«Wovon schwafelst du denn, verflixt noch mal, du dumme Kuh?» schrie Herr Wurmwald und packte die Krempe seines Hutes, damit keiner mehr daran zerren konnte. «Hältst du mich für so blöde, daß ich mir dieses Ding mit Absicht auf den Kopf klebe?»
Matilda sagte: «Da unten an der Straße wohnt ein Junge, der hat ein bißchen Sekundenkleber an den Finger gekriegt, ohne es zu merken, und dann hat er den Finger in die Nase gesteckt.»
Herr Wurmwald fuhr zusammen. «Und was ist mit ihm passiert?» stotterte er.
«Der Finger ist in seiner Nase festgeklebt», antwortete Matilda, «und er hat eine Woche lang so herumlaufen müssen. Die Leute haben immer zu ihm gesagt: Bohr doch nicht in der Nase, aber er konnte nichts dran machen. Er hat schrecklich albern ausgesehen.»
«Geschieht ihm recht», sagte Frau Wurmwald, «warum hat er auch den Finger in die Nase gesteckt. Das ist eine häßliche Angewohnheit. Wenn alle Kinder Sekundenkleber an den Fingern hätten, würden sie bald damit aufhören.»
Matilda sagte: «Erwachsene tun das aber auch, Mami. Ich hab gestern in der Küche gesehen, wie du in der Nase gebohrt hast.»
«Das reicht jetzt», sagte Frau Wurmwald und lief rosa an.
Herr Wurmwald mußte seinen Hut während des Abendessens vorm Fernsehapparat aufbehalten. Er sah lächerlich aus, und er verhielt sich ziemlich still.
Als er hinaufging, um schlafen zu gehen, versuchte er abermals, das Ding loszuwerden, und seine Frau versuchte es ebenfalls, aber der Hut dachte gar nicht daran, sich auch nur zu rühren. «Wie soll ich mich denn duschen?» fragte Herr Wurmwald.
«Das mußt du eben lassen, was denn sonst», sagte seine Frau. Und später, während sie ihren klapprigen kleinen Mann in seinem lilagestreiften Pyjama mit dem Pastetenhut auf dem Kopf trübselig durch das Schlafzimmer schleichen sah, fiel ihr auf, wie einfältig er aussah. Kaum einer von den Männern, von denen eine Ehefrau träumt, gestand sie sich ein.
Herrn Wurmwald fiel jedoch auf, daß das Schlimmste an einem Dauerhut auf dem Kopf die Notwendigkeit war, damit schlafen zu müssen. Es war unmöglich, sich gemütlich aufs Kissen zu legen. «Gib endlich Ruhe», sagte seine Frau, nachdem er sich ungefähr eine Stunde lang hin und her geworfen hatte. «Morgen früh ist er sicher lose, und dann rutscht er dir ganz leicht ab.»
Nichts war am Morgen lose, und nichts rutschte ganz leicht ab.
Deshalb nahm Frau Wurmwald eine Schere und schnitt ihm das Ding vom Schädel, Stück für Stück, zuerst den Deckel und dann die Krempe. Wo ihm das Schweißband an den Schläfen und am Hinterkopf festklebte, mußte sie ihm die Haare dicht über der Haut stutzen, so daß er zum Schluß mit einem kahlen, weißen Kranz um den Kopf dasaß wie ein Mönch. Vorn jedoch, wo das Schweißband direkt auf der nackten Haut klebte, blieben eine ganze Reihe von kleinen Lederflecken haften, die sich nicht abwaschen ließen, so oft er es auch versuchte.
Beim Frühstück sagte Matilda zu ihm: «Du mußt wirklich versuchen, diese Flecken von deiner Stirn zu kriegen, Vati. Jetzt sieht das so aus, als ob lauter kleine braune Insekten auf dir herumkrabbeln. Die Leute werden denken, du hättest Läuse.»
«Still!» fuhr sie der Vater an. «Und halt deinen vorlauten Mund gefälligst geschlossen, verstanden!»
Alles in allem ein höchst befriedigendes Probeunternehmen. Aber es wäre sicher vermessen, sich jetzt schon der Hoffnung hinzugeben, der Vater hätte eine dauerhafte Lehre daraus gezogen.
Das Gespenst
Nach der Sache mit dem Schnellkleber herrschte bei den Wurmwalds ungefähr eine Woche lang ein gemäßigter Frieden. Diese Erfahrung hatte Herrn Wurmwald ganz offensichtlich einen Dämpfer verpaßt, und er schien vorübergehend seine Vorliebe fürs Angeben und Anschnauzen verloren zu haben.
Dann schlug er plötzlich wieder zu. Vielleicht hatte er einen schlechten Tag in der Werkstatt gehabt und nicht genug Rostlauben verkauft. Es gibt vielerlei Kleinigkeiten, die einen Mann nervös machen, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kommt, und eine kluge Frau spürt meistens die Sturmsignale und läßt ihn in Ruhe, bis er nur noch leise blubbert.
Als Herr Wurmwald an diesem betreffenden Abend aus seiner Garage nach Hause kam, dräute sein Antlitz düster wie eine Gewitterwolke, und es war klar, daß es ziemlich bald jemandem an den Kragen gehen würde. Seine Frau erkannte die Alarmzeichen sofort und machte sich dünn. Er aber schlenderte ins Wohnzimmer. Dort hatte sich Matilda gerade in dem Lehnsessel in der Ecke eingerollt und war vollkommen in ein Buch versunken. Herr Wurmwald stellte den Fernsehapparat an. Der Bildschirm wurde hell. Die Sendung plärrte los. Herr Wurmwald starrte Matilda an. Sie hatte sich nicht einmal geregt. Sie hatte sich unterdessen angewöhnt, ihre Ohren vor dem Getöse der Glotze vollkommen zu versperren. Sie las also einfach weiter, und aus einem unerklärlichen Grunde versetzte das ihren Vater in helle Wut. Vielleicht nährte es seinen Ärger noch, daß er sah, wie sie aus etwas Vergnügen gewann, das seinen Horizont überstieg.
«Mußt du denn immerzu lesen?» fuhr er sie an.
«Oh, hallo Vati», sagte sie freundlich, «hast du einen guten Tag gehabt?»
«Was ist das denn für ein Mist?» fragte er und riß ihr das Buch aus den Händen.
«Das ist kein Mist, Vati, das ist schön. Es heißt ‹Der rote Pony›, von John Steinbeck, einem amerikanischen Schriftsteller. Warum schaust du nicht einmal hinein, es würde dir gefallen.»
«Dreck», sagte Herr Wurmwald. «Wenn es von einem Ami stammt, ist es ganz bestimmt Dreck. Über was anderes schreiben die gar nicht.»
«Nein, Vati, es ist schön, ganz ehrlich. Es handelt von...»
«Ich will nicht wissen, wovon es handelt», bellte Herr Wurmwald. «Deine ewige Leserei geht mir sowieso schon auf den Wecker. Such dir doch endlich eine nützliche Beschäftigung.» Damit begann er plötzlich in rasender Geschwindigkeit, die Seiten, immer eine ganze Handvoll auf einmal, aus dem Buch zu reißen und sie in den Papierkorb zu schmeißen.
Matilda erstarrte vor Schreck. Der Vater wütete weiter, ganz ohne Frage von einer unbestimmten Eifersucht getrieben. Wie konnte sie es wagen, schien er bei jedem Rausriß einer Seite zu fragen, wie konnte sie es wagen, sich beim Bücherlesen zu amüsieren, wenn er nicht dazu imstande war? Wie konnte sie es nur wagen?
«Das ist ein Büchereibuch!» schrie Matilda. «Es gehört mir nicht. Ich muß es Frau Phelps zurückgeben!»
«Dann wirst du ein neues kaufen müssen, nicht wahr?» entgegnete der Vater und riß und riß die Seiten raus. «Du wirst dein Taschengeld aufheben müssen, bis du genug in der Sparbüchse hast, um deiner kostbaren Frau Phelps ein neues zu kaufen, nicht wahr?» Damit ließ er den unterdessen leeren Einband des Buches in den Papierkorb fallen und marschierte aus dem Zimmer, in dem der Fernsehapparat weiter lärmte.
Die meisten Kinder wären jetzt an Matildas Stelle in wahre Tränenschauer ausgebrochen. Sie dachte jedoch gar nicht daran. Sie saß vollkommen reglos und blaß und nachdenklich da. Sie schien genau zu begreifen, daß ihr weder Trotz noch Geheul etwas einbrachten. Die einzige vernünftige Reaktion auf einen Angriff ist, wie Napoleon einmal sagte, zurückzuschlagen. Matildas wunderbar wendiger Geist war schon damit beschäftigt, eine neue passende Bestrafung für dieses gemeingefährliche Elternteil zu entwerfen. Der Plan, den sie jetzt in ihrem Kopf auszubrüten begann, hing nur von der Frage ab, ob Freds Papagei tatsächlich so perfekt sprechen konnte, wie Fred behauptete.
Fred war Matildas Freund. Er war ein kleiner Junge von sechs Jahren, der eben um die Ecke wohnte, und seit Tagen hatte er von nichts anderem als von diesem großen sprechenden Papagei geredet, den ihm sein Vater geschenkt hatte. Sowie also Frau Wurmwald am kommenden Nachmittag mit ihrem Wagen zur nächsten Bingorunde verschwunden war, brach auch Matilda auf, um in Freds Haus die Lage zu klären. Sie klopfte an seine Tür und fragte, ob er so gut sein und ihr den berühmten Vogel zeigen könne. Fred war entzückt und führte sie hinauf in sein Schlafzimmer, wo ein wirklich prachtvoller blau-gelber Papagei in einem großen Käfig saß.
«Das ist er», verkündete Fred, «er heißt Hacker.»
«Laß ihn sprechen», sagte Matilda.
«Man kann ihn nicht sprechen lassen», entgegnete Fred, «man muß geduldig sein. Er redet, wenn er Lust dazu hat.»
Sie hingen also herum und warteten. Plötzlich sagte der Papagei: «Hallo, hallo, hallo!» Es klang genau wie eine Menschenstimme. Matilda sagte: «Das ist erstaunlich. Was kann er noch sagen?»
«Da klappern mir die Knochen!» sagte der Papagei, wobei er ganz schauerlich eine Geisterstimme nachahmte. «Da klappern mir die Knochen!»
«Das sagt er immer», erklärte Fred.
«Was kann er noch sagen?» erkundigte sich Matilda.
«Das war’s eigentlich», antwortete Fred, «aber das ist doch doll, findest du nicht?»
«Das ist fabelhaft», sagte Matilda. «Kannst du ihn mir für eine einzige Nacht leihen?»
«Nein», entgegnete Fred, «ganz ausgeschlossen.»
«Für mein Taschengeld von nächster Woche», sagte Matilda.
Das klang schon anders. Fred dachte ein paar Sekunden darüber nach. «Na, also gut», sagte er, «wenn du mir versprichst, daß du ihn morgen zurückbringst.»
Matilda wankte, den großen Käfig mit beiden Armen umklammernd, zu ihrem eigenen leeren Haus zurück. Im Eßzimmer gab es einen großen Kamin, und sie schickte sich jetzt an, den Käfig in die Esse hinaufzustemmen, so daß man ihn nicht mehr sehen konnte. Das war nicht ganz einfach, aber schließlich schaffte sie es. «Hallo, hallo, hallo!» kreischte der Vogel zu ihr hinunter. «Hallo!»
«Halt den Schnabel, du Idiot!» sagte Matilda, und dann ging sie hinaus, um sich den Ruß von den Händen zu waschen.
Während an diesem Abend die Mutter, der Vater, der Bruder und Matilda wie üblich im Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat zu Abend aßen, klang eine Stimme laut und klar aus dem Eßzimmer jenseits der Halle. «Hallo, hallo, hallo!» sagte sie.
«Harry!» rief die Mutter und wurde schneeweiß. «Es ist jemand im Haus! Ich hab eine Stimme gehört!»
«Ich auch!» sagte der Bruder. Matilda sprang auf und schaltete den Fernsehapparat aus. «Pst!» machte sie. «Hört doch!»
Sie hörten alle auf zu essen und saßen gebannt und mit gespitzten Ohren da.
«Hallo, hallo, hallo!» erklang die Stimme abermals.
«Da, wieder!» rief der Bruder.
«Das sind Einbrecher!» zischte die Mutter. «Sie sind im Eßzimmer!»
«Das denk ich auch», sagte der Vater, der still und starr dasaß.
«Dann geh doch hin und fang sie, Harry!» drängte die Mutter. «Lauf rüber und ertappe sie auf frischer Tat!»
Der Vater rührte sich nicht. Er schien sich keineswegs beeilen und hinüberstürzen und ein Held sein zu wollen. Sein Gesicht hatte eine graue Farbe angenommen.
«Mach doch, los!» zischte die Mutter. «Sie wollen wahrscheinlich das Silber stehlen!»
Der Ehemann wischte sich nervös mit der Serviette über den Mund. «Warum gehen wir nicht alle hinüber und schauen nach?» fragte er.
«Na, dann los», sagte der Bruder. «Los, Mami.»
«Sie sind totensicher im Eßzimmer», wisperte Matilda, «ganz bestimmt.»
Die Mutter packte den Schürhaken vom Kamin. Der Vater griff nach einem Golfschläger, der in einer Ecke lehnte. Der Bruder schnappte sich die Tischlampe und riß den Stecker aus der Wand. Matilda nahm das Messer, mit dem sie gegessen hatte, und so schlichen sich die vier zur Tür des Eßzimmers, wobei sich der Vater gehörig hinter den anderen hielt.
«Hallo, hallo, hallo!» erklang die Stimme wieder.
«Los!» schrie Matilda und stürmte in das Zimmer, wobei sie mit ihrem Messer in der Luft herumfuchtelte. «Hände hoch!» schrie sie. «Wir haben euch erwischt!»
Die anderen folgten ihr und schwangen ihre Waffen. Dann hielten sie inne. Sie starrten in alle Ecken. Niemand war da.
«Hier ist keiner», stellte der Vater sehr erleichtert fest.
«Ich hab ihn aber gehört, Harry!» schrie die Mutter, die immer noch am ganzen Leibe zitterte. «Ich hab doch seine Stimme gehört! Ganz genau! Und du auch!»
«Sicher, ich hab ihn gehört!» rief Matilda. «Er muß hier noch irgendwo sein!» Sie begann hinter dem Sofa und hinter den Gardinen rumzustöbern.
Dann erklang die Stimme noch einmal, diesmal ganz weich und geisterhaft. «Da klappern mir die Knochen», sagte sie. «Da klappern mir die Knochen.»
Sie zuckten alle zusammen, auch Matilda, die eine recht gute Schauspielerin war. Sie suchten den ganzen Raum mit den Augen ab. Immer noch war keiner da.
«Das ist ein Gespenst», sagte Matilda.
«Der Himmel steh uns bei!» kreischte die Mutter und klammerte sich am Hals ihres Mannes fest.
«Ich weiß genau, daß es ein Gespenst ist!» sagte Matilda. «Ich hab es hier schon mal gehört. Das ist ein Gespensterzimmer. Ich dachte, ihr hättet das gewußt.»
«Hilf Himmel!» schrie die Mutter und erdrosselte fast ihren Gatten.
«Ich will hier raus», sagte der Vater, aschgrauer denn je. Sie stürzten in wilder Flucht hinaus und schlugen die Tür hinter sich zu.
Am nächsten Nachmittag gelang es Matilda, einen ziemlich verrußten und mürrischen Papagei wieder aus dem Kamin zu zerren und ungesehen aus dem Haus zu schaffen. Sie schleppte ihn durch die Hintertür und rannte mit ihm die ganze Strecke bis zu Freds Haus.
«Hat er sich gut benommen?» fragte Fred.
«Es war eine reizende Visite», antwortete Matilda, «meine Eltern waren ganz hin.»
Arithmetik
Matilda wünschte sich sehnlichst, daß ihre Eltern gütig und liebevoll und verständnisvoll und ehrenwert und intelligent wären. Die Tatsache, daß sie keine von diesen Eigenschaften besaßen, machte ihr schwer zu schaffen. Es fiel ihr nicht leicht, sich damit abzufinden. Aber das neue Spiel, das sie sich ausgedacht hatte, um einen oder beide jedesmal zu bestrafen, wenn sie gemein zu ihr gewesen waren, machte ihr das Leben mehr oder weniger erträglich.
Matilda wünschte sich sehnlichst, daß ihre Eltern gütig und liebevoll und verständnisvoll und ehrenwert und intelligent wären. Die Tatsache, daß sie keine von diesen Eigenschaften besaßen, machte ihr schwer zu schaffen. Es fiel ihr nicht leicht, sich damit abzufinden. Aber das neue Spiel, das sie sich ausgedacht hatte, um einen oder beide jedesmal zu bestrafen, wenn sie gemein zu ihr gewesen waren, machte ihr das Leben mehr oder weniger erträglich.
Weil sie noch sehr klein und sehr jung war, bestand die einzige Macht, die Matilda in ihrer Familie ausüben konnte, in der ihres Geistes. Mit Hilfe schierer Schlauheit konnte sie die Puppen tanzen lassen. Aber trotzdem war nicht an der Tatsache zu rütteln, daß jedes fünfjährige Mädchen in jeder Familie gehorchen und das tun muß, was ihr die anderen sagen, wie idiotisch diese Anordnungen auch sein mögen. So war sie immer gezwungen, ihr Abendbrot von Fernsehtellern aus Aluminium vor der Glotze zu verzehren. An Wochentagen mußte sie nachmittags immer allein bleiben, und wenn ihr jemand befahl, den Mund zu halten, so mußte sie schweigen.
Vor der Verlockung, sich aufzugeben, rettete sie nur das Vergnügen, das sie empfand, wenn sie sich diese herrlichen Strafen ausdachte und austeilte, und das Schönste war, daß sie zu wirken schienen. Wenigstens für kurze Zeit. Besonders der Vater führte sich nach einer Portion von Matildas Wundermedizin ein paar Tage lang sehr viel weniger aufgeblasen und unerträglich auf.
Die Geschichte mit dem Papagei im Kamin hatte ganz entschieden beide Eltern abgekühlt, und über eine Woche lang behandelten sie ihre kleine Tochter verhältnismäßig normal. Aber ach, das war nicht von Dauer. Der nächste Ausbruch erfolgte eines Abends im Wohnzimmer. Herr Wurmwald war gerade von der Arbeit heimgekehrt. Matilda und ihr Bruder saßen gemütlich im Sofa und warteten darauf, daß die Mutter die TV-Mahlzeiten auf einem Tablett hereinbrachte. Die Glotze lief noch nicht.
Herein trat Herr Wurmwald in seinem grellkarierten Anzug mit einer gelben Krawatte. Die auffallend breiten orange und grünen Karos des Jacketts und der Hosen blendeten den Betrachter fast. Herr Wurmwald sah wie ein letztklassiger Buchmacher aus, der sich für die Hochzeit seiner Tochter feingemacht hat, und an diesem Abend platzte er fast vor Selbstgefälligkeit. Er setzte sich in einen Sessel, rieb sich die Hände und redete seinen Sohn mit erhobener Stimme an.
«Also, mein Junge», sagte er, «dein Vater hat einen höchst erfolgreichen Tag hinter sich. Heute abend ist er ein gutes Stück reicher, als er heute früh war. Er hat nicht weniger als fünf Autos verkauft, jedes mit einem sauberen Profit. Sägemehl im Getriebe, Bohrmaschine am Kilometerkabel, hie und da ein Klacks Farbe und noch ein paar schlaue kleine Tricks, und schon drängeln sich die Idioten an der Kasse.»
Er zog ein Stück Papier aus der Tasche und studierte es. «Hör zu, Junge», sagte er, indem er sich nur an den Sohn wandte und Matilda übersah, «da du ja eines Tages den Laden zusammen mit mir führen wirst, mußt du allmählich lernen, wie man sich am Ende jeden Tages den Verdienst ausrechnet. Hol dir mal einen Block und einen Bleistift, dann wollen wir mal sehen, wieviel Grips du schon hast.»
Der Sohn lief gehorsam aus dem Zimmer und kam mit den Schreibsachen zurück.
«Notier dir diese folgenden Zahlen», sagte der Vater, der sie von seinem Zettel ablas. «Wagen Nummer eins ist von mir für zweihundertachtundsiebzig Pfund gekauft und für eintausendvierhundertundfünfundzwanzig verkauft worden. Hast du das?»
Der zehnjährige Junge schrieb die beiden Summen langsam und sorgfältig auf.
«Wagen Nummer zwei», fuhr der Vater fort, «hat mich einhundertachtzehn Pfund gekostet und ist für siebenhundertundsechzig weggegangen. Hast du das?»
«Ja, Vati», antwortete der Sohn, «ich hab’s.»
«Wagen Nummer drei hat einhundertundelf Pfund gekostet und ist für neunhundertundneunundneunzig Pfund und fünfzig Pence verkauft worden.»
«Sag das noch mal», bat der Sohn, «für wieviel hast du ihn verkauft?»
«Neunhundertundneunundneunzig Pfund und fünfzig Pence», wiederholte der Vater, «das ist übrigens noch einer von meinen netten kleinen Tricks, mit denen ich die Kunden reinlege. Nie eine fette runde Summe verlangen. Immer grade drunter bleiben. Niemals eintausend Pfund aussprechen, immer nur sagen neunhundertundneunundneunzigfünfzig. Es klingt nach viel weniger, was aber nicht stimmt. Gerissen, was?»
«Toll», sagte der Sohn, «du bist klug, Vati.»
«Wagen Nummer vier hat sechsundachtzig Pfund gekostet – war ein wahres Wrack – und ist für sechshundertundneunundneunzig Pfund fünfzig verkauft worden.»
«Nicht so schnell», sagte der Sohn, während er sich die Zahlen aufschrieb. «So, jetzt hab ich’s.»
«Wagen Nummer fünf hat sechshundertundsiebenunddreißig Pfund gekostet und ist für sechzehnhundertundneunundvierzigfünfzig verkauft worden. Hast du jetzt all diese Zahlen aufgeschrieben, Sohn?»
«Ja, Vati», erwiderte der Sohn, der sich über seinen Block beugte und bedächtig schrieb.
«Sehr gut», fuhr der Vater fort, «jetzt rechne dir den Profit aus, den ich bei jedem der fünf Wagen gemacht habe, und addier dann die Gesamtsumme. Dann kannst du mir nämlich sagen, wieviel Geld dein ziemlich kluger Vater heute insgesamt zusammengescharrt hat.»
«Das ist aber eine ganze Masse», bemerkte der Junge.
«Natürlich ist das eine ganze Masse», antwortete der Vater, «aber wenn du so groß im Geschäft bist wie ich, dann mußt du auch flink in Arithmetik sein. Ich hab praktisch einen Computer in meinem Kopf. Ich hab nicht mal zehn Minuten gebraucht, um das alles auszurechnen.»
«Willst du damit sagen, daß du es im Kopf ausgerechnet hast, Vati?» fragte der Sohn und riß die Augen auf.
«Na, nicht ganz», sagte der Vater, «das schafft keiner. Aber lange hab ich nicht gebraucht. Wenn du fertig bist, dann sag mir, was ich deiner Meinung nach heute verdient habe. Ich hab die Endsumme hier aufgeschrieben, und ich werd dir sagen, ob du richtig gerechnet hast.»
Matilda sagte ruhig: «Vati, du hast genau insgesamt viertausenddreihundertunddrei Pfund und fünfzig Pence verdient.»
«Misch dich nicht ein», sagte der Vater, «dein Bruder und ich sind mit der Hochfinanz beschäftigt.»
«Aber Vati...»
«Halt die Klappe», sagte der Vater, «hör auf, rumzuraten und dich aufzuspielen.»
«Schau doch auf deinen Zettel, Vati», sagte Matilda sanft, «wenn du richtig gerechnet hast, müßte da stehen: viertausenddreihundertunddrei Pfund und fünfzig Pence. Hast du das auch rausgekriegt, Vati?»
Der Vater warf einen Blick auf den Zettel in seiner Hand. Er schien zu erstarren. Er wurde ganz still. Tiefes Schweigen herrschte. Dann sagte er: «Wiederhol das noch einmal.»
«Viertausenddreihundertunddrei Pfund fünfzig», sagte Matilda.
Abermals ein tiefes Schweigen. Das Gesicht des Vaters begann dunkelrot anzulaufen.
«Ich bin sicher, daß es stimmt», sagte Matilda.
«Du – du kleine Schwindlerin!» schrie der Vater plötzlich und zeigte mit dem Finger auf sie. «Du hast auf meinen Zettel geguckt! Du hast das abgelesen, was ich mir hier aufgeschrieben habe!»
«Vati, ich bin in der anderen Hälfte des Zimmers», sagte Matilda, «wie hätte ich das denn sehen können?»
«Red dich jetzt nicht raus!» rief der Vater. «Natürlich hast du geguckt. Du mußt geguckt haben. Kein Mensch auf der Welt könnte das einfach so ausrechnen, besonders kein Mädchen. Du bist eine kleine Betrügerin, meine Dame, das will ich dir mal sagen! Ja, das kannst du – lügen und betrügen!»
In diesem Augenblick trat die Mutter ein, die ein großes Tablett mit den vier Abendessen trug. Diesmal waren es Fisch und Kartoffelchips, die Frau Wurmwald auf dem Heimweg vom Bingo im Fisch- und Chip-Laden gekauft hatte. Die Bingonachmittage schienen sie körperlich und seelisch so zu erschöpfen, daß sie keine Kraft mehr hatte, ein Abendessen zu kochen. Wenn es also keine TV-Mahlzeiten gab, dann Fisch und Kartoffelchips.
«Warum hast du denn so ein rotes Gesicht, Harry?» fragte sie, während sie das Tablett auf dem Couchtisch absetzte.
«Deine Tochter lügt und betrügt», sagte der Vater, nahm sich seinen Teller mit Fisch und stellte ihn auf die Knie. «Schalte den Apparat an und hör auf mit dem Geschwatze.»
Der wasserstoffblonde Mann
Nach Matildas Meinung gab es gar keinen Zweifel daran, daß ihr Vater für seine jüngste Gemeinheit streng bestraft werden mußte, und während sie dasaß und ihren gräßlichen Fisch mit den Kartoffelchips futterte und dabei Augen und Ohren vorm Fernsehen verschloß, begann ihr Verstand, die verschiedenen Möglichkeiten durchzuspielen. Als es dann für sie Zeit war, ins Bett zu gehen, war sie zu einem Entschluß gekommen.
Am nächsten Morgen stand sie frühzeitig auf, ging ins Badezimmer und verschloß die Tür. Wie wir ja schon wissen, waren Frau Wurmwalds Haare leuchtend blond gefärbt, fast genauso glitzernd und silbrig wie das Kostüm einer Seiltänzerin im Zirkus. Das richtige Haarfärben fand zweimal im Jahr beim Friseur statt, aber Frau Wurmwald pflegte in der Zwischenzeit ungefähr alle vier Wochen einmal die Farbe aufzufrischen, indem sie sich die Haare im Waschbecken mit etwas spülte, das ‹Goldblonde Haarfarbe, extra stark› hieß. Diese Prozedur diente dazu, die häßlichen nachwachsenden braunen Haaransätze zu bleichen. Die Flasche mit der goldblonden Haarfarbe, extra stark, wurde im Badezimmer aufbewahrt, und auf dem Etikett stand unterhalb der Bezeichnung: Achtung! Enthält Wasserstoffsuperoxyd. Von Kindern fernhalten. Das hatte Matilda schon oft und fasziniert gelesen.
Matildas Vater besaß einen kräftigen Haarwuchs und scheitelte sich die schwarzen Haare, auf die er sehr stolz war, genau in der Mitte. «Gute feste Haare», sagte er gern, «das bedeutet, daß darunter ein guter fester Verstand steckt.»
«Wie bei Shakespeare», hatte Matilda einmal darauf erwidert.
«Wie wer?»
«Shakespeare, Vati.»
«War der gescheit?»
«Sehr, Vati.»
«Und hatte den ganzen Kopf voller Haare, was?»
«Er war kahl, Vati.»
Daraufhin hatte sie der Vater angefahren: «Wenn du nichts Vernünftiges zu sagen hast, dann halt die Klappe.»
Herr Wurmwald tat jedenfalls einiges dafür, um sich die Haare so stark und kräftig zu erhalten, oder bildete es sich ein, indem er sich jeden Morgen eine kräftige Portion Haarwasser namens Veilchenöl-Haartonikum einmassierte. Eine Flasche dieser duftenden purpurnen Mischung stand immer auf dem Ablagebrett überm Waschbecken im Badezimmer, neben all den Zahnbürsten, und jeden Morgen nach dem Rasieren fand eine wilde Schädelrubbelei statt. Diese Haar- und Kopfmassage wurde stets von lauten männlichen Grunzern begleitet, von schwerem Atmen und von lautem Keuchen: «Ah, das ist besser! Das ist rührig! Kräftig rein damit, bis in die Wurzeln!», was Matilda in ihrem Schlafzimmer auf der anderen Seite des Korridors noch deutlich hören konnte.
Nun schraubte Matilda in der Verschwiegenheit des frühen Morgens im Badezimmer die Kappe von ihres Vaters Veilchenöl und kippte drei Viertel des Inhalts in den Ausguß. Dann füllte sie die Flasche wieder mit der ‹Goldblonden Haarfarbe, extra stark› von ihrer Mutter auf. Sie hatte klugerweise genug Haarwasser in der Flasche ihres Vaters gelassen, so daß es immer noch einigermaßen purpurn aussah, nachdem sie das Ganze tüchtig geschüttelt hatte. Dann stellte sie die Flasche wieder auf die Ablage über dem Waschbecken und vergaß auch nicht, die Flasche ihrer Mutter in das Badezimmerschränkchen zurückzustellen. So weit, so gut.
Beim Frühstück saß Matilda ruhig am Eßtisch und aß ihre Getreideflocken. Ihr Bruder saß ihr mit dem Rücken zur Tür gegenüber und verdrückte dicke Brotschnitten, die mit einer Mischung aus Erdnußbutter und Erdbeermarmelade bestrichen waren. Die Mutter war im Augenblick nicht zu sehen, weil sie nebenan in der Küche stand und das Frühstück für Herrn Wurmwald zubereitete, das stets aus zwei Spiegeleiern auf geröstetem Brot mit drei Schweinswürstchen, drei Scheiben Speck und ein paar gebratenen Tomaten bestand.
In diesem Augenblick betrat Herr Wurmwald geräuschvoll das Zimmer. Er hätte keinen Raum leise betreten können, besonders nicht zum Frühstück. Er mußte stets mit Getöse und Getön in Erscheinung treten, und man hörte ihn fast sagen: ‹Ich bin’s! Hier komme ich, der große Meister in eigener Person. Der Herr des Hauses, der Geldverdiener, derjenige, dem ihr es alle verdankt, daß ihr so herrlich und in Freuden leben könnt! Nehmt mich wahr und betet mich an!›
An diesem besonderen Tag trat er auf, schlug seinem Sohn auf den Rücken und rief: «Also, mein Junge, dein Vater hat das Gefühl, daß ihm heute wieder ein schöner Tag zum Geldverdienen in der Garage bevorsteht! Ich hab ein paar kleine Schmuckstücke, die ich den Idioten heute früh noch unterjubeln werde. Wo bleibt mein Frühstück?»
«Kommt schon, mein Schatz», rief Frau Wurmwald aus der Küche.
Matilda hielt den Kopf über ihre Getreideflocken gebeugt. Sie wagte nicht aufzuschauen. Erstens wußte sie nicht genau, was sie zu sehen bekommen würde. Und wenn sie zweitens das, was sie zu sehen hoffte, wahrhaftig sah, dann wußte sie nicht, ob sie sich auf ihre unbewegte Miene verlassen konnte. Der Sohn starrte geradewegs aus dem Fenster und stopfte sich mit Erdnußbutterbrot und Erdbeermarmelade voll.
Der Vater war gerade im Begriff, sich auf seinen Platz am Ende des Tisches zu setzen, als die Mutter aus der Küche mit einem Teller angefegt kam, der hoch mit Spiegeleiern und Würstchen und Speck und Tomaten beladen war. Sie schaute auf. Sie erblickte ihren Gatten. Sie erstarrte. Sie stieß einen Schrei aus, der sie senkrecht in die Luft zu katapultieren schien, und sie ließ den Teller mit Krach und Klirren auf den Boden fallen. Alle sprangen auf, auch Herr Wurmwald.
«Was zum Teufel ist denn mit dir los, Frau?» schrie er. «Schau dir an, was du für eine Schweinerei auf dem Teppich gemacht hast!»