Matilda - Dahl Roald 3 стр.


«Was zum Teufel ist denn mit dir los, Frau?» schrie er. «Schau dir an, was du für eine Schweinerei auf dem Teppich gemacht hast!»

«Deine Haare!» schrie die Mutter und deutete mit bebendem Zeigefinger auf ihren Mann. «Schau dir deine Haare an! Was hast du bloß mit deinen Haaren gemacht?»

«Was ist denn um des Himmels willen mit meinen Haaren los?» fragte er.

«O mein Gott, Vati, was hast du mit deinem Haar gemacht!» rief der Sohn.

Im Frühstückszimmer begann sich die herrlichste Keiferei zu entwickeln.

Matilda sagte gar nichts. Sie saß nur da und bewunderte die prachtvolle Wirkung ihrer eigenen Geschicklichkeit. Der dichte schwarze Haarschopf von Herrn Wurmwald sah jetzt schmutzig silbern aus, diesmal wie das Kostüm einer Seiltänzerin, die es seit Anfang der Zirkussaison nicht gewaschen hat.

«Du hast... Du hast... Du hast es gefärbt!» keuchte die Mutter. «Warum hast du denn das gemacht, du Idiot! Es sieht einfach gräßlich aus! Ekelhaft! Du siehst aus wie eine Mißgeburt!»

«Zum Donnerwetter, von was redet ihr denn?» brüllte der Vater und fuhr sich mit beiden Händen in die Haare. «Ich hab sie mir ganz bestimmt nicht gefärbt. Was soll das heißen, ich hätt sie mir gefärbt? Was ist denn damit passiert? Oder ist das ein übler Scherz?» Sein Gesicht nahm allmählich eine hellgrüne Farbe an, genau wie unreife, saure Äpfel.

«Du mußt es dir gefärbt haben, Vati», sagte der Sohn, «es hat jetzt genauso eine Farbe wie Mamis, nur, es sieht viel dreckiger aus.»

«Natürlich hat er’s gefärbt!» schrie die Mutter. «Haare kriegen nicht von ganz alleine eine andere Farbe. Was um des Himmels willen hast du bloß damit beabsichtigt, wolltest du schöner aussehen oder was? Jetzt siehst du aus wie irgendwessen Großmutter, die den Verstand verloren hat!»

«Her mit einem Spiegel!» heulte der Vater. «Steht hier nicht rum und schreit mich an! Bringt mir einen Spiegel!»

Die Handtasche der Mutter lag auf dem Stuhl am anderen Ende des Tisches. Sie klappte die Handtasche auf und holte eine Puderdose heraus, die innen im Deckel einen kleinen Spiegel hatte. Sie machte die Puderdose auf und reichte sie ihrem Mann. Er griff danach und hielt sie sich vors Gesicht und verschüttete dabei den halben Puder, der vorn auf seine knallbunte Tweedjacke rieselte.

«Paß doch auf!» kreischte die Mutter. «Jetzt sieh doch nur, was du wieder angestellt hast! Das ist mein bester Elizabeth Arden-Gesichtspuder!»

«Allmächtiger!» heulte der Vater und starrte in den kleinen Spiegel. «Was ist denn mit mir passiert! Ich sehe ja schrecklich aus! Genauso, als ob es bei dir schiefgegangen wäre. So kann ich nicht in den Betrieb. So kann ich keine Autos verkaufen! Wie konnte das nur passieren?» Er starrte in die Runde, richtete den Blick zuerst auf die Mutter, dann auf den Sohn, schließlich auf Matilda. «Wie konnte das nur passieren?» rief er.



«Ich könnte mir denken, Vati»,antwortete Matilda ruhig, «daß du nicht genau hingeschaut hast und einfach Mamis Flasche mit dem Haarzeugs vom Regal genommen hast statt deine eigene.»

«Ja natürlich, so muß es gewesen sein!» stöhnte die Mutter. «Also wirklich, Harry, wie kann man nur so blöd sein? Man muß sich doch das Etikett anschauen, eh man sich so was eimerweise auf den Kopf schüttet! Meins wirkt außergewöhnlich kräftig. Ich soll nur einen einzigen Eßlöffel davon in ein ganzes Waschbecken voll Wasser geben, und du schüttest dir alles direkt auf den Schädel! Paß nur auf, wahrscheinlich gehen dir jetzt alle Haare aus. Spürst du schon ein Brennen auf dem Kopf, Liebling?»

«Glaubst du, daß ich meine ganzen Haare verliere?» jammerte der Ehemann.

«Sicher», antwortete die Mutter, «Wasserstoffsuperoxyd ist eine sehr starke Chemikalie. So was gießt man auch ins Klo, um den Abfluß zu desinfizieren, nur da wird es anders genannt.»

«Was sagst du denn da!» schrie der Ehemann. «Ich bin doch kein Klobecken! Ich muß nicht desinfiziert werden!»

«Selbst so verdünnt, wie ich es benutze», fuhr die Mutter fort, «gehen mir davon schon eine ganze Masse Haare aus. Weiß also der Himmel, was mit dir passieren wird. Ich würd mich nicht wundern, wenn dir der halbe Kopf abgeht.»

«Was soll ich denn machen?» heulte der Vater. «Schnell, sag’s mir, ehe es anfängt auszufallen.»

Matilda sagte: «Ich würd’s tüchtig waschen, Vati, wenn ich du wäre, mit Wasser und Seife. Aber beeilen mußt du dich.»

«Wird dann die Farbe wieder zurückkommen?» fragte der Vater ängstlich.

«Natürlich nicht, du Dummkopf», sagte die Mutter.

«Was soll ich denn dann machen? Ich kann doch nicht ewig so rumlaufen!»

«Du mußt es wieder schwarz färben», sagte die Mutter, «aber zuerst wasch es lieber mal, sonst bleibt nichts mehr zum Färben übrig.»

«Also gut!» rief der Vater und ergriff wieder die Initiative. «Melde mich sofort bei deinem Friseur zum Haarfärben an! Sag ihnen, daß es sich um einen Notfall handelt! Sollen sie eben irgend jemanden von ihren Anmeldungen streichen. Ich geh jetzt rauf und wasch mir die Haare!» Damit stürzte der Mann aus dem Zimmer, und Frau Wurmwald begab sich mit tiefem Seufzen zum Telefon, um in ihrem Schönheitsinstitut anzurufen.

«Er macht in letzter Zeit wirklich komische Sachen, findest du nicht auch, Mami?» fragte Matilda.

Die Mutter antwortete, während sie die Telefonnummer wählte: «Ach weißt du, Männer sind nicht immer so gescheit, wie sie sich einbilden. Das wirst du schon noch lernen, wenn du ein bißchen älter wirst, mein Mädelchen.»



Fräulein Honig

Matilda war verhältnismäßig spät in die Schule gekommen. Die meisten Kinder wurden mit fünf oder noch jünger in die Vorschule gebracht, aber Matildas Eltern kümmerten sich in keiner Weise um die Erziehung ihrer Tochter und hatten einfach vergessen, rechtzeitig die entsprechenden Schritte zu unternehmen. Sie war fünf und ein halbes Jahr alt, als sie zum erstenmal die Schule betrat.

Die örtliche Grundschule befand sich in einem düsteren Backsteinbau und hieß Mahlheim Hall. Sie hatte zweihundertfünfzig Schüler und Schülerinnen im Alter von fünf bis knapp zwölf Jahren. Die Schulleiterin, die Chefin, die oberste Befehlshaberin dieses Instituts war eine stattliche Dame mittleren Alters, die Fräulein Knüppelkuh hieß.

Matilda kam natürlich in die unterste Klasse, in der achtzehn andere kleine Jungen und Mädchen etwa in ihrem Alter waren. Ihre Lehrerin hieß Fräulein Honig, und sie konnte nicht älter als dreiundzwanzig oder vierundzwanzig sein. Sie hatte ein liebliches blasses, ovales Madonnengesicht mit blauen Augen und hellbraune Haare. Sie war so schlank und zerbrechlich, daß man das Gefühl bekam, wenn sie hinfiele, müßte sie in tausend Stücke zerspringen, wie eine Porzellanfigur.

Fräulein Florentine Honig war eine freundliche und ruhige Person, die niemals die Stimme erhob und die man selten lächeln sah. Aber zweifelsohne besaß sie die seltene Gabe, von jedem der Kinder, die ihrer Obhut anvertraut waren, angebetet zu werden. Sie schien vollkommen die Verwirrung und die Angst zu verstehen, die Kinder so oft überfällt, wenn sie das erste Mal im Leben in einen Klassenraum gepfercht werden und gehorchen müssen. Irgendeine seltsame Wärme, die man fast spüren konnte, leuchtete aus Fräulein Honigs Gesicht, wenn sie mit einem verwirrten Neuankömmling in der Klasse sprach, der schon Heimweh hatte.

Fräulein Knüppelkuh, die Schulleiterin, war vollkommen anders. Sie war ein Riesenweib, ein heiliger Schrecken, ein wildes tyrannisches Ungeheuer, das Kinder und Lehrer gleichermaßen in Panik versetzte. Selbst aus der Entfernung hatte sie etwas Drohendes, und wenn sie einem dicht auf den Leib rückte, konnte man ihre gefährliche Hitze so wahrnehmen, als ob sie ein Stück glühendes Eisen wäre. Wenn sie marschierte – Fräulein Knüppelkuh ging niemals, sondern marschierte immer wie eine Sturmtruppe mit langen Schritten und schwingenden Armen –, wenn sie also einen Korridor entlangmarschierte, konnte man sie tatsächlich bei jedem Schritt schnauben hören, und wenn ihr einmal eine Kinderschar im Wege war, pflügte sie sich querbeet durch wie ein Panzer, so daß die Kleinen nach rechts und links zur Seite spritzten. Gott sei Dank stoßen wir auf dieser Welt auf nicht allzu viele ihresgleichen, aber es gibt sie, sie existieren, und keinem von uns wird es erspart, mindestens einmal im Leben auf so eine Person zu stoßen. In diesem Fall kann ich euch nur raten, genauso zu verfahren, als ob ihr im Busch einem wütenden Rhinozeros begegnet – rennt zum nächsten Baum, klettert rauf und bleibt dort, bis es weg ist. Es ist fast unmöglich, dieses Weib samt all seinen Verrücktheiten zu beschreiben, aber ich werde später noch einmal den schwachen Versuch dazu machen. Jetzt wollen wir sie für einen Augenblick in Ruhe lassen und zu Matilda zurückkehren und zu ihrem ersten Tag in Fräulein Honigs Klasse.

Nachdem Fräulein Honig wie üblich die Namen aller Kinder vorgelesen hatte, teilte sie funkelnagelneue Übungshefte aus.

«Ich hoffe, ihr habt alle eure eigenen Bleistifte mitgebracht», sagte sie.

«Ja, Fräulein Honig», antworteten sie im Chor.



«Gut. Dies ist also euer erster Schultag. Er ist der Anfang von mindestens elf langen Jahren des Lernens, die ihr hinter euch bringen müßt. Und sechs von diesen Jahren werdet ihr in Mahlheim Hall verbringen, wo, wir ihr ja wißt, Fräulein Knüppelkuh eure Rektorin ist. Ich möchte euch zu eurem eigenen Nutzen etwas zu Fräulein Knüppelkuh sagen. Sie besteht darauf, daß an der ganzen Schule strengste Disziplin herrscht, und wenn ich euch einen Rat geben darf, so wäre es nur zu eurem Besten, wenn ihr euch in ihrer Gegenwart mustergültig benehmt. Kein Trotz. Niemals widersprechen. Immer parieren. Wenn ihr Fräulein Knüppelkuh gegen euch aufbringt, dann kann sie euch wie eine Mohrrübe durchs Schnitzelwerk treiben. Da gibt’s gar nichts zu lachen, Lavendel. Auch nichts zu grinsen. Ihr solltet euch alle miteinander hinter die Ohren schreiben, daß Fräulein Knüppelkuh mit jedem, der aus der Reihe tanzt, sehr, sehr streng verfahren wird. Habt ihr das verstanden?»

«Ja, Fräulein Honig», zirpten achtzehn eifrige kleine Stimmen.

«Ich selber», fuhr Fräulein Honig fort, «möchte euch soviel wie möglich beibringen, solange ihr in meiner Klasse seid. Ich weiß nämlich, daß das für euch die Dinge später leichter machen wird. Ich erwarte zum Beispiel, daß jeder bis zum Wochenende das Einmalzwei auswendig lernt. In einem Jahr könnt ihr dann hoffentlich das ganze Einmaleins bis zum Einmalzwölf. Wenn ihr das schafft, wird es euch ganz ungeheuer weiterbringen. Also, hat einer von euch zufällig schon das Einmalzwei gelernt?»

Matilda meldete sich. Sie war die einzige.

Fräulein Honig betrachtete eingehend das kleine Mädchen mit den dunklen Haaren und dem runden Gesicht, das in der zweiten Reihe saß.



«Wunderbar», sagte sie, «bitte steh auf und sag es uns auf, so weit du kannst.»

Matilda stand auf und begann das Einmalzwei aufzusagen. Als sie zu zwei mal zwölf ist vierundzwanzig kam, machte sie nicht Schluß. Sie fuhr einfach fort, «zwei mal dreizehn ist sechsundzwanzig, zwei mal vierzehn ist achtundzwanzig, zwei mal fünfzehn ist dreißig, zwei mal sechzehn ist...»

«Halt!» sagte Fräulein Honig. Sie hatte wie gebannt diesem fehlerlosen Vortrag zugehört, und jetzt fragte sie: «Wie weit kannst du denn weiterrechnen?»

«Wie weit?» fragte Matilda. «Das weiß ich nicht genau, Fräulein Honig. Ich glaube, noch ein ganzes Stück.»

Fräulein Honig brauchte ein paar Augenblicke, um diese merkwürdige Feststellung zu verarbeiten. «Du meinst also», sagte sie, «daß du mir sagen könntest, wieviel zwei mal achtundzwanzig ist?»

«Ja, Fräulein Honig.»

«Und wieviel ist das?»

«Sechsundfünfzig, Fräulein Honig.»

«Und wenn wir es etwas schwieriger machen, zum Beispiel zwei mal vierhundertsiebenundachtzig? Könntest du mir das auch ausrechnen?»

«Ich glaube ja», erwiderte Matilda.

«Bist du ganz sicher?»

«Aber ja, Fräulein Honig, ich bin ziemlich sicher.»

«Wieviel ist also zwei mal vierhundertsiebenundachtzig?»

«Neunhundertvierundsiebzig», erwiderte Matilda wie aus der Pistole geschossen. Sie sprach ruhig und höflich und ohne die geringste Spur von Angabe.

Fräulein Honig starrte Matilda vollkommen fassungslos an, aber als sie den Mund wieder aufmachte, klang ihre Stimme gefaßt. «Das ist wirklich fabelhaft», sagte sie, «aber mit zwei zu multiplizieren, ist natürlich viel leichter als mit höheren Zahlen. Wie steht’s denn mit dem Rest vom Einmaleins? Kannst du da noch etwas?»

«Ich glaube schon, Fräulein Honig. Ich glaube ja.»

«Was denn, Matilda. Wie weit bist du gekommen?»

«Ich... Ich weiß nicht genau», entgegnete Matilda, «ich weiß nicht, was Sie meinen.»

«Ich wollte nur wissen, ob du zufällig auch das Einmaldrei kannst?»

«Ja, Fräulein Honig.»

«Und das Einmalvier?»

«Ja, Fräulein Honig.»

«Also, wie viele Einmaleinse kannst du denn, Matilda? Alle bis zum Einmalzwölf?»

«Ja, Fräulein Honig.»

«Wieviel ist sieben mal zwölf?»

«Vierundachtzig», antwortete Matilda.



Fräulein Honig hielt inne und lehnte sich in ihrem Stuhl hinter dem einfachen Tisch zurück, der mitten vor der Klasse stand. Sie war durch dieses Frage- und Antwort-Spiel ziemlich durcheinander, aber sie hütete sich, es zu zeigen. Sie war noch nie auf eine Fünfjährige, ja, nicht mal auf eine Zehnjährige gestoßen, die mit solcher Leichtigkeit multiplizieren konnte.

«Ich hoffe, daß ihr andern gut zugehört habt», sagte sie zur Klasse. «Matilda ist ein wahrer Glückspilz. Sie hat wunderbare Eltern, die ihr schon das Malnehmen beigebracht haben. Ist es deine Mutter gewesen, Matilda?»

«Nein, Fräulein Honig, die war’s nicht.»

«Dann mußt du einen großartigen Vater haben. Er muß ein erstklassiger Lehrer sein.»

«Nein, Fräulein Honig», antwortete Matilda ruhig, «mein Vater hat mir nichts beigebracht.»

«Nein, Fräulein Honig», antwortete Matilda ruhig, «mein Vater hat mir nichts beigebracht.»

«Willst du damit sagen, daß du dir alles selber beigebracht hast?»

«Ich weiß nicht genau», antwortete Matilda aufrichtig, «ich finde einfach nur, es ist gar nicht schwer, eine Zahl mit der anderen malzunehmen.»

Fräulein Honig holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus.

Sie betrachtete sich abermals das kleine Mädchen mit den lebhaften Augen, das so verständig und gelassen neben seinem Pult stand. «Du sagst, du findest es nicht schwer, eine Zahl mit der anderen zu multiplizieren», sagte Fräulein Honig. «Könntest du versuchen, das ein wenig zu erklären.»

«Ach du liebe Zeit», entgegnete Matilda, «ich weiß wirklich nicht.»

Fräulein Honig wartete. Die Klasse war vollkommen still, alle hatten die Ohren gespitzt.

«Wenn ich dich zum Beispiel», fuhr Fräulein Honig fort, «darum bäte, vierzehn mit neunzehn malzunehmen... Nein, das ist zu schwer...»

«Das ist zweihundertundsechsundsechzig», sagte Matilda leise.

Fräulein Honig starrte sie an, dann griff sie nach einem Bleistift und rechnete sich das Ergebnis rasch auf einem Stück Papier aus. «Wieviel, hast du gesagt?» fragte sie und schaute auf.

«Zweihundertundsechsundsechzig», wiederholte Matilda.

Fräulein Honig legte den Bleistift hin, nahm die Brille ab und begann, die Gläser mit einem Papiertaschentuch blankzureiben. Die Klasse saß mäuschenstill, beobachtete sie und wartete darauf, was als nächstes käme. Matilda stand schweigend neben ihrem Pult.

«Jetzt sag mir einmal, Matilda», fuhr Fräulein Honig fort, während sie weiterpolierte, «versuch mir einmal genau zu beschreiben, was in deinem Kopf vorgeht, wenn du so eine Multiplikation ausführst. Du mußt es ja irgendwie ausrechnen, aber du scheinst fast sofort zu deinem Ergebnis zu kommen. Nimm mal die Aufgabe, die ich dir grade gegeben habe, vierzehn mal neunzehn.»

«Ich... ich... Ich merk mir einfach die Vierzehn und nehm sie mit Neunzehn mal», antwortete Matilda. «Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wie ich es anders erklären soll. Ich hab mir immer gedacht, wenn das so ein kleiner Taschenrechner kann, warum sollte ich’s nicht auch zustande bringen?»

«Ja, wirklich», sagte Fräulein Honig, «das menschliche Hirn ist etwas Wunderbares.»



«Ich finde, es ist viel besser als ein Stückchen Metall», sagte Matilda, «und mehr ist ein Rechner ja nicht.»

«Wie recht du hast», sagte Fräulein Honig. «Taschenrechner sind übrigens an dieser Schule verboten.» Fräulein Honig fühlte sich ganz zitterig. Sie zweifelte nicht daran, daß sie auf einen wahrhaft außergewöhnlichen mathematischen Verstand gestoßen war, und Begriffe wie frühreifes Wunderkind, Begabung und Auslese schossen ihr durch den Kopf. Sie wußte, daß Wunder dieser Art von Zeit zu Zeit in der Welt auftauchen, aber nur ein- oder zweimal in hundert Jahren. Mozart war schließlich auch erst fünf, als er mit seinen Kompositionen für Klavier begann, und man braucht sich nur anzuschauen, was aus ihm geworden ist.

«Das ist nicht gerecht», sagte Lavendel. «Wieso kann sie das und wir nicht?»

«Keine Angst, Lavendel, du holst sie bald ein», tröstete sie Fräulein Honig mit einer Notlüge.

Und nachdem sie schon so weit gekommen war, konnte Fräulein Honig der Versuchung nicht widerstehen, den Verstand dieses erstaunlichen Kindes noch etwas weiter zu prüfen. Sie wußte, daß sie sich auch dem Rest der Klasse widmen sollte, aber sie war viel zu aufgeregt, um die Angelegenheit schon ruhen zu lassen.

«Also», sagte sie, indem sie so tat, als ob sie sich an die ganze Klasse richtete, «wollen wir die Zahlen mal für einen Augenblick beiseite lassen und sehen, ob sich einer von euch schon mit dem Buchstabieren beschäftigt hat. Hände hoch, wer Katze buchstabieren kann.»

Drei Hände fuhren in die Höhe. Sie gehörten Lavendel, einem kleinen Jungen namens Nigel und Matilda.

«Buchstabiere Katze, Nigel.»

Nigel buchstabierte das Wort.

Fräulein Honig beschloß nun, eine Frage zu stellen, die sie normalerweise nicht mal im Traum an einem ersten Schultag gestellt hätte. «Jetzt möchte ich einmal wissen», fuhr sie fort, «ob einer von euch drei Katzenbuchstabierern auch schon gelernt hat, wie man eine ganze Gruppe von Wörtern liest, wenn sie in einem Satz zusammengefaßt sind.»

«Hab ich», antwortete Nigel.

«Kann ich auch», sagte Lavendel.

Fräulein Honig ging zur Tafel und schrieb mit ihrer weißen Kreide den Satz: Ich habe schon zu lernen begonnen, wie man lange Sätze liest. Sie hatte den Satz mit Absicht etwas schwierig formuliert, und sie wußte, daß es nur ziemlich wenige Fünfjährige gab, die damit zu Rande kamen.

«Kannst du mir sagen, was das heißt, Nigel?» fragte sie.

«Das ist mir zu schwer», antwortete Nigel.

«Lavendel?»

«Das erste Wort heißt ‹Ich›», sagte Lavendel.

«Kann einer von euch den ganzen Satz lesen?» fragte Fräulein Honig und wartete auf das Ja, das, wie sie sicher wußte, von Matilda kommen würde.

«Ja», sagte Matilda.



«Dann los», sagte Fräulein Honig.

Matilda las den Satz ohne das geringste Zögern.

«Das ist wirklich recht gut», stellte Fräulein Honig fest, wobei sie so wie noch nie in ihrem Leben untertrieb. «Wieviel kannst du denn lesen, Matilda?»

«Ich glaube, daß ich die meisten Sachen lesen kann, Fräulein Honig», antwortete Matilda, «wenn ich auch leider nicht immer verstehe, was die Wörter bedeuten.»

Fräulein Honig stand auf und schritt entschlossen aus dem Klassenzimmer, kam jedoch nach dreißig Sekunden mit einem dicken Buch zurück. Sie schlug es wahllos auf und legte es auf Matildas Pult. «Dies ist ein Buch mit lustigen Geschichten», erklärte sie, «probier mal, ob du uns dies vorlesen kannst.»

Ohne zu stocken und ohne eine Pause zu machen, begann Matilda flink und flott vorzulesen:


«Ein Epikur aß in Neuhaus

und fand in der Suppe ‘ne Maus.

Rief der Kellner: Gemach!

Kein Geschrei und kein Krach,

sonst wolln nämlich alle so ‘n Graus!»


Einige Kinder verstanden den Witz des Gedichtes und lachten. Fräulein Honig fragte: «Weißt du, was ein Epikur ist, Matilda?»

«Das ist einer, der beim Essen wählerisch ist», antwortete Matilda.

«Das ist richtig», entgegnete Fräulein Honig. «Und weißt du zufällig auch, wie man diese ganz besondere Art von Gedichten nennt?»

«Das nennt man Limerick», erwiderte Matilda, «und dies ist ein besonders hübscher. Er ist so komisch.»

«Er ist auch ziemlich berühmt», sagte Fräulein Honig, nahm das Buch und kehrte zu ihrem Tisch vor der Klasse zurück. «Einen witzigen Limerick zu verfassen ist sehr schwer», setzte sie hinzu, «sie sehen so leicht aus, sind es aber ganz und gar nicht.»

«Ich weiß», sagte Matilda, «ich hab’s schon ein paarmal versucht, aber meine werden nie sehr gut.»

«Ach wirklich?» fragte Fräulein Honig, deren Verblüffung immer größer wurde. «Also, Matilda, ich würde sehr gerne einen von diesen Limericks hören, die du, wie du sagst, geschrieben hast. Ob du dich vielleicht für uns noch an einen erinnern kannst?»

«Also», antwortete Matilda zögernd, «ich hab eben grad versucht, einen auf Sie zu dichten, Fräulein Honig, während Sie hier gesessen haben.»

«Auf mich!» rief Fräulein Honig. «Na, den wollen wir doch ganz bestimmt hören, nicht wahr?»

«Ich weiß aber nicht, ob ich ihn sagen mag, Fräulein Honig.»

«Ach bitte, tu’s doch», bat Fräulein Honig, «ich versprech dir auch, daß ich nichts übelnehmen werde.»

«Vielleicht tun Sie das doch, Fräulein Honig, denn ich habe Ihren Vornamen benutzt, damit sich die Zeilen reimen, und deshalb möchte ich es doch lieber nicht aufsagen.»

«Woher kennst du denn meinen Vornamen?» fragte Fräulein Honig.

«Ich hab gehört, wie Sie eine andere Lehrerin gerufen hat, kurz bevor wir hier reinkamen», sagte Matilda, «sie hat Sie Flo genannt.»

«Ich bestehe aber darauf, diesen Limerick zu hören», sagte Fräulein Honig, wobei sie übers ganze Gesicht lächelte, was nur sehr selten geschah. «Stell dich hin und sag ihn auf.»

Widerwillig erhob sich Matilda und sagte sehr langsam und zappelig ihren Limerick auf:


«Es fragen sich alle bei Flo

und raten und rätseln nur so:

Gewiß gibt es nicht überall ein Gesicht,

das so hübsch ist wie ihrs? Nirgendwo.»


Fräulein Honigs blasses und freundliches Gesicht wurde puterrot, und sie lächelte abermals. Diesmal aber viel heiterer, so wie man lächelt, wenn man sich wirklich über etwas freut.

«Danke schön, Matilda», sagte sie und lächelte immer noch. «Obwohl es nicht stimmt, ist es ein sehr guter Limerick. Ach je, je, den muß ich wirklich auswendig lernen.»

Aus der dritten Bankreihe sagte Lavendel: «Das ist gut. Das gefällt mir.»

«Und stimmen tut es auch», sagte ein kleiner Junge namens Rupert.

«Und ob es stimmt», sagte Nigel.

Die ganze Klasse schwärmte schon für Fräulein Honig, obgleich sie kaum ein Kind außer Matilda richtig wahrgenommen hatte.

«Wer hat dir das Lesen beigebracht, Matilda?» fragte Fräulein Honig.

«Ich hab’s mir irgendwie selbst beigebracht, Fräulein Honig.»

«Und hast du schon irgendwelche Bücher gelesen, ich meine: Kinderbücher?»

«Ich habe alle gelesen, die es in der Stadtbücherei in der Hauptstraße gibt, Fräulein Honig.»

«Und haben sie dir gefallen?»

«Ein paar fand ich wirklich ganz gut», antwortete Matilda, «aber die meisten waren ziemlich langweilig.»

«Nenn mir eins, das dir gefallen hat.»

‹«Der König von Narnia›», sagte Matilda. «Ich finde, daß Herr C. S. Lewis ein sehr guter Schriftsteller ist. Er hat nur einen Fehler. In seinen Büchern gibt es keine lustigen Stellen.»

«Da hast du recht», entgegnete Fräulein Honig.

«Und bei Herrn Tolkien gibt es auch nicht viele komische Stellen», sagte Matilda.

«Findest du denn, daß alle Kinderbücher etwas Lustiges haben sollten?» fragte Fräulein Honig.

«Ja», antwortete Matilda, «Kinder sind nicht so ernsthaft wie Erwachsene, und sie lachen gerne.»

Fräulein Honig war von der Weisheit dieses kleinen Mädchens vollkommen verblüfft. Sie sagte: «Und was machst du jetzt, nachdem du alle Kinderbücher ausgelesen hast?»

«Ich lese andere Bücher», entgegnete Matilda, «ich leih sie mir aus der Stadtbücherei. Frau Phelps ist sehr nett zu mir. Sie hilft mir bei der Auswahl.»

Fräulein Honig beugte sich weit über ihren Arbeitstisch und betrachtete das Kind voller Staunen. Sie hatte den Rest der Klasse vollkommen vergessen. «Was für andere Bücher?» murmelte sie.

«Charles Dickens mag ich besonders gern», sagte Matilda, «er macht mich immer wieder lachen. Besonders Mr. Pickwick.»

In diesem Augenblick schepperte die Glocke und verkündete das Ende der Schulstunde.


Die Knüppelkuh

Fräulein Honig verließ in der Pause den Klassenraum und ging geradewegs zum Arbeitszimmer der Schulleiterin. Sie war vollkommen außer sich. Sie war auf ein kleines Mädchen gestoßen, das hochbegabt war oder das ihr wenigstens so vorkam. Sie hatte noch nicht feststellen können, wie der genaue Grad dieser Begabung war, hatte aber genug mitgekriegt, um zu dem Schluß zu kommen, daß in dieser Sache so bald wie möglich etwas geschehen mußte. Es wäre geradezu lächerlich, wenn man solch ein Kind bei den Abc-Schützen ließe.

Normalerweise verspürte Fräulein Honig eine heilige Angst vor der Schulleiterin und hielt sich möglichst fern von ihr, aber in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, daß sie es mit jedem aufnehmen könnte. Sie klopfte an die Tür des gefürchteten privaten Arbeitszimmers.

«Herein!» dröhnte die tiefe und gefährliche Stimme von Fräulein Knüppelkuh. Fräulein Honig trat ein.

Schulleiter bekommen ihre Stellung meistens deshalb, weil sie über eine Anzahl von hervorragenden Eigenschaften verfügen. Sie verstehen Kinder, und nichts liegt ihnen so am Herzen wie die Interessen dieser Kinder. Sie sind liebenswürdig. Sie sind gerecht, und sie beschäftigen sich eingehend mit Erziehungsfragen. Fräulein Knüppelkuh besaß jedoch keine dieser Eigenschaften, und wie sie zu ihrer augenblicklichen Stelle gekommen war, blieb ein ewiges Geheimnis.

Sie war zudem ein gewaltiges Weib. Früher war sie eine bekannte Athletin gewesen, und ihre Muskeln fielen einem heute noch auf. Man konnte sie auf ihrem Stiernacken erkennen, den breiten Schultern, den dicken Armen, den sehnigen Handgelenken und an den mächtigen Beinen. Beim Anblick von Fräulein Knüppelkuh bekam man sofort das Gefühl, jemanden vor sich zu haben, der Eisenstangen verbiegen und Telefonbücher quer durchreißen konnte. Auf ihrem Gesicht zeigte sich leider nicht die geringste Spur von Schönheit, noch war es ein erfreulicher Anblick. Sie besaß ein eigensinniges Kinn, einen grausamen Mund und kleine hochmütige Augen. Und was ihre Kleider anbelangt... Sie waren zumindest außergewöhnlich sonderbar. Sie steckte immer in einem braunen Baumwollkittel, der um die Hüften von einem breiten Ledergürtel zusammengehalten wurde. Dieser war vorn mit einer riesigen Silberschnalle verschlossen. Die fetten Hüften, die unter dem strammen Gürtel hervorquollen, steckten in merkwürdigen Reithosen aus grobem Köperstoff in einem flaschengrünen Farbton. Diese Hosen reichten bis knapp über die Knie, und dazu trug sie mit Vorliebe grüne Strümpfe, die oben einmal umgeschlagen wurden und ihre Wadenmuskeln in aller Deutlichkeit zeigten. Ihre Füße steckten in flachen braunen Haferlschuhen. Sie sah also, kurz gesagt, eher wie ein ziemlich verrückter und blutdürstiger Jäger hinter der Meute scharfer Jagdhunde aus als wie die Leiterin einer netten Grundschule.



Als Fräulein Honig das Arbeitszimmer betrat, stand Fräulein Knüppelkuh mit ungeduldiger und finsterer Miene neben ihrem gewaltigen Schreibtisch. «Ja, Fräulein Honig», sagte sie, «was wollen Sie? Sie sehen ja heute früh vollkommen aufgelöst aus. Was ist los mit Ihnen? Haben diese kleinen Stinker Sie mit Papierkügelchen beschossen?»

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