Als Fräulein Honig das Arbeitszimmer betrat, stand Fräulein Knüppelkuh mit ungeduldiger und finsterer Miene neben ihrem gewaltigen Schreibtisch. «Ja, Fräulein Honig», sagte sie, «was wollen Sie? Sie sehen ja heute früh vollkommen aufgelöst aus. Was ist los mit Ihnen? Haben diese kleinen Stinker Sie mit Papierkügelchen beschossen?»
«Nein, Frau Rektorin, keineswegs.»
«Was ist es denn dann? Heraus damit. Ich bin eine beschäftigte Frau.» Während sie sprach, griff sie nach einem Krug, der immer auf ihrem Schreibtisch stand, und goß sich ein Glas Wasser ein.
«Ich habe in meiner Klasse ein kleines Mädchen namens Matilda Wurmwald...» begann Fräulein Honig.
«Das ist die Tochter von dem Mann, dem Wurmwald-Motoren in der Stadt gehört», bellte Fräulein Knüppelkuh. Sie sprach fast niemals mit normaler Stimme. Sie bellte entweder, oder sie brüllte. «Guter Mann, der Wurmwald», fuhr sie fort, «bin erst gestern bei ihm gewesen. Hat mir einen Wagen verkauft. Fast neu. Nur zehntausend Kilometer drauf. Hat einer alten Dame gehört, die den Wagen höchstens einmal im Jahr aus der Garage holte. Da hab ich ein Mordsgeschäft gemacht. Ja, Wurmwald gefällt mir. Eine wahre Säule unserer Gesellschaft. Hat mir gesagt, seine Tochter sei allerdings ein schlimmes Stück. Ich sollte ein wachsames Auge auf sie haben. Er hat gesagt, wenn in der Schule jemals was passierte, so steckte bestimmt seine Tochter dahinter. Ich hab die kleine Ratte noch nicht zu sehen gekriegt, aber ich werd sie schon erkennen, wenn es soweit ist. Ihr Vater sagt, sie sei ein richtiges Früchtchen.»
«O nein, Frau Rektorin, das kann nicht stimmen!» rief Fräulein Honig.
«O ja, Fräulein Honig, und ob das stimmt! Wenn ich nämlich richtig darüber nachdenke, so geh ich jede Wette ein, daß sie es war, die mir heute früh eine Stinkbombe unter den Tisch gelegt hat. Das Zimmer hat wie eine Kloake gerochen! Natürlich ist sie das gewesen! Das werd ich ihr heimzahlen, passen Sie nur auf! Wie sieht sie aus? Wahrscheinlich wie ein widerlicher kleiner Wurm. Ich habe nämlich in meiner langen Karriere als Lehrerin herausgefunden, Fräulein Honig, daß ein schlimmes Mädchen weitaus gefährlicher ist als ein schlimmer Junge. Und dann kommt noch hinzu, sie sind viel schwerer fertigzumachen. Ein schlimmes Mädchen zu erledigen, das ist so, als ob man versuchte, eine Schmeißfliege zu zerquetschen. Man haut drauf, und weg ist das verdammte Ding. Abscheuliche schmutzige Dinger diese Mädchen. Ich bin nur froh, daß ich nie eins war.»
«Oh, aber einmal müssen Sie doch auch ein kleines Mädchen gewesen sein, Frau Rektorin. Ganz bestimmt.»
«Wenigstens nicht lange», bellte Fräulein Knüppelkuh und grinste, «bin im Handumdrehen eine Frau geworden.»
Sie ist völlig verrückt, sagte sich Fräulein Honig, knatschverrückt. Sie blieb entschlossen vor der Schulleiterin stehen. Ein einziges Mal wollte sie sich nicht abweisen und unterdrücken lassen. «Ich muß Ihnen erklären, Frau Rektorin», sagte sie, «daß Sie ganz und gar im Irrtum sind, wenn Sie meinen, Matilda hätte eine Stinkbombe unter Ihren Schreibtisch gelegt.»
«Ich irre mich nie, Fräulein Honig.»
«Aber Frau Rektorin, es ist der erste Schultag des Kindes, und es ist direkt in den Klassenraum...»
«Um Himmels willen, keine Widerworte, Weib! Diese kleine miese Matilde, oder wie sie heißt, hat nur mein Arbeitszimmer stinkbombardiert! Daran gibt’s nichts zu drehen und zu deuteln! Besten Dank, daß Sie mich darauf hingewiesen haben.»
«Aber ich habe Sie nicht darauf hingewiesen, Frau Rektorin.»
«Aber natürlich haben Sie das getan! Also, was haben Sie noch auf dem Herzen, Fräulein Honig? Warum verplempern Sie meine Zeit?»
«Ich wollte mich mit Ihnen über Matilda unterhalten, Frau Rektorin. Ich muß Ihnen etwas ganz Außergewöhnliches über dieses Kind berichten. Darf ich Ihnen bitte erzählen, was gerade eben in der Klasse geschehen ist?»
«Hat wahrscheinlich Ihren Rock in Brand gesteckt und Ihre Unterhosen angesengelt!» schnaubte Fräulein Knüppelkuh.
«Nein, aber nein!» rief Fräulein Honig aus. «Matilda ist ein Genie.»
Bei der Erwähnung dieses Wortes lief Fräulein Knüppelkuhs Gesicht purpurrot an, und ihr ganzer Leib schien sich aufzublähen und zu schwellen wie bei einem Ochsenfrosch. «Ein Genie!» brüllte sie. «Was für einen Quatsch versuchen Sie mir da einzureden, meine Dame? Sie müssen den Verstand verloren haben! Ich habe das Wort ihres Vaters, daß dieses Kind ein Gangster ist!»
«Ihr Vater irrt sich, Frau Rektorin.»
«Seien Sie doch nicht albern, Fräulein Honig! Sie haben dieses kleine Biest eine halbe Stunde vor der Nase gehabt, ihr Vater kennt sie ihr ganzes Leben!»
Fräulein Honig war jedoch so fest entschlossen, diesmal das zu sagen, was sie auf dem Herzen hatte, daß sie einfach anfing, von Matildas erstaunlichen Rechenkunststücken zu erzählen.
«Dann hat sie also ein paar Einmaleinse auswendig gepaukt. Na und?» bellte Fräulein Knüppelkuh. «Das, meine Liebe, macht doch noch kein Genie aus ihr! Höchstens einen Papagei!»
«Aber Frau Rektorin, sie kann lesen.»
«Das kann ich auch», fauchte Fräulein Knüppelkuh.
«Ich bin der Ansicht», sagte Fräulein Honig, «daß Matilda aus meiner Klasse genommen und sofort in die letzte Klasse zu den Elfjährigen versetzt werden sollte.»
«Ha!» schnaubte Fräulein Knüppelkuh. «Sie wollen sie also loswerden, was? Sie werden also nicht mit ihr fertig? Sie wollen sie also der unglückseligen Plimbim in der letzten Klasse aufbürden, wo sie noch mehr Unheil stiften wird?»
«Nein, nein!» rief Fräulein Honig. «Das sind ganz und gar nicht meine Beweggründe!»
«Und ob sie das sind!» brüllte Fräulein Knüppelkuh. «Ich habe Ihre kleine jämmerliche List von Anfang an durchschaut, meine Liebe. Und meine Antwort lautet: nein! Matilda bleibt, wo sie ist, und Sie sind dafür verantwortlich, daß sie sich benimmt.»
«Aber Frau Rektorin, bitte...»
«Kein Wort mehr!» brüllte Fräulein Knüppelkuh. «Außerdem herrscht hier in meiner Schule die Regel, daß alle Kinder in ihrer eigenen Altersgruppe bleiben, ohne Rücksicht auf Begabung. Grundgütiger, ich denke gar nicht daran, eine kleine fünfjährige Gaunerin zu den ältesten Jungen und Mädchen zu versetzen. Wo gibt’s denn so was?»
Fräulein Honig stand vor dieser mächtigen, stiernackigen Riesin hilflos da. Es gab noch viel, was sie gern gesagt hätte, aber sie wußte, daß es zwecklos war. So sagte sie leise: «Nun gut, es ist ihre Entscheidung, Frau Rektorin.»
«Und ob es das ist», bellte Fräulein Knüppelkuh, «und vergessen Sie nicht, meine Beste, daß wir es mit einer kleinen Schlange zu tun haben, die mir eine Stinkbombe unter meinen Tisch...»
«Das hat sie nicht getan, Frau Rektorin!»
«Aber natürlich!» dröhnte Fräulein Knüppelkuh. «Und ich will Ihnen mal was verraten. Ich wünschte zum Himmel, daß ich noch die Birkenrute und den Gürtel benutzen dürfte wie in der guten alten Zeit. Ich würde Matilda so den Hintern versohlen, daß sie einen Monat lang nicht mehr sitzen könnte!»
Fräulein Honig wandte sich ab und ging aus dem Arbeitszimmer, ziemlich niedergeschlagen, aber keineswegs besiegt. Ich werde etwas für dieses Kind unternehmen, schwor sie sich insgeheim. Ich weiß nicht, was das sein kann, aber ich werde einen Weg finden, wie ich ihr doch noch helfen kann.
Die Eltern
Als Fräulein Honig aus dem Zimmer der Schulleiterin trat, befanden sich die meisten Kinder draußen auf dem Schulhof. Ihr erster Schritt bestand darin, daß sie die Runde machte bei den verschiedenen Lehrern, die in der obersten Klasse unterrichteten, und sich von ihnen eine Reihe von Lehrbüchern auslieh, für Algebra, Geometrie, Französisch, Literatur und so weiter. Dann suchte sie Matilda und bat sie ins Klassenzimmer. «Es hat keinen Sinn», begann sie, «daß du hier herumsitzt und Däumchen drehst, während ich den anderen das Einmalzwei beibringe und wie man Katze und Ratte und Maus buchstabiert. Ich werde dir also in jeder Stunde eins von diesen Lehrbüchern geben, mit denen du dich beschäftigen kannst. Am Ende der Stunde kannst du zu mir kommen, und falls du irgendwelche Fragen hast, werde ich versuchen, dir zu helfen. Was meinst du dazu?»
«Vielen Dank, Fräulein Honig», sagte Matilda, «das finde ich gut.»
«Ich bin fest davon überzeugt», fuhr Fräulein Honig fort, «daß wir es schaffen werden, dich später ein paar Klassen überspringen zu lassen, aber im Augenblick wünscht die Schulleiterin, daß du bleibst, wo du bist.»
«Gut, Fräulein Honig», sagte Matilda, «und vielen Dank, daß Sie mir diese Bücher besorgt haben.»
Was ist sie doch für ein nettes Kind, dachte Fräulein Honig. Es ist mir schnuppe, was ihr Vater über sie gesagt hat, mir kommt sie sehr ruhig und sanft vor und kein bißchen aufgeblasen trotz all ihrer Gescheitheit. Im Grunde genommen scheint sie sich dessen gar nicht bewußt zu sein.
Als sich die Kinder wieder in der Klasse versammelten, ging Matilda zu ihrem Pult und begann, ein Geometriebuch zu studieren, das ihr Fräulein Honig gegeben hatte. Die Lehrerin behielt sie die ganze Zeit mit im Auge und verfolgte, wie sich das Kind ziemlich rasch völlig in das Buch vertiefte. Sie schaute während der ganzen Stunde kein einziges Mal auf.
Fräulein Honig kam unterdessen zu einem zweiten Entschluß. Sie nahm sich vor, sobald wie möglich selber zu Matildas Eltern zu gehen und sich mit ihnen unter sechs Augen zu unterhalten. Sie wollte sich einfach nicht damit abfinden, alles so zu lassen, wie es war. Die ganze Angelegenheit war einfach lächerlich. Sie mochte es nicht glauben, daß die Eltern die bemerkenswerten Eigenschaften ihrer Tochter noch gar nicht wahrgenommen hatten. Schließlich war Herr Wurmwald ein erfolgreicher Autohändler, deshalb nahm sie an, daß er selber ganz gescheit sein mußte. Auf jeden Fall neigten Eltern niemals dazu, die Fähigkeiten ihrer eigenen Kinder zu unterschätzen. Ganz im Gegenteil. Manchmal war es einem Lehrer fast unmöglich, den stolzen Vater oder die Mutter davon zu überzeugen, daß ihr geliebter Sprößling ein völliger Versager war. Fräulein Honig war sicher, daß es ihr keine Schwierigkeiten machen würde, Herrn und Frau Wurmwald davon zu überzeugen, daß Matilda wirklich etwas ganz Besonderes war. Das Problem lag vermutlich eher darin, ihre Begeisterung zu bremsen.
Und dann begannen Fräulein Honigs Hoffnungen noch höher zu steigen. Sie überlegte, ob sie sich nicht von den Eltern die Erlaubnis erbitten sollte, Matilda nach der Schule Privatunterricht zu geben. Die Aussicht, ein so helles Kind wie dieses zu fördern, regte ihren Berufsinstinkt als Lehrerin ganz ungeheuer an. Und plötzlich beschloß sie, schon an diesem Abend Herrn und Frau Wurmwald zu besuchen. Sie wollte nicht allzu früh zu ihnen gehen, erst zwischen neun und zehn Uhr, wenn Matilda bestimmt schon im Bett war.
Und genauso machte sie es auch. Sie besorgte sich die Anschrift aus den Schulakten, und kurz nach neun machte sie sich auf den Weg zum Haus der Wurmwalds. Sie entdeckte es in einer hübschen Straße, in der die kleinen Eigenheime durch ein Stückchen Garten voneinander getrennt standen. Es war ein modernes Backsteinhaus, das nicht billig gewesen sein konnte, und der Name über der Gartentür lautete LAUSCHIGER WINKEL. Lärmige Hinkel hätte besser gepaßt, dachte Fräulein Honig. Sie hatte eine Schwäche für solche Wortspiele. Sie ging den Gartenweg entlang und läutete an der Haustür, und während sie dastand und wartete, konnte sie drinnen den Fernsehapparat plärren hören.
Die Tür wurde von einem kleinen Mann mit einem Rattengesicht und einem dünnen Rattenschnurrbärtchen geöffnet, der ein Sportsakko mit orangefarbenen und roten Streifen trug. «Ja?» fragte er und blinzelte zu Fräulein Honig hinaus. «Wenn Sie Lotterielose verkaufen, ich will keine.»
«Das tue ich nicht», antwortete Fräulein Honig, «und bitte verzeihen Sie mir, daß ich so hereinplatze. Ich bin Matildas Lehrerin, und es ist wichtig, daß ich mich mit Ihnen und Ihrer Frau unterhalte.»
«Hat schon Ärger gemacht, was?» fragte Herr Wurmwald und blockierte den Eingang. «Also, dafür sind jetzt Sie verantwortlich. Sie müssen mit ihr fertig werden.»
«Sie hat nicht im geringsten Ärger gemacht», sagte Fräulein Honig. «Ich bin mit guten Nachrichten über sie gekommen. Ganz erstaunlichen Nachrichten, Herr Wurmwald. Meinen Sie, daß ich ein paar Minuten hereinkommen und mit Ihnen über Matilda sprechen könnte?»
«Wir sind gerade dabei, uns eine unserer Lieblingssendungen anzuschauen», sagte Herr Wurmwald, «das paßt jetzt gar nicht. Warum kommen Sie nicht ein andermal wieder?»
Fräulein Honig begann die Geduld zu verlieren. «Herr Wurmwald», sagte sie, «wenn Sie finden, daß irgendein schwachsinniges Fernsehprogramm wichtiger ist als die Zukunft Ihrer Tochter, dann hätten Sie nicht Vater werden sollen! Warum stellen Sie das verflixte Ding nicht ab und hören mir zu?»
Das brachte Herrn Wurmwald vollkommen durcheinander. Er war nicht daran gewöhnt, daß man so mit ihm sprach. Er beäugte mißtrauisch die schlanke, zerbrechliche Frau, die so entschlossen vor seiner Schwelle stand. «Na, also gut», fuhr er sie an, «rein mit Ihnen, damit wir’s schnell hinter uns bringen.»
Fräulein Honig trat energisch ein.
«Frau Wurmwald wird Ihnen dafür nicht sehr dankbar sein», sagte er, während er sie ins Wohnzimmer führte, wo eine füllige wasserstoffblonde Frau hingerissen auf den Bildschirm starrte.
«Wer ist das?» fragte die Frau, ohne sich umzudrehen.
«‘ne Lehrerin», antwortete Herr Wurmwald. «Sie sagt, sie muß mit uns über Matilda reden.» Er ging zum Fernsehgerät und stellte den Ton ab, ließ aber das Bild weiterlaufen.
«Laß das doch, Harry!» rief Frau Wurmwald aus. «Hans-Joachim ist gerade dabei, Angelika einen Heiratsantrag zu machen!»
«Kannst ja zugucken, während wir reden», sagte Herr Wurmwald. «Dies ist Matildas Lehrerin. Sie sagt, sie hätte irgendwelche Neuigkeiten für uns.»
«Mein Name ist Florentine Honig», sagte Fräulein Honig. «Guten Abend, Frau Wurmwald.»
Frau Wurmwald glotzte sie an und fragte: «Was ist denn los?»
Niemand lud Fräulein Honig zum Sitzen ein, deshalb suchte sie sich einen Stuhl aus und nahm unaufgefordert Platz. «Heute», sagte sie, «war der erste Schultag Ihrer Tochter.»
«Das wissen wir», sagte Frau Wurmwald ziemlich gereizt, weil sie ihre Sendung verpaßte. «Ist das alles, was Sie uns zu sagen haben?»
Fräulein Honig starrte in die feuchten grauen Augen der anderen Frau, und sie ließ das Schweigen sich so lange ausdehnen, bis es Frau Wurmwald unbehaglich wurde. «Wünschen Sie, daß ich den Grund meines Kommens erkläre?» fragte Fräulein Honig.
«Schießen Sie los», sagte Frau Wurmwald.
«Sie wissen sicher», begann Fräulein Honig, «daß man von Kindern, die gerade eingeschult werden, nicht erwartet, daß sie schon lesen oder buchstabieren oder mit Zahlen umgehen. Fünfjährige können das nicht. Matilda aber kann das alles. Und wenn ich ihr glauben darf...»
«Würd ich nie», sagte Frau Wurmwald. Sie war immer noch wütend, weil sie den Ton im Fernsehen nicht mitkriegte.
«Hat sie etwa gelogen», fragte Fräulein Honig, «als sie mir sagte, daß ihr keiner das Multiplizieren oder das Lesen beigebracht hat? Hat sie einer von Ihnen unterrichtet?»
«Was unterrichtet?» fragte Herr Wurmwald.
«Lesen. Bücher lesen», sagte Fräulein Honig. «Vielleicht haben Sie sie ja unterrichtet. Vielleicht hat sie geschwindelt. Vielleicht ist Ihr ganzes Haus voller Bücher und Bücherregale. Das kann ich nicht wissen. Vielleicht sind Sie beide ja große Leser.»
«Natürlich lesen wir», antwortete Herr Wurmwald. «Reden Sie doch keinen Kokolores. Ich lese jede Woche das ‹Auto› und ‹Der Motor› von vorne bis hinten durch.»
«Das Kind hat bereits eine erstaunliche Anzahl an Büchern gelesen», fuhr Fräulein Honig fort. «Ich wollte nur in Erfahrung bringen, ob sie aus einer Familie kommt, in der gute Literatur geschätzt wird.»
«Also vom Bücherlesen halten wir nicht viel», sagte Herr Wurmwald. «Man kann’s zu nichts bringen, wenn man nur auf seinen vier Buchstaben hockt und Geschichtenbücher liest. So was haben wir nicht im Hause.»
«Aha», sagte Fräulein Honig, «nun, ich wollte Ihnen nur berichten, daß Matilda hochbegabt ist. Aber das wissen Sie vermutlich schon längst.»
«Daß sie lesen kann, das weiß ich schon», sagte die Mutter, «sie steckt Tag und Nacht oben in ihrem Zimmer und vergräbt sich in irgendwelchen blöden Büchern.»
«Aber ist es Ihnen nicht aufgefallen», fragte Fräulein Honig, «daß ein kleines fünfjähriges Kind dicke Bücher für Erwachsene von Dickens und Hemingway liest? Reißt Sie das nicht vor Aufregung aus dem Sessel?»
«Eigentlich nicht», antwortete die Mutter. «Von Blaustrümpfen halt ich nicht viel. Ein Mädchen sollte über sein Aussehen nachdenken und wie es attraktiv wird, damit es später einen guten Mann erwischt. Das Aussehen ist viel wichtiger als Bücher, Fräulein Marmelade...»
«Mein Name ist Honig», sagte Fräulein Honig.
«Also schauen Sie doch mich an», fuhr Frau Wurmwald fort, «und dann schauen Sie sich an. Sie haben sich für die Bücher entschieden. Ich fürs gute Aussehen.»
Fräulein Honig betrachtete sich die dicke dumme Person mit dem Puddinggesicht, die ihr gegenübersaß. «Was haben Sie gesagt?» fragte sie.
«Ich sagte, Sie hätten Bücher gewählt und ich das Aussehen», wiederholte Frau Wurmwald. «Und wer hat das Bessere erwischt? Ich natürlich. Ich sitze gemütlich in einem hübschen Haus mit einem erfolgreichen Geschäftsmann, und Sie müssen sich abschuften, um einer Horde von gräßlichen kleinen Rangen das Abc einzubleuen.»
«Ganz recht, Zuckerpfläumchen», sagte Herr Wurmwald und bedachte seine Frau mit einem so affektierten und dreckigen Grinsen, daß es ein Pferd zum Kotzen hätte bringen können.
Fräulein Honig kam zu dem Schluß, daß sie ihre Beherrschung nicht verlieren durfte, wenn sie mit diesen Leuten zu irgendeinem Ergebnis gelangen wollte. «Ich habe Ihnen noch nicht alles berichtet», sagte sie. «So weit ich es in diesem frühen Stadium übersehen kann, ist Matilda auch eine Art mathematisches Genie. Sie kann in Blitzgeschwindigkeit hohe Zahlen miteinander multiplizieren.»
«Was hat das für einen Sinn, wenn’s überall Taschenrechner zu kaufen gibt?» fragte Herr Wurmwald.
«Ein Mädchen kriegt keinen Mann, wenn es auf gescheit macht», stellte Frau Wurmwald fest. «Schauen Sie sich zum Beispiel diese Filmstars an», setzte sie hinzu, indem sie auf den schweigenden Bildschirm deutete, wo ein weibliches Wesen mit schwellendem Busen im Mondschein von einem markigen Mimen umarmt wurde. «Bilden Sie sich etwa ein, den hätt sie sich geschnappt, wenn sie ihm was vormultipliziert hätte? Also wirklich nicht. Und jetzt wird sie heiraten, das werden Sie schon sehen, und dann lebt sie in einem Herrenhaus mit einem Butler und ganzen Scharen von Dienstmädchen.»
Fräulein Honig konnte kaum glauben, was sie da hörte. Sie hatte zwar schon davon gelesen, daß es solche Eltern im ganzen Lande gab und daß sich ihre Kinder zu Verbrechern und Taugenichtsen entwickelten, aber es wirkte wie ein Schock, so ein Elternpaar in Fleisch und Blut zu treffen.
«Das Problem für Matilda», setzte sie noch einmal an, «liegt darin, daß sie allen anderen in ihrer Umgebung so weit voraus ist. Daher würde es sich vielleicht lohnen, über so etwas wie private Förderstunden nachzudenken. Wenn sie richtig angeleitet würde, so glaube ich in allem Ernst, daß sie innerhalb von zwei oder drei Jahren zur Universitätsreife gebracht werden könnte.»
«Universität?» schrie Herr Wurmwald und fuhr in seinem Sessel hoch. «Wer will denn um des Himmels willen auf die Universität? Alles was sie da lernen ist Faulenzen und Randalieren.»
«Das stimmt nicht», widersprach Fräulein Honig. «Wenn Sie in diesem Augenblick einen Herzinfarkt hätten und nach einem Arzt riefen, so hätte dieser Arzt eine Universität absolviert. Wenn Sie Ärger kriegten, weil Sie jemandem einen miserablen Gebrauchtwagen verkauft haben, so müßten Sie sich einen Rechtsanwalt nehmen, und auch der hätte an einer Universität studiert. Sie dürfen gebildete Menschen nicht verachten, Herr Wurmwald. Aber ich sehe schon, daß wir uns nicht einigen werden. Es tut mir leid, daß ich so bei Ihnen hereingeplatzt bin.» Fräulein Honig erhob sich und schritt aus dem Zimmer.
Herr Wurmwald folgte ihr bis zur Haustür und sagte: «Nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Fräulein Hering, oder war es Fräulein Hühnchen?»
«Keins von beiden», entgegnete Fräulein Honig, «aber das macht nichts.» Und damit entschwand sie.
Hammerwurf
Das Nette an Matilda war: wenn man sie zufällig traf und sich mit ihr unterhielt, hätte man sie für ein vollkommen normales fünfeinhalbjähriges Kind gehalten. Fast nichts deutete auf ihre Begabung hin, und sie gab auch niemals an. «Das ist ein sehr vernünftiges und ruhiges kleines Mädchen», hättest du dir gesagt. Und wenn du sie nicht aus irgendeinem Grunde in eine Diskussion über Literatur oder Mathematik verwickelt hättest, so wäre dir das Ausmaß ihres Verstandes gar nicht klargeworden.
Es fiel Matilda deshalb leicht, sich mit anderen Kindern anzufreunden. Alle in ihrer Klasse mochten sie gern. Sie wußten natürlich, daß sie «klug» war, weil sie das in dem Gespräch mit Fräulein Honig am ersten Schultag gehört hatten. Und sie wußten auch, daß sie während des Unterrichts schweigend mit einem Buch dasitzen durfte und nicht auf die Lehrerin zu achten brauchte. Aber Kinder in diesem Alter gehen den Dingen nicht genau auf den Grund. Sie sind so sehr mit ihren eigenen kleinen Problemen befaßt, daß sie sich nicht sonderlich darum kümmern, was die anderen treiben und warum.
Unter Matildas neuen Freunden war ein Mädchen namens Lavendel. Schon am allerersten Schultag hatten die beiden begonnen, in der kleinen und in der großen Pause miteinander auf den Schulhof zu gehen. Lavendel war für ihr Alter außergewöhnlich klein, eine zarte dünne Elfe mit dunkelbraunen Augen und dunklen Haaren, die ihr in Simpelfransen über die Stirn fielen. Matilda mochte sie gern, weil sie Schwung und Mut besaß und Abenteuer liebte. Und genau aus denselben Gründen mochte Lavendel Matilda.
Schon in der ersten Woche ihrer Schulzeit begannen sich bei den Abc-Schützen gräßliche Geschichten über Fräulein Knüppelkuh, die Direktorin, zu verbreiten. Als Matilda und Lavendel am dritten Tag in der kleinen Pause in einem Winkel des Schulhofs standen, näherte sich ihnen eine schlampige Zehnjährige, die Hortensia hieß und einen Pickel auf der Nase hatte. «Neuer Nachschub, was?» bemerkte Hortensia und schaute von ihrer großen Höhe zu ihnen hinab. Sie schüttelte eine extragroße Tüte Kartoffelchips und stopfte sich das Zeugs mit vollen Händen in den Mund. «Willkommen in der Besserungsanstalt für jugendliche Schwerverbrecher», setzte sie hinzu, und dabei stoben die Krümel wie Schneegestöber aus ihrem Mund.
Die beiden Kleinen wahrten im Angesicht dieser Riesin ein wachsames Schweigen.
«Seid ihr schon an die Knüppelkuh geraten?» fragte Hortensia.
«Wir haben sie beim Morgengebet gesehen», antwortete Lavendel, «aber getroffen haben wir sie noch nicht.»
«Na, da habt ihr ja noch was Schönes vor euch», sagte Hortensia. «Kleine Kinder kann sie nicht ausstehen. Deshalb findet sie die erste Klasse zum Kotzen. Sie findet, Fünfjährige sind Maden oder Raupen, die noch nicht ausgeschlüpft sind.» Rein mit der nächsten Hand Kartoffelchips und, als sie den Mund wieder aufklappte, raus das nächste Krümelgestöber. «Wenn ihr das erste Jahr hier überlebt, dann schafft ihr’s vielleicht grade, euch durch den Rest eurer Zeit hier durchzumogeln. Aber viele überleben erst gar nicht. Sie werden auf Bahren rausgetragen, heulend und schreiend. Hab ich oft gesehen.» Hortensia hielt inne, um zu überprüfen, wie diese Bemerkungen auf die beiden Fliegengewichte wirkten. Sie kamen ihr ziemlich ungerührt vor. Also beschloß die Große, sie mit weiteren Informationen zu füttern.
«Wahrscheinlich wißt ihr ja, daß die Knüppelkuh in ihrer Wohnung einen verschlossenen Schrank hat, den man den Luftabschneider nennt. Habt ihr schon vom Luftabschneider gehört?»
Matilda und Lavendel schüttelten den Kopf und starrten unverwandt zu der Riesin empor. Weil sie so klein waren, neigten sie dazu, allen Geschöpfen zu mißtrauen, die sie überragten, vor allem älteren Schulmädchen.
«Der Luftabschneider», fuhr Hortensia fort, «ist ein sehr hoher, aber ganz schmaler Schrank. Der Boden ist knapp einen halben Meter breit, man kann sich also nicht hinsetzen und hinhocken auch nicht. Man muß stehen. Und drei von den Wänden sind aus Zement mit lauter Glasscherben, die überall rausragen, man kann sich also nicht anlehnen. Wenn man da eingesperrt wird, muß man die ganze Zeit stehen, kerzengerade stehen. Das ist fürchterlich.»
«Kann man sich nicht an die Tür lehnen?» fragte Matilda.
«Sei nicht so blöd», sagte Hortensia. «Die Tür ist mit tausend scharfen Nagelspitzen gespickt. Sie sind von draußen durchgehämmert, wahrscheinlich höchstpersönlich von der Knüppelkuh.»
«Bist du da schon mal dringewesen?» fragte Lavendel.
«In der ersten Klasse sechsmal», antwortete Hortensia, «zweimal einen ganzen Tag und die andern Male jedesmal zwei Stunden. Aber zwei Stunden sind schon schlimm genug. Es ist stockfinster, und man muß kerzengerade stehen und darf sich nicht rühren, und wenn man wackelt, zerfleischt man sich entweder an den Glasscherben in den Wänden oder an den Nägeln in der Tür.»
«Warum bist du denn eingesperrt worden?» fragte Matilda. «Was hast du gemacht?»
«Beim erstenmal», erzählte Hortensia, «hab ich eine halbe Dose Ahornsirup auf den Sitz von dem Stuhl gekippt, auf dem die Knüppelkuh beim Morgengebet immer sitzt. Es war wunderbar. Als sie sich auf dem Stuhl niedergelassen hat, da gab’s so ein Quatschen, wie es ein Rhinozeros macht, wenn es mit seinen Füßen in den Uferschlamm des Flusses Limpopo hineinstampft. Aber ihr seid ja zu klein und zu dumm, als daß ihr schon die ‹Geschichten für den allerliebsten Liebling› von Kipling gelesen hättet. Stimmt’s?»
«Ich hab sie gelesen», antwortete Matilda.
«Du bist eine Hochstaplerin», sagte Hortensia freundlich, «du kannst ja noch nicht einmal lesen. Aber was soll’s. Als sich also die Knüppelkuh auf den Ahornsirup setzte, schmatzte der Quatsch ganz wunderbar, und als sie wieder aufsprang, klebte der Stuhl sozusagen am Hosenboden dieser grauenhaften grünen Säcke fest, die sie immer trägt, und stieg mit ihr ein paar Sekunden in die Höhe, bis der zähe Sirup langsam nachgab. Und dann fuhr sie mit den Händen an ihr Hosenhinterteil, und schon hatte sie sich alle beiden Hände mit dem Kleisterzeugs verschmiert. Ihr hättet mal hören sollen, wie sie geheult hat.»
«Aber woher hat sie denn gewußt, daß du das warst?» fragte Lavendel.
«Ein kleiner Mistkerl namens Ole Sumpfblase hat mich verpfiffen», antwortete Hortensia. «Ich hab ihm die Vorderzähne eingeschlagen.»
«Und die Knüppelkuh hat dich für einen ganzen Tag im Luftabschneider eingesperrt?» fragte Matilda mit großen Augen.
«Den ganzen Tag lang», entgegnete Hortensia. «Ich war fix und fertig, als sie mich rausließ. Ich hab wie ein Idiot geröchelt und gesabbert.»
«Und was war das andere, wofür du in den Luftabschneider gesteckt worden bist?» fragte Lavendel.
«Ach, an alles kann ich mich gar nicht erinnern», sagte Hortensia. Sie redete wie ein alter Krieger, der so viele Schlachten geschlagen hat, daß ihm Heldenmut ganz selbstverständlich ist. «Das ist alles so lange her», setzte sie hinzu und warf sich eine neue Ladung Kartoffelchips in den Mund. «Ah ja, eins fällt mir noch ein. Also, da ist folgendes passiert. Ich hab mir genau den Zeitpunkt ausgesucht, wo ich gewußt hab, die Knüppelkuh war weg und aus dem Weg und gab in der sechsten Klasse Unterricht, da hab ich mich also gemeldet und gefragt, ob ich mal austreten darf. Aber statt daß ich dahingegangen bin, hab ich mich ins Zimmer von der Knüppelkuh geschlichen. Dann hab ich gesucht, in rasender Eile, und hab auch die Schublade gefunden, in der sie all ihre Turnhosen aufbewahrt.»