auf und fuhr herum. Hinter ihm stand – niemand. Aber die Beruhrung auf seiner Schulter war noch da. Etwas sa? dort. Etwas Kleines, Braunes. Ein winziges Tier.

Es musste aus einer dunklen Ecke auf seine Schulter gesprungen sein. Jose stieg die Stufen hinauf an Deck und versuchte gleichzeitig, das Tier von seiner Schulter zu entfernen. Es lie? sich nicht entfernen. Es hielt sich mit seinen kleinen Krallen sehr entschlossen fest.

Jose verrenkte sich den Kopf, um das Tier zu sehen, und da horte er Jonathan zum ersten Mal lachen. »Galapagos-Reisratte«, sagte Jonathan. »Endemisch.«

»Bitte was?«, fragte Jose verargert. »Und was ist uberhaupt so lustig?«

»Dein Gesicht«, sagte Jonathan. »Das auf deiner Schulter – es ist eine Ratte. Eine Sorte, die es nur hier auf den Inseln gibt. Das ist es, was endemisch bedeutet. Dass es sie nur hier gibt.«

»Woher wei?t du das?«

Jonathan streckte die Hand aus und loste die Pfoten der Ratte vorsichtig von Joses Hemd. »Das ist eine lange Geschichte.« Er betrachtete die Ratte. Sie war kein bisschen scheu. »Du solltest ihr einen Namen geben«, meinte Jonathan.

»Einer Ratte, Jonathan? Bist du noch ganz dicht? Es gibt diese Sorte vielleicht nur auf unseren Inseln, aber dafur zu Tausenden. Sie geht uber Bord, und zwar jetzt. Sie frisst die Vorrate. Gib sie her.«

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