Michel zog seine Turnschuhe aus und krempelte die Jeans bis zu den Knien. »Komm«, sagte er. »Gehn wir ein bisschen ins Wasser. Es ist nicht tief.«
Eva bьckte sich. Ihr Rock war ganz schцn dreckig. Warum waren sie nicht ins Gartencafe gegangen? Sie hatte ja Geld. Oder wirklich an den Fluss, da, wo man in den Anlagen spazieren gehen konnte?
Das Wasser war kalt und gar nicht so schmutzig.
»Zieh doch deinen Rock aus, dann kannst du besser laufen«, sagte Michel. Eva schьttelte wild den Kopf, zerrte den Rock ein bisschen hцher, nicht viel, nur ein bisschen ьber die Knie.
»Hier ist doch niemand«, rief Michel. Er stand am Rand, zog seine Jeans und das Hemd aus. Er trug eine Badehose darunter, schwarz wie sein Hemd.
Niemand? Hier ist niemand?, dachte Eva. Glaubt er im Ernst, ich wьrde hier in Unterhosen rumlaufen? Wenn er dabei ist? Wenn ich doch wenigstens die schwarze Trikothose anhдtte! Aber die weiЯe mit den rosa Blьmchen, unmцglich!
Michel saЯ am Rand und buddelte mit den Hдnden ein Loch. »So haben wir das frьher immer gemacht. Schau! Das wird der Ozean.« Mit dem Finger zog er eine Rinne vom Wasserrand zu der Vertiefung. »Und das hier ist ein Fluss. Der fьllt jetzt das Meer.«
Eva hдufte Erde an das Ufer. »Und das ist ein Berg.« Sie pflьckte Grдser und Zweige und steckte sie in den Berg. »Bдume.«
Michel lachte. Er begann, mit flachen Kieselsteinen einen Weg anzulegen, einen gewundenen Weg den Berg hinauf. »Und oben, ganz oben, mьsste ein Haus stehen. Dann kцnnte man abends den Mond ьber dem Meer sehen. Hast du das schon mal gesehen?«
»Ja«, antwortete Eva. »Wir waren vor zwei Jahren in Italien. In Grado.«
»Ich war schon dreimal in den groЯen Ferien bei meinem Onkel in Hamburg. Er ist mein Patenonkel.«
Sie schwiegen beide. Michel baute auch noch das Steinhaus.
Wie Dampfnudeln sehen meine Knie aus, dachte Eva. Michel hat schцne Beine. Richtig schцne, braune Beine.
Michel sagte: »Komm ein bisschen m den Schatten.«
Hinter den Holunderbьschen, unter dem beiЯenden
Geruch, breitete er sein Hemd auf dem Boden aus, die rechte Seite nach oben. »Hier.«
Sie lagen nebeneinander. Eva lag gern auf dem Rьcken. Sie konnte dann, wenn sie mit ihren Hдnden darьber fuhr, ihre Beckenknochen fьhlen, im Liegen war fast kein Speck darьber, die Haut spannte sich weich ьber dem Knochen. Und ihr Bauch war flach, wenn sie auf dem Rьcken lag.
Michel rьckte nдher. Er legte seine Hand auf ihre Brust.
»Nein«, sagte Eva laut.
Michels Stimme klang anders als vorher. »Sei doch nicht so zickig.«
»Nein«, sagte Eva noch einmal. Sie setzte sich und zerrte ihren Rock ьber die Knie.
»Blцde Kuh«, sagte Michel, sprang auf und lief zum Wasser. Er lieЯ sich ganz hineinfallen, tauchte unter, prustete laut und tauchte wieder unter. Nach einer Weile kam er heraus.
»Ich will gehen.« Eva klopfte an ihrem Rock herum, versuchte, die staubigen Spuren zu verwischen.
Michel zog, nass wie er war, seine Jeans an, schьttelte sein Hemd aus und band es sich um den Bauch. Den Hang hinauf gingen sie ganz schrдg, ganz langsam. Michel zog Eva an der Hand hinter sich her. Oben angekommen, sagte er: »Das mit der blцden Kuh hab ich nicht so gemeint.«
»Ist schon gut.«
Sie gingen nebeneinander her.
»Hast du schon mal einen Freund gehabt?«
»Nein.«
»Ach so.«
»Und du, hast du schon eine Freundin gehabt?«
»Ja. Ich kenne viele Mдdchen. Aber keine wie dich.«
»Wie sind die Mдdchen, die du kennst?«
Michel zuckte mit den Achseln. »Anders halt«, sagte er unbestimmt.
Nach einer Weile hielten sie sich an den Hдnden beim Gehen, sie schauten sich an und lachten. Sie waren schon lдngst an der Endhaltestelle der Linie sieben vorbei.
»Komm, rennen wir ein bisschen«, sagte Michel.
»Ich kann nicht gut rennen«, wehrte Eva ab.
»Du musst ein bisschen abnehmen, dann kannst du auch besser rennen.«
Eva zuckte zusammen, lieЯ aber ihre Hand in seiner.
»Ich habe vier Brьder und drei Schwestern«, sagte Michel.
»Das sind ja acht Kinder! Um Gottes willen!«
»Das sagt jeder, der es hцrt«, sagte Michel. »Als ob das ein Verbrechen wдre.«
»Nein, so nicht. Aber es ist doch selten, dass eine Familie so viele Kinder hat. Wir sind zwei, mein kleiner Bruder und ich.«
»So schlimm ist es auch wieder nicht, acht Kinder. Da, wo ich wohne, haben die meisten Leute mehrere
Kinder. Es gibt sogar eine Familie, die haben zwцlf. Bei uns sind nur noch sechs zu Hause, meine Schwester ist verheiratet und mein Bruder ist bei der Bundeswehr. Es ist also nicht so schlimm. Nur Geld haben wir nicht viel. Also Taschengeld habe ich noch nie bekommen.«
»Macht dir das nichts aus?«
»Doch, natьrlich. Aber ich trage jeden Donnerstag den Stadtanzeiger aus, die Arbeit habe ich von meinem Bruder geerbt, nicht von dem bei der Bundeswehr, von Frank, der ist im ersten Lehrjahr. Dafьr kriege ich immer zwanzig Mark. Morgen habe ich wieder Geld. Gehst du am Samstag mit mir ins Kino?«
»Ja, gern.«
»Morgen kann ich nicht, wegen dem Anzeiger. Hast du am Freitag Zeit?«
Eva schьttelte den Kopf. »Freitags habe ich Klavierstunde. AuЯerdem muss ich zu Hause helfen beim Put-
zen.«
Michel grinste. »Bei uns wird auch freitags geputzt. Und samstags ist schon wieder der grцЯte Verhau.«
Es war spдt geworden. In der StraЯenbahn, diesmal mit Karte und gestempelt, nachdem sie drei Haltestellen weit gelaufen waren, dachte Eva an den Krach, den sie zu Hause bekommen wьrde. Unbehaglich rutschte sie hin und her.
»Musst du pinkeln?«, fragte Michel.
Eva schaute sich erschrocken um. »Nein«, flьsterte sie. »Aber es ist schon gleich halb acht. Ich kriege Krach zu Hause.«
»Mit fьnfzehn noch? Meine Schwester hat mit sechzehn geheiratet.«
»Du kennst meinen Vater nicht«, sagte Eva.
»Sie hat heiraten mьssen«, sagte Michel.
7
Eva цffnete die Wohnungstьr.
»Eva?«, rief die Mutter aus der Kьche.
»Ja.«
Die Mutter kam heraus und trocknete sich die Hдnde an der Schьrze ab. »Da bist du ja endlich. Wo hast du nur so lange gesteckt? Wir haben schon gegessen. Der Papa ist bцse. Du weiЯt doch, dass wir alle um halb sieben da sein sollen.«
»Damit er was zum Kommandieren hat.«
»Sei nicht frech.«
Eva zuckte mit den Schultern, zuckte die Mutter weg, das Nцrgeln, hдtte Watte in den Ohren haben mцgen, nichts mehr hцren, Mutter in der hellblauen Schьrze, mit den Wasserflecken darauf, Mutter, die sie mit groЯen Augen ansah, porzellanblauen, waschblauen, verwaschenen Augen. Michels Schwester hatte mit sechzehn geheiratet. »Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte Eva.
Das sagte sie auch zu ihrem Vater, der schon vor dem Fernsehapparat saЯ, tief in den Sessel gerutscht, die FьЯe auf einem Stuhl, neben sich auf dem Couchtisch Zigaretten und Aschenbecher.
»Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte sie.
Der Vater schaute sie misstrauisch an. »Wo warst du denn?«
»Spazieren am Fluss.«
»Allein?«
Eva zцgerte. »Mit einer Freundin«, sagte sie.
»Das nдchste Mal bist du um sieben zurьck, verstanden?«
Eva biss in einen Apfel. »Ja«, antwortete sie mьrrisch. »Andere aus meiner Klasse dьrfen heimkommen, wann sie wollen.«
»Das kann schon sein. Aber bei uns ist das anders. Ich will nicht, dass du dich abends irgendwo rumtreibst. Solange du zu Hause bist und ich die Verantwortung habe, richtest du dich nach dem, was ich sage.«
Eva biss wieder in den Apfel und lieЯ sich auf den freien Sessel fallen. »Was gibt's im Fernsehen?«
Wetten, dass ...
Eva ging in ihr Zimmer. Sie konnte lange nicht einschlafen an diesem Abend. Es war sehr schwьl.
Am nдchsten Morgen in der Pause sagte Eva zu Fran-ziska: »Das tut mir Leid, das mit dem Englisch-Test gestern.«
»Nicht so schlimm, meine Note kann es nicht versauen.«
»Ich habe es nicht wegen dir nicht weitergegeben.«
»Ich weiЯ.«
»Was weiЯt du?«
»Karola hat gesagt, du wдrst immer noch eifersьchtig, weil Lena ihre Freundin ist.«
Eva taten die Finger weh, so fest presste sie das Buch. »So toll ist sie ja nun auch wieder nicht, dass ich ihr so lange nachweinen wьrde.«
Sie schlug ihr Buch auf und fing an zu lesen. Fran-ziska blieb neben ihr auf dem Sockel des Zaunes sitzen. »Warst du sehr sauer damals?«
War sie sauer gewesen? Nein, nicht sauer. Sauer war nicht das richtige Wort. Enttдuscht war sie gewesen, verletzt, traurig. Eine Art trauriges Staunen hatte sie empfunden, dass es so etwas gab, dass es ihr passieren musste, dass sie plцtzlich dastand mit ihren Gefьhlen fьr Karola und dass Karola diese Gefьhle nicht mehr brauchte. Nein, sauer war sie nicht gewesen. Traurig war sie gewesen und es hatte sehr wehgetan.
Aber das ging niemand etwas an, am wenigsten Franziska. Eva merkte, wie ihr die Trдnen in die Augen stiegen. Sie senkte den Kopf. Doch Franziska hatte es schon gesehen. Sie legte ihr den Arm um die Schulter. Am liebsten hдtte Eva den Arm abgeschьttelt, aber sie traute sich nicht. So saЯen sie, bis das Klingelzeichen ertцnte.
An diesem Mittag aЯ Eva Krabbensalat im Park.
Abends, im Bett, dachte Eva wieder daran, an Franzis-kas Arm auf ihrer Schulter, an die Hand, die ihr ьber den Oberarm gestreichelt hatte, sie dachte an Michel, der seine Hand auf ihre Brust gelegt hatte. Sie dachte an Erika und Karola, vor allem an Karola. Und da musste sie wieder weinen. Sie vergrub ihren Kopf in das Kissen und biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu schreien.
Ihr Gesicht im Kissen war heiЯ, sie legte sich auf die Seite, drehte das Kissen, um eine kьhle Stelle fьr ihre heiЯe Backe zu finden.
Ich leide, dachte sie. So ist leiden und eigentlich sollte ich froh sein. Ich habe Michel kennen gelernt und Franziska sitzt neben mir. Warum leide ich? Das andere ist schon so lange her, warum kann ich es nicht vergessen?
Langsam wurden ihre Schluchzer leiser, sanfter, der Druck auf ihrem Bauch lieЯ nach, fast trцstlich war das Weinen jetzt.
Eva schlief ein.
Als sie aufwachte, war es lange nach Mitternacht. Sie knipste die Nachttischlampe an. Sie fьhlte sich verschwitzt und pappig und sehr traurig. Es war immer noch ziemlich heiЯ in ihrem Zimmer. Natьrlich, sie hatte vergessen, das Fenster aufzumachen. Deshalb war es auch so stickig hier. Sie цffnete vorsichtig das Fenster. Es klemmte immer ein bisschen. Sie erschrak bei dem knarzenden Gerдusch, das sehr laut klang in der Stille der Nacht.
Sie atmete tief durch. Die Luft war lau und die Sterne standen sehr hoch am Himmel. Hinter den Dдchern kroch schon der hellgraue Schimmer der Morgendдmmerung.
Was fьr ein Sommer, dachte Eva.
Im Haus gegenьber war noch Licht, im ersten Stock, in der Wohnung der alten Grabers. Sie lebten mit ihrer auch schon дltlichen Tochter zusammen, die man fast nie sah. Morgens huschte sie zur Arbeit und kam gegen fьnf zurьck, mit Einkaufstьten in beiden Hдnden. Die alten Grabers saЯen immer, wenn es das Wetter erlaubte, auf dem Balkon und schauten hinunter auf die StraЯe. Eva war schon oft aufgefallen, dass sie kaum miteinander redeten. Fast unbeweglich saЯen sie da und starrten hinunter. Im letzten Sommer hatte der alte Graber einen Schlaganfall gehabt. Er war vom Notarzt mit Blaulicht und Sirene in die Klinik gefahren worden. Viele Wochen lang saЯ die alte Frau allein auf dem Balkon. Beim Einkaufen, als Eva darauf wartete, dass die Metzgersfrau ihr das Gulasch schnitt, hatte sie eine Frau sagen hцren: »Die Grabers kцnnen froh sein, dass sie eine so gute Tochter haben. Wo gibt es denn so etwas noch, heutzutage!«
Michels Schwester hatte mit sechzehn Jahren heiraten mьssen!
Eva ьberlegte, wer von den Grabers wohl noch wach war um diese Zeit. Die »gute Tochter«? Oder ging es dem alten Graber wieder schlecht? In diesem Moment ging das Licht aus. Wahrscheinlich war nur
einer auf dem Klo gewesen oder hatte sich eine Kleinigkeit zu essen gemacht.
Eva war sehr hungrig. Sie schlich sich in die Kьche. Gerade als sie sich bequem hingesetzt hatte und einen Joghurt lцffelte, ging hinter ihr die Kьchentьr auf. Erschrocken fuhr sie herum. Es war ihre Mutter. Sie sah etwas verquollen aus, blinzelte im hellen Licht und fuhr sich mit dem Handrьcken ьber die Augen.
»Ich habe dich gehцrt, und weil ich nicht schlafen konnte, dachte ich, wir kцnnten vielleicht eine Tasse Tee miteinander trinken.«
Eva nickte. Die Mutter lieЯ den Wasserkessel voll laufen und stellte ihn auf die Herdplatte. »Hast du Hunger? Soll ich dir ein Spiegelei machen?«
»Ja, bitte.«
Die Mutter hantierte schnell und geschickt am Herd. Wie anders sie nachts aussah. So gefдllt sie mir eigentlich viel besser, ьberlegte Eva.
Dann stand der Teller mit dem Spiegelei vor ihr, weiЯ, mit gelbem Dotter, fast orangefarben war der Dotter, die Mutter streute immer noch etwas roten Paprika drauf, »fьr's Auge, das Auge isst mit«, und um den knusprigen Rand herum floss die braune Butter.
»Hier, Eva, nimm noch ein Stьck WeiЯbrot.«
Eva fing an zu essen. Die Mutter stellte noch die Teekanne und zwei Tassen auf den Tisch. Ьber die Gabel mit Ei hinweg, die sie gerade zum Mund fьhrte, lдchelte Eva sie an. Die Mutter lдchelte unsicher zurьck.
Sie saЯen da und schauten sich an. In diesem Moment ging die Tьr auf. Eva drehte sich um. Ihr Vater stand da, mit wirren Haaren, die Schlafanzugjacke war nicht ganz zugeknцpft und lieЯ einen Teil seiner haarigen Brust frei. Eva drehte ihm schnell wieder den Rьcken zu.
»Was macht ihr denn da?«
»Wir konnten nicht schlafen.« Die Mutter schaute zum Vater hin. Ihr Gesicht war ausdruckslos.
»Ist gut«, murmelte der Vater. »Aber komm bald wieder ins Bett.« Die Tьr klappte zu.
Eva wartete eine Weile. Dann sagte sie: »Ich war mit einem Jungen am Fluss.«
»Das habe ich mir gedacht, weil du noch nie so lange weg warst. Ist es ein netter Junge?«
»Ja, er ist sehr nett.«
»Der Papa meint, ich sollte mal mit dir reden, dich vor den Mдnnern warnen.«
»Aufzuklдren brauchst du mich nicht mehr. Ich weiЯ das alles.«
Die Mutter wurde rot. »So habe ich das nicht gemeint. Aber die Jungen sind manchmal aufdringlich, und ein Mдdchen, das was auf sich hдlt...«
»Mama, ich weiЯ, was ich zu tun habe.«
»Na ja«, die Mutter seufzte. »Ich habe ja auch dem Papa gesagt, jeder muss seine Erfahrungen selbst machen. Ich habe auch nicht auf meine Mutter gehцrt, damals, habe ich gesagt.«
Eva lachte. »Ich glaube, du bist mьde. Du fдngst schon an zu reden wie die Oma.«
»Da ist aber was dran, glaub mir das. Ich habe mir auch alles anders vorgestellt.« Die Mutter sah traurig aus.
»Du solltest dir eine Stelle suchen oder sonst irgendwas, damit du mal hier aus dem Haus herauskommst und nicht nur zur Schmidhuber.«
»Und der Haushalt? Du weiЯt doch, wie dein Vater ist.«
»Papa ist nur so, weil du dir alles gefallen lдsst.«
Die Mutter antwortete nicht. Als die Tassen leer waren, rдumte sie den Tisch ab. Eva stand auf. Die Mutter legte den Arm um sie. »Gute Nacht, mein Mдdchen, schlaf gut!«
Eva drьckte sich an sie. Die Mutter streichelte ihr ьber den Rьcken und die Haare.
»Gute Nacht, Mama.«
8
Eva stand im Badezimmer vor dem Spiegel. Zum Glьck gab es in der ganzen Wohnung keinen groЯen Spiegel auЯer dem auf der Innenseite einer Tьr des Schlafzimmerschrankes. Eva ging ganz nah an den Spiegel, so nah, dass sie mit ihrer Nase das Glas berьhrte. Sie starrte sich in die Augen, graugrьn waren ihre Augen, dunkelgrau gesдumte Iris, grьnliche, sternfцrmige Maserung. Ihr wurde schwindelig. Sie trat einen Schritt zurьck und sah wieder ihr Gesicht, umrahmt von Odolflaschen und Zahnbьrsten, rot, blau, grьn und gelb. Mutters Lippenstift lag da. Eva nahm ihn und malte ein groЯes Herz um dieses Gesicht im Spiegel. Sie lachte und beugte sich vor zu diesem Gesicht, das so fremd war und so vertraut. »Du bist gar nicht so ьbel«, sagte sie. Das Gesicht im Spiegel lдchelte. »Du bist Eva«, sagte sie. Das Gesicht im Spiegel formte einen Kussmund. Die Nase war ein bisschen zu lang. »Das ist Evas Nase«, sagte Eva. Sie цffnete ihren Pferdeschwanz, lieЯ die Haare auf die Schultern fallen, lange Haare, lockig, fast kraus. Sie zog sich mit dem Kamm einen Scheitel in der Mitte, kдmmte die Haare mehr nach vorn. So war es richtig. Wьrde es Michel gefallen? Sie schob ihre Lippen etwas vor, warf sie auf, nur ein bisschen, und senkte die Lider. Schцn verrucht sah sie jetzt aus, fast wie eine Schauspielerin in einer Illustrierten. Sie schminkte sich die Lippen. Sie machte es langsam, ganz vorsichtig, und biss dann auf ein Tempotaschentuch, drьckte die Lippen auf dem Papier zusammen, wie sie es bei der Mutter gesehen hatte.