Der Piratenfurst: Fregattenkapitan Bolitho in der Java-See - Kent Alexander


Alexander Kent

Der Piratenfurst

Fregattenkapitan Bolitho in der Java-See Roman

Fur die Contessa

Tod und Teufel tanzen

zur Hollenmusik der Sturme

und rasen noch wilder zur Nacht,

wie um die Furcht einzulullen,

die den blinden Seemann beschleicht,

der nur ihren Zugriff fuhlt.

George H. Grant

I Des Admirals Wahl

Eine Ordonnanz des Admirals offnete die Tur des kleinen Vorzimmers und sagte sehr hoflich:»Wurden Sie bitte hier eintreten, Sir?«Er wich beiseite, um Captain Richard Bolitho einzulassen.»Sir John wei?, da? Sie hier sind.»

Als der Diener gegangen war und die Tur hinter sich zugemacht hatte, trat Bolitho an den hohen Kamin, wo ein kraftiges Feuer brannte. Gut, da? ihn der Mann in dieses kleine Zimmer gefuhrt hatte und nicht in einen der gro?eren Warteraume. Als er sich vor dem bitter kalten Marzwind, der durch die Stra?en von Whitehall fegte, in das Admiralitatsgebaude gefluchtet hatte, war ihm der Gedanke an diese uberfullten Warteraume hochst unbehaglich gewesen. Dort traten sich die entlassenen Seeoffiziere gegenseitig auf die Fu?e und beobachteten das Kommen und Gehen solcher Besucher, die mehr Gluck zu haben schienen, mit beinahe ha?erfullten Blicken.

Bolitho kannte diese Gefuhle aus eigener Erfahrung, wenn er sich auch oft gesagt hatte, da? es ihm besser ging als den meisten anderen. Denn als er vor einem Jahr nach England zuruckgekommen war, herrschte Friede im Land; Stadte und Dorfer waren bereits voller Seeleute und Soldaten, die niemand mehr brauchte. Er dagegen hatte seinen Besitz bei Falmouth, ein solides, ertragreiches Landgut; au?erdem hatte er eine Menge schwerverdientes Prisengeld mitgebracht — er mu?te wirklich dem Schicksal dankbar sein.

Er trat vom Kamin weg ans Fenster und starrte auf die breite Stra?e. Es hatte fast den ganzen Vormittag geregnet, aber jetzt war der Himmel klar, und die zahlreichen Pfutzen glitzerten in der grellen Sonne wie Fetzen bla?blauer Seide. Nur die dampfenden Nustern der vielen Pferde, welche die Stra?e in beiden Richtungen passierten, und die hastenden, vorgebeugt gegen den Wind ankampfenden Fu?ganger verrieten, wie trugerisch der augenblickliche Sonnenschein war.

Er seufzte. Es war im Marz 1784; erst vor einem guten Jahr war er aus Westindien heimgekehrt, aber ihm kam es wie ein Jahrhundert vor.

So oft er konnte, hatte er die lange Reise von Falmouth nach London unternommen, um direkt bei der Admiralitat herauszufinden, warum seine Briefe ohne Antwort blieben, warum alle seine Antrage auf Zuteilung eines Schiffes, ganz gleich was fur eins, nicht beachtet wurden. Und jedesmal kamen ihm die Warteraume voller vor. Es waren immer die gleichen Manner; aber je ofter sie abgewiesen oder vertrostet wurden, um so unsicherer klangen ihre Stimmen bei den endlosen Gesprachen uber Schiffe und Seeschlachten, um so mehr schwand ihr Selbstvertrauen. Dutzendweise wurden Schiffe au?er Dienst gestellt, und jede Hafenstadt beherbergte ihr volles Ma? an dem menschlichen Treibgut eines beendeten Krieges: Invaliden und Kruppel; Manner, die im Geschutzfeuer taub und blind geworden waren; andere, die von ihren Erlebnissen halb verruckt geworden waren. Seit dem Friedensschlu? im Vorjahr war der Anblick solcher Menschen etwas so Gewohnliches, da? man gar nicht mehr daruber sprach, und die Betroffenen selbst waren zu verzweifelt, um uberhaupt noch zu hoffen.

Eben bogen unten zwei Manner um die Ecke. Das Herz krampfte sich ihm zusammen bei dem Anblick. Auch ohne ihre zerfetzten roten Rocke hatte er gewu?t, da? es ehemalige Soldaten waren. Am Rinnstein hielt eine Kutsche; die Pferde steckten die Kopfe zusammen und erkundeten, was sich in ihren Futtersacken befand. Der Kutscher unterhielt sich mit einem elegant livrierten Lakaien aus dem Nebenhaus, und keiner der beiden warf auch nur einen Blick auf die zerlumpten Veteranen.

Der eine lehnte seinen Kameraden an eine Steinbalustrade und trat dann zur Kutsche. Bolitho erkannte, da? der Mann, der sich an dem steinernen Gelander festhielt, blind war; er wandte den Kopf zur Stra?e hin, als horche er, wo sein Freund geblieben war. Worte waren da uberflussig. Der Soldat blickte den Kutscher und den Lakaien nur an und hielt die Hand auf. Die Geste war weder aggressiv noch unterwurfig, aber seltsam eindringlich. Nach kurzem Zogern steckte der Kutscher die Hand in die Innentasche seines schweren Mantels.

In diesem Moment lief ein Herr eilig die Freitreppe der Admiralitat hinab und ri? die Kutschentur auf. Sein Mantel war so warm wie elegant, und die Schnallen auf seinen Schuhen blitzten in dem wasserigen Sonnenlicht. Er starrte den Soldaten an und sagte argerlich etwas zu dem Kutscher. Der Lakai eilte zu den Pferden und nahm ihnen die Futtersacke ab, und in Sekundenschnelle war die Equipage im geschaftigen Strom der Kutschen und Lastwagen verschwunden. Der Soldat starrte ihr einen Augenblick nach, hob dann resigniert die Schultern und ging zu seinem Kameraden zuruck. Die Arme untergehakt, schlurften sie langsam auf die nachste Stra?enecke zu.

Bolitho bemuhte sich, das Fenster aufzumachen, aber der Riegel klemmte. Scham und Arger uber das eben Gesehene stiegen in ihm hoch.

«Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?«fragte jemand hinter ihm: die Ordonnanz von vorhin.

«Ich wollte zwei Invaliden ein bi?chen Geld hinunterwerfen«, antwortete Bolitho.

Der Mann schien erstaunt.»Mein Gott, Sir, daran gewohnt man sich in London.»

«Ich nicht.»

«Ich wollte Ihnen melden, Sir, da? Sir John Sie jetzt empfangen mochte.»

Bolitho folgte ihm auf den Flur. Er verspurte eine plotzliche Trockenheit in der Kehle. Deutlich erinnerte er sich an seinen letzten Besuch hier im Hause; fast auf den Tag einen Monat war das her. Damals hatte er eine ausdruckliche schriftliche Vorladung bekommen und brauchte nicht voller Nervositat und heimlicher Wut in einem Wartezimmer herumzusitzen. Es war wie ein Traum, ein unglaublicher Gluckstreffer. Und so empfand er es immer noch, trotz der tausend Schwierigkeiten, mit denen die Tage seit seiner letzten Vorsprache belastet gewesen waren.

Er hatte Order erhalten, unverzuglich das Kommando uber Seiner Britannischen Majestat Schiff

Mit Bestechungen, Drohungen und unter standigem Antreiben beinahe jedes einzelnen Werftarbeiters hatte er indessen mehr oder weniger erreicht, was er wollte. Anscheinend sah man im baldigen Auslaufen der Fregatte die einzige Moglichkeit, vor Bolitho wieder Ruhe zu haben und sich um eigene Geschafte kummern zu konnen.

Mit gemischten Gefuhlen hatte er sein neues Schiff im Dock umschritten. Aber die freudige Erregung uberwog, und dazu kam die Gewi?heit, da? dieses Schiff alle seine Krafte fordern wurde. Verschwunden war das neidvolle Unbehagen, das ihn in Falmouth jedesmal befiel, wenn wieder ein Kriegsschiff die Landspitze unterhalb der Festung rundete. Aber noch etwas anderes hatte er gemerkt. Sein letztes Schiff war die

gewesen, eine der

Phalarope glich. Aber als er auf der Steinmauer des Docks auf und ab schritt, verspurte er ein neues, ein ahnliches Hochgefuhl.

Mitten in der Hektik der Uberholungsarbeiten bekam er unerwartet Besuch von Konteradmiral Sir John Winslade, demselben, der ihn im Admiralitatsgebaude empfangen hatte. Er war ziemlich wortkarg gewesen, hatte das Schiff und Bolithos Vorbereitungen fluchtig inspiziert und dann beilaufig bemerkt:»Inzwischen kann ich Ihnen wenigstens so viel sagen: Sie segeln nach Indien. Mehr darf ich Ihnen im Moment nicht verraten. «Sein Blick glitt uber die Takler, die in den Wanten und auf den Rahen werkten, und er fugte trocken hinzu:»Ich kann nur in Ihrem Interesse hoffen, da? Sie rechtzeitig fertig werden.»

Winslades Andeutungen waren keineswegs leichtzunehmen. Offiziere auf Halbsold gab es, so viele man wollte. Aber ein Schiff des Konigs zu bemannen, ohne da? der Druck eines Krieges dahinterstand und Pre?kommandos eingesetzt werden konnten — das war etwas vollig anderes. Und ware Bolitho nicht der Mann gewesen, der er nun einmal war, so hatte er in Versuchung geraten konnen, das Ziel der Reise so lange geheimzuhalten, bis genugend Matrosen die Musterrolle

* Kleine Inselgruppe der Franzosischen Antillen (der Ubersetzer).

unterschrieben hatten und dann nicht mehr entwischen konnten.

Er hatte die ublichen, in blumenreicher Sprache abgefa?ten Flugblatter in Portsmouth und Umgebung verteilen lassen. Er hatte Werbekommandos ins Binnenland bis nach Guildfort, das auf halbem Wege nach London lag, ausgeschickt, aber ohne viel Erfolg. Und jetzt, als er hinter der Admiralitatsordonnanz auf eine hohe, goldverzierte Tur zuging, fehlten der

Undine

Konteradmiral Sir John Winslade stand mit dem Rucken zum Kaminfeuer und hielt sich die Rockscho?e auseinander, um moglichst viel von der Warme abzubekommen. Kaum jemand wu?te Genaueres uber ihn. Irgendwie hatte er sich durch eine Einzelaktion vor Brest ausgezeichnet, und daraufhin hatte er eine ansehnliche Position in der Admiralitat bekommen. An seinem bleichen, vornehmen Gesicht war nichts Auffalliges. Tatsachlich sah er so unauffallig aus, als truge nicht er seinen goldbetre?ten Rock, sondern der Rock ihn.

Bolitho war erst siebenundzwanzig Jahre alt; aber er hatte schon zwei Kommandos innegehabt und wu?te mit Stabsoffizieren gut genug Bescheid, um sie nicht nach dem Au?eren zu beurteilen.

Winslade lie? seine Rockscho?e fallen und wartete, bis Bolitho zu ihm herangetreten war. Dann streckte er ihm die Hand hin und sagte:»Sie sind punktlich, das ist gut. Wir haben viel zu besprechen. «Er trat an ein zierliches Lacktischchen.»Ein Glas Wein?«Jetzt erst lachelte er. Es war ein Lacheln wie der blasse Sonnenschein drau?en: sparlich und schnell vorbei.

Er zog einen Stuhl fur Bolitho heran.»Auf Ihre Gesundheit, Captain. «Und als sie getrunken hatten:»Ich nehme an, Sie wissen, warum ich Sie fur dieses Kommando angefordert habe?»

Bolitho rausperte sich.»Ich war der Ansicht, Sir, weil Captain Steward in die Politik geht, benotigen Sie einen neuen. .»

Wieder lachelte Winslade, etwas verkniffen diesmal.»Bitte, Bolitho! Bescheidenheit auf Kosten der Aufrichtigkeit macht die Sache nur topplastig. Daruber sind Sie sich doch klar?»

Er nippte an seinem Glas und fuhr im gleichen trockenen Ton fort:»Bei dieser Mission mu? ich mich auf den Kapitan der

Bolitho versuchte, sich zu entspannen.»Danke. «Er lachelte etwas unsicher.»Fur Ihr Vertrauen, meine ich.»

«Gewi?. «Winslade griff nach der Karaffe.»Ich kenne Ihre Herkunft, Ihre dienstlichen Leistungen, speziell im letzten Krieg gegen Frankreich und seine Alliierten. Uber Ihr Verhalten auf dem amerikanischen Kontinent liegt ein sehr gunstiger Bericht vor. Ein ausgewachsener Krieg und eine blutige Rebellion in Amerika mussen eine gute Schulung fur einen so jungen Kommandanten gewesen sein. Doch dieser Krieg ist aus und vorbei — «, wieder das fluchtige Lacheln,»- aber wir, oder wenigstens einige von uns, wollen jetzt nach Moglichkeit verhindern, da? wir je wieder in eine so hilflose Pattsituation geraten.»

«Aber wir haben doch den Krieg nicht verloren, Sir!«rief Bolitho.

«Wir haben ihn auch nicht gewonnen. Und das ist das Wesentliche.»

Bolitho mu?te unwillkurlich an die letzte Seeschlacht denken: das Schreien und Brullen auf beiden Seiten, das Krachen der Geschutze und der fallenden Spieren. So viele hatten an diesem Tag den Tod gefunden. So viele vertraute Gesichter wurden einfach ausgeloscht. Und manche, die ubriggeblieben waren wie jene beiden zerlumpten Soldaten mu?ten jetzt sehen, wie sie ihr Leben fristen konnten.»Wir taten unser Bestes, Sir«, sagte er gedampft.

Der Admiral sah ihn nachdenklich an.»Das stimmt. Sie haben vielleicht den Krieg nicht gewonnen, aber Sie haben uns eine gewisse Frist verschafft. Zeit, um zu Atem zu kommen und den Tatsachen ins Gesicht zu sehen.»

«Sie denken, da? der Friede nicht lange dauern wird, Sir?»

«Ein Feind bleibt immer ein Feind, Bolitho. Nur die endgultig Besiegten sind friedlich. O ja, wir werden wieder kampfen, seien Sie sicher. «Er setzte sein Glas nieder und fragte in scharfem Ton:»Und nun Ihr Schiff. Sind Sie soweit?»

Bolitho hielt seinem Blick stand.»Mir fehlen immer noch Seeleute, aber das Schiff selbst ist so klar, wie es nur sein kann. Vor zwei Tagen habe ich es aus der Werft schleppen lassen; jetzt liegt es in Spithead vor Anker, bis aller Proviant an Bord ist.»

«Wie viele Leute fehlen Ihnen?»

Funf Worte nur, aber da gab es kein Drumherumreden.

«Funfzig, Sir. Aber meine Offiziere bemuhen sich weiter.»

Der Admiral verzog keine Miene.»Aha. Nun, das ist Ihre Sache. Ich werde Ihnen ein Patent zur Anwerbung von Freiwilligem auf den Gefangnishulken[1] im Hafen von Portsmouth besorgen.»

«Traurig, da? wir auf Straflinge angewiesen sind«, warf Bolitho ein.

«Es sind Manner — mehr brauchen Sie im Moment nicht. Wie die Dinge liegen, tun Sie vielleicht manchem dieser armen Teufel etwas Gutes damit. Die meisten sollten in die amerikanischen Strafkolonien verschifft werden. Jetzt, da wir Amerika los sind, mussen wir uns nach anderen Moglichkeiten umsehen. Man spricht von der Botany Bay in Neu-Holland; aber das kann naturlich blo? ein Gerucht sein.»

Er stand auf und trat ans Fenster.»Ich kannte Ihren Vater und war sehr betrubt, als ich von seinem Tod horte. Er starb, als Sie in Westindien waren, glaube ich?«Er wartete die Antwort nicht ab.»Gerade dieser Auftrag ware etwas fur ihn gewesen. Da hatte er sich so richtig beweisen konnen: auf sich selbst angewiesen und auf Sofort-Entscheidungen, die ihren Urheber vernichten konnen, wenn sie falsch sind. Alles das, wovon ein junger Fregattenkapitan traumt — hab' ich recht?«»Jawohl, Sir. «Bolitho erinnerte sich deutlich daran, wie sein Vater bei ihrem letzten Zusammensein ausgesehen hatte. Am selben Tage war er mit der

nach Westindien abgesegelt. Ein muder, gebrochener Mann, den der Verrat seines altesten Sohnes verbittert hatte. Hugh war sein Augapfel gewesen. Er war funf Jahre alter als Richard, ein geborener Spieler und Abenteurer, und schlie?lich hatte er einen Kameraden, einen Offizier, im Duell getotet. Schlimmer noch: er war nach Amerika geflohen,

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