3 «Ach, lassen Sie mich mit meinen Gewändern in Ruh, Lisaweta Iwanowna! Wünschten Sie, dass ich in einer zerrissenen Sammetjacke oder einer rotseidenen Weste umherliefe? Man ist als Künstler innerlich immer Abenteurer genug. Äußerlich soll man sich gut anziehen, zum Teufel, und sich benehmen wie ein anständiger Mensch ... Nein, geladen bin ich nicht», sagte er und sah zu, wie sie auf der Palette eine Mischung bereitete. «Sie hören ja, dass es nur ein Problem und Gegensatz ist, was mir im Sinne liegt und mich bei der Arbeit störte ... Ja, wovon sprachen wir eben? Von Adalbert, dem Novellisten, und was für ein stolzer und fester Mann er ist. 'Der Frühling ist die gräßlichste Jahreszeit', sagte er und ging ins Cafe. Denn man muss wissen, was man will, nicht wahr? Sehen Sie, auch mich macht der Frühling nervös, auch mich setzt die holde Trivialität der Erinnerungen und Empfindungen, die er erweckt, in Verwirrung; nur, dass ich es nicht über mich gewinne, ihn dafür zu schelten und zu verachten; denn die Sache ist die, dass ich mich vor ihm schäme, mich schäme vor seiner reinen Natürlichkeit und seiner siegenden Jugend. Und ich weiß nicht, ob ich Adalbert beneiden oder geringschätzen soll, dafür, dass er nichts davon weiß ...
1 «Man arbeitet schlecht im Frühling, gewiss, und warum? Weil man empfindet (потому что чувствуешь, воспринимаешь). Und weil der ein Stümper (дилетант; Stümper - плохой работник, халтурщик; дилетант) ist, der glaubt, der Schaffende dürfe empfinden (что творящему = творцу можно, позволительно чувствовать). Jeder echte und aufrichtige (искренний, прямой, честный) Künstler lächelt über die Naivität dieses Pfuscher-Irrtums (der Pfuscher - плохой работник, халтурщик; pfuschen - халтурить, вмешиваться в чужие дела; der Irrtum - заблуждение), melancholisch vielleicht, aber er lächelt. Denn das, was man sagt, darf ja niemals die Hauptsache sein, sondern nur das an und für sich gleichgültige Material (сам по себе безразличный материал), aus dem das ästhetische Gebilde (из которого эстетическую картину: «образование, структуру») in spielender und gelassener Überlegenheit (в играющем и спокойном превосходстве = с играющим и спокойным превосходством) zusammenzusetzen ist (нужно сложить, составить). Liegt Ihnen zu viel an dem, was Sie zu sagen haben (если Вас слишком затрагивает, если вам очень важно то, что вы хотите, что вам нужно сказать), schlägt Ihr Herz zu warm dafür, so können Sie eines vollständigen Fiaskos sicher sein (можете быть уверены в полном провале). Sie werden pathetisch, Sie werden sentimental, etwas Schwerfälliges, Täppisch-Ernstes (täppisch - неуклюжий, неловкий), Unbeherrschtes (неуправляемое = нестройное; beherrschen - владеть, управлять), Unironisches, Ungewürztes (пресное: «не приправленное»; würzen - приправлять, сдабривать; das Gewürz - пряность; die Gewürze - приправы), Langweiliges, Banales entsteht unter Ihren Händen, und nichts als Gleichgültigkeit bei den Leuten, nichts als Enttäuschung und Jammer (der Jammer - плач, вопли; беда, горе) bei Ihnen selbst ist das Ende ... Denn so ist es ja, Lisaweta: Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl ist immer banal und unbrauchbar (бесполезно, неприменимо), und künstlerisch sind bloß die Gereiztheiten (а художественны лишь раздражения /чувств, нервов/) und kalten Ekstasen unseres verdorbenen (испорченной), unseres artistischen Nervensystems.
Es ist nötig, dass man irgend etwas Außermenschliches und Unmenschliches sei (нужно обладать какой-то внечеловеческой, нечеловеческой природой), dass man zum Menschlichen in einem seltsam fernen und unbeteiligten Verhältnis stehe (так чтобы стоять по отношению к человеческому в странно удаленном и безучастном состоянии), um imstande und überhaupt versucht zu sein (чтобы быть в состоянии, да и вообще даже просто захотеть: «быть искушаемым»), es zu spielen (его /это человеческое/ сыграть), damit zu spielen, es wirksam und geschmackvoll darzustellen (действенно /чтобы могло воздействовать/ и со вкусом представить = воплотить; wirken - действовать, воздействовать, влиять). Die Begabung für Stil, Form und Ausdruck setzt bereits dies kühle und wählerische Verhältnis zum Menschlichen, ja, eine gewisse menschliche Verarmung und Verödung voraus (voraussetzen -предполагать /что-то в чем-то/, служить предпосылкой; die Verarmung -обеднение; die Verödung - опустошение, опустошенность; öde - пустынный, необитаемый). Denn das gesunde und starke Gefühl, dabei bleibt es (и ничего тут не поделаешь: «при этом и останется»), hat keinen Geschmack. Es ist aus (кончено) mit dem Künstler, sobald er Mensch wird und zu empfinden beginnt.
2 Das wusste Adalbert, und darum begab er sich ins Cafe, in die 'entrückte Sphäre', jawohl!»
1 «Man arbeitet schlecht im Frühling, gewiss, und warum? Weil man empfindet. Und weil der ein Stümper ist, der glaubt, der Schaffende dürfe empfinden. Jeder echte und aufrichtige Künstler lächelt über die Naivität dieses Pfuscher-Irrtums, melancholisch vielleicht, aber er lächelt. Denn das, was man sagt, darf ja niemals die Hauptsache sein, sondern nur das an und für sich gleichgültige Material, aus dem das ästhetische Gebilde in spielender und gelassener Überlegenheit zusammenzusetzen ist. Liegt Ihnen zu viel an dem, was Sie zu sagen haben, schlägt Ihr Herz zu warm dafür, so können Sie eines vollständigen Fiaskos sicher sein. Sie werden pathetisch, Sie werden sentimental, etwas Schwerfälliges, Täppisch-Ernstes, Unbeherrschtes, Unironisches, Ungewürztes, Langweiliges, Banales entsteht unter Ihren Händen, und nichts als Gleichgültigkeit bei den Leuten, nichts als Enttäuschung und Jammer bei Ihnen selbst ist das Ende ... Denn so ist es ja, Lisaweta: Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl ist immer banal und unbrauchbar, und künstlerisch sind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekstasen unseres verdorbenen, unseres artistischen Nervensystems. Es ist nötig, dass man irgend etwas Außermenschliches und Unmenschliches sei, dass man zum Menschlichen in einem seltsam fernen und unbeteiligten Verhältnis stehe, um imstande und überhaupt versucht zu sein, es zu spielen, damit zu spielen, es wirksam und geschmackvoll darzustellen. Die Begabung für Stil, Form und Ausdruck setzt bereits dies kühle und wählerische Verhältnis zum Menschlichen, ja, eine gewisse menschliche Verarmung und Verödung voraus. Denn das gesunde und starke Gefühl, dabei bleibt es, hat keinen Geschmack. Es ist aus mit dem Künstler, sobald er Mensch wird und zu empfinden beginnt.
2 Das wusste Adalbert, und darum begab er sich ins Cafe, in die 'entrückte Sphäre', jawohl!»
1 «Nun, Gott mit ihm, Batuschka», sagte Lisaweta und wusch sich die Hände in einer Blechwanne (в жестяной лоханке; das Blech); «Sie brauchen ihm ja nicht zu folgen.»
2 «Nein, Lisaweta, ich folge ihm nicht, und zwar einzig, weil ich hie und da imstande bin, mich vor dem Frühling meines Künstlertums ein wenig zu schämen (стыдится за свое художничество = за то, что я художник, человек искусства). Sehen Sie, zuweilen erhalte ich Briefe von fremder Hand, Lob- und Dankschreiben (das Lob -хвала, похвала; loben - хвалить) aus meinem Publikum, bewunderungsvolle Zuschriften ergriffener Leute (полные восхищения, восторга письма взволнованных, воодушевленных людей; die Zuschrift - письмо /отклик читателя/). Ich lese diese Zuschriften, und Rührung beschleicht mich (и растроганность проникает, пробирается в меня = бываю невольно тронут; beschleichen - прокрадываться, проникать; охватывать /о чувствах/) angesichts des warmen und unbeholfenen menschlichen Gefühls (пред этим теплым и неловким, беспомощным человеческим чувством), das meine Kunst hier bewirkt hat (вызвало /своим воздействием/), eine Art von Mitleid fasst mich an (охватывает) gegenüber der begeisterten Naivität, die aus den Zeilen spricht (die Zeile - строка), und ich erröte bei dem Gedanken, wie sehr dieser redliche (честный, добросовестный, положительный) Mensch ernüchtert sein müsste (был бы отрезвлен), wenn er je (когда-либо) einen Blick hinter die Kulissen täte, wenn seine Unschuld je begriffe, dass ein rechtschaffener (честный, порядочный), gesunder und anständiger (порядочный) Mensch überhaupt nicht schreibt, mimt (не играет: «не является мимом»), komponiert ... was alles ja nicht hindert, dass ich seine Bewunderung für mein Genie benütze, um mich zu steigern (чтобы поощрять себя: «повышаться») und zu stimulieren, dass ich sie gewaltig ernst nehme (что я их очень даже принимаю всерьез; gewaltig - мощный; die Gewalt -мощь; насилие) und ein Gesicht dazu mache wie ein Affe, der den großen Mann spielt ... Ach, reden Sie mir nicht darein (не спорьте со мной, не возражайте мне),
Lisaweta! Ich sage Ihnen, dass ich es oft sterbensmüde bin, das Menschliche darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben (не участвуя, не имея своей доли, не будучи причастен) ... Ist der Künstler überhaupt ein Mann? Man frage 'das Weib' danach (об этом надо спросить женщину - слово das Weib взято в кавычки, поскольку здесь обыгрывается психологический термин das Weibliche -женственное начало, широко обсуждавшийся в эпоху Т. Манна)! Mir scheint, wir Künstler teilen alle ein wenig das Schicksal jener präparierten päpstlichen Sänger (разделяем судьбу тех препарированных папских певцов = кастратов) ... Wir singen ganz rührend schön. Jedoch -»
3 «Sie sollten sich ein bisschen schämen, Tonio Kröger. Kommen Sie nun zum Tee. Das Wasser wird gleich kochen, und hier sind Papyros. Beim Sopransingen waren Sie stehen geblieben; und fahren Sie da nur fort (fortfahren - продолжать /что-либо делать/). Aber schämen sollten Sie sich. Wenn ich nicht wüsste, mit welch stolzer Leidenschaft Sie Ihrem Berufe ergeben sind (преданы) ...»
1 «Nun, Gott mit ihm, Batuschka», sagte Lisaweta und wusch sich die Hände in einer Blechwanne; «Sie brauchen ihm ja nicht zu folgen.»
2 «Nein, Lisaweta, ich folge ihm nicht, und zwar einzig, weil ich hie und da imstande bin, mich vor dem Frühling meines Künstlertums ein wenig zu schämen. Sehen Sie, zuweilen erhalte ich Briefe von fremder Hand, Lob- und Dankschreiben aus meinem Publikum, bewunderungsvolle Zuschriften ergriffener Leute. Ich lese diese Zuschriften, und Rührung beschleicht mich angesichts des warmen und unbeholfenen menschlichen Gefühls, das meine Kunst hier bewirkt hat, eine Art von Mitleid fasst mich an gegenüber der begeisterten Naivität, die aus den Zeilen spricht, und ich erröte bei dem Gedanken, wie sehr dieser redliche Mensch ernüchtert sein müsste, wenn er je einen Blick hinter die Kulissen täte, wenn seine Unschuld je begriffe, dass ein rechtschaffener, gesunder und anständiger Mensch überhaupt nicht schreibt, mimt, komponiert ... was alles ja nicht hindert, dass ich seine Bewunderung für mein Genie benütze, um mich zu steigern und zu stimulieren, dass ich sie gewaltig ernst nehme und ein Gesicht dazu mache wie ein Affe, der den großen Mann spielt ... Ach, reden Sie mir nicht darein, Lisaweta! Ich sage Ihnen, dass ich es oft sterbensmüde bin, das Menschliche darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben ... Ist der Künstler überhaupt ein Mann? Man frage 'das Weib' danach! Mir scheint, wir Künstler teilen alle ein wenig das Schicksal jener präparierten päpstlichen Sänger ... Wir singen ganz rührend schön. Jedoch -»
3 «Sie sollten sich ein bisschen schämen, Tonio Kröger. Kommen Sie nun zum Tee. Das Wasser wird gleich kochen, und hier sind Papyros. Beim Sopransingen waren Sie stehen geblieben; und fahren Sie da nur fort. Aber schämen sollten Sie sich. Wenn ich nicht wüsste, mit welch stolzer Leidenschaft Sie Ihrem Berufe ergeben sind ... »
1 «Sagen Sie nichts von 'Beruf', Lisaweta Iwanowna! Die Literatur ist überhaupt kein Beruf, sondern ein Fluch (проклятие), - damit's Sie wissen. Wann beginnt er fühlbar zu werden (когда оно начинает чувствоваться: «становиться ощутимым», dieser Fluch? Früh, schrecklich früh. Zu einer Zeit, da man billig noch in Frieden und Eintracht mit Gott und der Welt leben sollte (в пору, когда еще надо бы жить в мире и согласии с Богом и миром; billig - дешевый; разрешено, позволено). Sie fangen an, sich gezeichnet (помеченными, отмеченными), sich in einem rätselhaften Gegensatz (в загадочном противоположении) zu den anderen, den Gewöhnlichen, den Ordentlichen zu fühlen, der Abgrund (бездну) von Ironie, Unglaube, Opposition, Erkenntnis, Gefühl, der Sie von den Menschen trennt, klafft (начинает зиять, разверзаться) tiefer und tiefer, Sie sind einsam, und fortan (впредь) gibt es keine Verständigung mehr (понимание друг друга, согласие). Was für ein Schicksal!
Gesetzt, dass das Herz lebendig genug, liebevoll genug geblieben ist (если, конечно, твое сердце осталось достаточно живым и способным любить; gesetzt = gesetzt den Fall - если, предположим, что ...), es als furchtbar zu empfinden! ... Ihr Selbstbewusstsein entzündet sich (их самосознание, самолюбие воспаляется: «зажигается»), weil Sie unter Tausenden das Zeichen an ihrer Stirne spüren und fühlen, dass es niemandem entgeht (ни от кого не ускользает). Ich kannte einem Schauspieler von Genie (одного гениального актера), der als Mensch mit einer krankhaften Befangenheit und Haltlosigkeit zu kämpfen hatte (которому вне сцены: «в качестве /обыкновенного, как все/ человека» приходилось бороться с болезненной застенчивостью и неустойчивостью в поведении; haltlos - распущенный, морально нестойкий, беспринципный). Sein überreiztes Ich-Gefühl (его сверхучувствительное Я, самоощущение) zusammen mit dem Mangel an Rolle (вместе, наряду с отсутствием роли), an darstellerischer Aufgabe (сценической, творящей: «представляющей» задачи), bewirkten das (вызвали это) bei diesem vollkommenen Künstler und verarmten Menschen (у этого совершенного художника и опустошенного: «обедненного» человека) ... Einen Künstler, einen wirklichen, nicht einen, dessen bürgerlicher Beruf (чья гражданская профессия) die Kunst ist, sondern einen vorbestimmten (предопределенного) und verdammten, ersehen Sie mi geringem Scharfblick aus einer Menschenmasse (вы без труда различите в толпе, для этого не требуется много проницательности; der Scharfblick - зоркость; проницательность; gering - малый, незначительный). Das Gefühl der Separation (чувство отделенности, отчужденности) und Unzugehörigkeit (и неприкаянности: «непринадлежности»), des Erkannt- und Beobachtetseins (того, что тебя узнают и за тобой наблюдают: «узнаваемости и наблюдаемости»), etwas zugleich Königliches und Verlegenes (нечто одновременно царственное и смущенное) ist in seinem Gesicht. In den Zügen eines Fürsten (в чертах = на лице князя), der in Zivil (в партикулярном, гражданском платье) durch die Volksmenge schreitet, kann man etwas Ähnliches beobachten. Aber da hilft kein Zivil, Lisaweta! Verkleiden Sie sich, vermummen Sie sich, ziehen Sie sich an wie ein Attache oder ein Gardeleutnant in Urlaub: Sie werden kaum die Augen aufzuschlagen und ein Wort zu sprechen brauchen, und jedermann wird wissen, dass Sie kein Mensch sind, sondern irgend etwas Fremdes, Befremdendes, Anderes ...
1 «Sagen Sie nichts von 'Beruf', Lisaweta Iwanowna! Die Literatur ist überhaupt kein Beruf, sondern ein Fluch, - damit's Sie wissen. Wann beginnt er fühlbar zu werden, dieser Fluch? Früh, schrecklich früh. Zu einer Zeit, da man billig noch in Frieden und Eintracht mit Gott und der Welt leben sollte. Sie fangen an, sich gezeichnet, sich in einem rätselhaften Gegensatz zu den anderen, den Gewöhnlichen, den Ordentlichen zu fühlen, der Abgrund von Ironie, Unglaube, Opposition, Erkenntnis, Gefühl, der Sie von den Menschen trennt, klafft tiefer und tiefer, Sie sind einsam, und fortan gibt es keine Verständigung mehr. Was für ein Schicksal! Gesetzt, dass das Herz lebendig genug, liebevoll genug geblieben ist, es als furchtbar zu empfinden! ... Ihr Selbstbewusstsein entzündet sich, weil Sie unter Tausenden das Zeichen an ihrer Stirne spüren und fühlen, dass es niemandem entgeht. Ich kannte einem Schauspieler von Genie, der als Mensch mit einer krankhaften Befangenheit und Haltlosigkeit zu kämpfen hatte. Sein überreiztes Ich-Gefühl zusammen mit dem Mangel an Rolle, an darstellerischer Aufgabe, bewirkten das bei diesem vollkommenen Künstler und verarmten Menschen ... Einen Künstler, einen wirklichen, nicht einen, dessen bürgerlicher Beruf die Kunst ist, sondern einen vorbestimmten und verdammten, ersehen Sie mit geringem Scharfblick aus einer Menschenmasse. Das Gefühl der Separation und Unzugehörigkeit, des Erkannt- und Beobachtetseins, etwas zugleich Königliches und Verlegenes ist in seinem Gesicht. In den Zügen eines Fürsten, der in Zivil durch die Volksmenge schreitet, kann man etwas Ähnliches beobachten. Aber da hilft kein Zivil, Lisaweta! Verkleiden Sie sich, vermummen Sie sich, ziehen Sie sich an wie ein Attache oder ein Gardeleutnant in Urlaub: Sie werden kaum die Augen aufzuschlagen und ein Wort zu sprechen brauchen, und jedermann wird wissen, dass Sie kein Mensch sind, sondern irgend etwas Fremdes, Befremdendes, Anderes ...
1 Aber was ist der Künstler? Vor keiner Frage hat die Bequemlichkeit (удобство = стремление к удобству) und Erkenntnisträgheit (лень к познанию; träge - ленивый, вялый) der Menschheit sich zäher erwiesen (показало себя жестче, оказалось жестче = непробиваемей) als vor dieser. 'Dergleichen ist Gabe (подобное есть дар = это особый дар)', sagen demütig (смиренно; die Demut - смирение, покорность /высок./) die braven Leute, die unter der Wirkung eines Künstlers stehen, und weil heitere (веселые, бодрящие) und erhabene Wirkungen (и возвышенные воздействия) nach ihrer gutmütigen Meinung ganz unbedingt auch heitere und erhabene Ursprünge (источники, причины) haben müssen, so argwöhnt niemand (то никто и не подозревает; argwöhnen - подозревать, предчувствовать недоброе /высок./), dass es sich hier vielleicht um eine äußerst schlimm bedingte (обусловленном), äußerst fragwürdige (сомнительном) 'Gabe' handelt ... Man weiß, dass Künstler leicht verletzlich (легко уязвимы, обидчивы; verletzen - повредить, поранить; обидеть, задеть) sind, - nun, man weiß auch, dass dies bei Leuten mit gutem Gewissen (с чистой совестью) und solid gegründetem Selbstgefühl (с хорошо обоснованным чувством собственного достоинства) nicht zuzutreffen pflegt (обычно не попадается, не встречается) ... Sehen Sie, Lisaweta, ich hege auf dem Grunde meiner Seele - ins Geistige übertragen ( перенесенное в духовное , в область духовного) - gegen den Typus des Künstlers den ganzen Verdacht (подозрение; Verdacht hegen - питать подозрение; hegen - охранять, сберегать), den jeder meiner ehrenfesten Vorfahren (каждый из моих почтенных предков) droben (там, на севере: «наверху») in der engen Stadt irgendeinem Gaukler und abenteuernden Artisten entgegengebracht hätte (проявил бы по отношению к какому-нибудь фокуснику или странствующему актеру; entgegenbringen - проявлять какие-либо чувства /по отношению к кому-либо/, относиться; der Gaukler - фокусник, актер, фигляр /устар. высок./; шарлатан), der in sein Haus gekommen wäre.
Hören Sie Folgendes. Ich kenne einen Bankier, einen ergrauten (седовласого, поседевшего) Geschäftsmann, der die Gabe besitzt, Novellen zu schreiben. Er macht von dieser Gabe in seinen Mußestunden Gebrauch (он использует этот дар в часы своего досуга), und seine Arbeiten sind manchmal ganz ausgezeichnet. Trotz - ich sage 'trotz' - dieser sublimen Veranlagung (несмотря на эту возвышенную склонность) ist dieser Mann nicht völlig unbescholten (безупречен; schelten -порицать, бранить); er hat im Gegenteil bereits eine schwere Freiheitsstrafe zu verbüßen gehabt (ему пришлось отбыть наказание в тюрьме), und zwar aus triftigen Gründen (и по веским причинам; triftig - убедительный, основательный, уважительный). Ja, es geschah ganz eigentlich erst in der Strafanstalt (в тюрьме; die Anstalt - учреждение, заведение), dass er seiner Begabung inne wurde (открыл в себе свою одаренность; innewerden - понимать, замечать, осознавать /высок./), und seine Sträflingserfahrungen (опыт заключенного) bilden das Grundmotiv in allen seinen Produktionen. Man könnte daraus, mit einiger Keckheit, folgern (сделать смелый вывод; keck - дерзкий, смелый, лихой), dass es nötig sei, in irgendeiner Art von Strafanstalt zu Hause zu sein, um zum Dichter zu werden. Aber drängt sich nicht der Verdacht auf (но разве тут же не возникает подозрение; aufdrängen -навязывать /против воли/; sich aufdrängen - навязываться, набиваться), dass seine Erlebnisse im Zuchthause (что его переживания, впечатления в /каторжной/ тюрьме; die Zucht - дисциплина, повиновение) weniger innig mit den Wurzeln und Ursprüngen seiner Künstlerschaft verwachsen gewesen sein möchten (пожалуй, менее глубоко: «внутренне» с корнями и истоками его художества, творчества срослись) als das, was ihn hineinbrachte (чем то, что его туда /в тюрьму/ привело) -? Ein Bankier, der Novellen dichtet, das ist eine Rarität (редкость, раритет), nicht wahr? Aber ein nicht krimineller, ein unbescholtener und solider Bankier, welcher Novellen dichtet, - das kommt nicht vor (не бывает, не случается) ... Ja, da lachen Sie nun, und dennoch scherze ich halb und halb (только наполовину, фифти-фифти).
Kein Problem, keines in der Welt, ist quälender als das vom Künstlertum (der Künstlertum - художество, творчество) und seiner menschlichen Wirkung (воздействие). Nehmen Sie das wunderartigste Gebilde des typischsten und darum mächtigsten (и потому наиболее мощного = действенного) Künstlers, nehmen Sie ein so morbides (болезненное: morbid) und tief zweideutiges Werk (двусмысленное произведение; deuten - толковать) wie 'Tristan und Isolde' (опера, «вокальносимфоническая поэма» Рихарда Вагнера (1813-83), на концепцию которой повлияло увлечение философией А.Шопенгауэра. Это произведение (созданное в 1859 году) символизировало рождение позднеромантического стиля, для которого характерный повышенная экспрессия выражения, хроматизированная гармония. Р. Вагнер оказал большое влияние на Томаса Манна, в том числе и композиционно /построение произведений с использованием лейтмотива/) und beobachten Sie die Wirkung, die dieses Werk auf einen jungen, gesunden, stark normal empfindenden Menschen ausübt (какое воздействие оказывает). Sie sehen Gehobenheit (приподнятость, приподнятое состояние духа; heben /hob, gehoben/-поднимать), Gestärkheit (прилив сил: «усиленность»), warme, rechtschaffene Begeisterung (искренний восторг), Angeregtheit vielleicht zu eigenem 'künstlerischen' Schaffen (возможно даже, побуждение: «побужденность» /они становятся побуждены/ к собственному «художественному» творчеству; anregen -побуждать, стимулировать; die Anregung - побуждение) ... Der gute Dilettant! In uns Künstlern sieht es gründlich anders aus, als er mit seinem 'warmen Herzen' und 'ehrlichen Enthusiasmus' sich träumen mag. Ich habe Künstler von Frauen und Jünglingen umschwärmt und umjubelt gesehen (окруженных восторженным поклонением женщин и юношей; umschwärmen - летать роем, стаей /возле чего-либо/; увиваться; der Schwarm - рой; стая; jubeln - ликовать, радоваться, бурно выражать свое одобрение), während ich über sie wusste ... Man macht, was die Herkunft (происхождение), die Miterscheinungen (сопутствующие явления) und Bedingungen (условия) des Künstlertums betrifft, immer wieder die merkwürdigsten Erfahrungen ...»
2 «An anderen (в других /вы делаете эти открытия/), Tonio Kröger - verzeihen Sie -oder nicht nur an anderen?»
3 Er schwieg. Er zog seine schrägen Brauen zusammen (нахмурил свои косые брови) und pfiff vor sich hin.
4 «Ich bitte um Ihre Tasse, Tonio. Er ist nicht stark. Und nehmen Sie eine neue Zigarette. Übrigens wissen Sie sehr wohl, dass Sie die Dinge ansehen, wie sie nicht notwendig angesehen zu werden brauchen (вы смотрите на вещи так, как совсем не обязательно на них смотреть; notwendig - необходимо) ...»
1 Aber was ist der Künstler? Vor keiner Frage hat die Bequemlichkeit und Erkenntnisträgheit der Menschheit sich zäher erwiesen als vor dieser. 'Dergleichen ist Gabe', sagen demütig die braven Leute, die unter der Wirkung eines Künstlers stehen, und weil heitere und erhabene Wirkungen nach ihrer gutmütigen Meinung ganz unbedingt auch heitere und erhabene Ursprünge haben müssen, so argwöhnt niemand, dass es sich hier vielleicht um eine äußerst schlimm bedingte, äußerst fragwürdige 'Gabe' handelt ... Man weiß, dass Künstler leicht verletzlich sind, - nun, man weiß auch, dass dies bei Leuten mit gutem Gewissen und solid gegründetem Selbstgefühl nicht zuzutreffen pflegt ... Sehen Sie, Lisaweta, ich hege auf dem Grunde meiner Seele - ins Geistige übertragen - gegen den Typus des Künstlers den ganzen Verdacht, den jeder meiner ehrenfesten Vorfahren droben in der engen Stadt irgendeinem Gaukler und abenteuernden Artisten entgegengebracht hätte, der in sein Haus gekommen wäre. Hören Sie Folgendes. Ich kenne einen Bankier, einen ergrauten Geschäftsmann, der die Gabe besitzt, Novellen zu schreiben. Er macht von dieser Gabe in seinen Mußestunden Gebrauch, und seine Arbeiten sind manchmal ganz ausgezeichnet. Trotz - ich sage 'trotz' - dieser sublimen Veranlagung ist dieser Mann nicht völlig unbescholten; er hat im Gegenteil bereits eine schwere Freiheitsstrafe zu verbüßen gehabt, und zwar aus triftigen Gründen. Ja, es geschah ganz eigentlich erst in der Strafanstalt, dass er seiner Begabung inne wurde, und seine Sträflingserfahrungen bilden das Grundmotiv in allen seinen Produktionen. Man könnte daraus, mit einiger Keckheit, folgern, dass es nötig sei, in irgendeiner Art von Strafanstalt zu Hause zu sein, um zum Dichter zu werden. Aber drängt sich nicht der Verdacht auf, dass seine Erlebnisse im Zuchthause weniger innig mit den Wurzeln und Ursprüngen seiner Künstlerschaft verwachsen gewesen sein möchten als das, was ihn hineinbrachte -? Ein Bankier, der Novellen dichtet, das ist eine Rarität, nicht wahr? Aber ein nicht krimineller, ein unbescholtener und solider Bankier, welcher Novellen dichtet, -das kommt nicht vor ... Ja, da lachen Sie nun, und dennoch scherze ich halb und halb. Kein Problem, keines in der Welt, ist quälender als das vom Künstlertum und seiner menschlichen Wirkung. Nehmen Sie das wunderartigste Gebilde des typischsten und darum mächtigsten Künstlers, nehmen Sie ein so morbides und tief zweideutiges Werk wie 'Tristan und Isolde' und beobachten Sie die Wirkung, die dieses Werk auf einen jungen, gesunden, stark normal empfindenden Menschen ausübt. Sie sehen Gehobenheit, Gestärkheit, warme, rechtschaffene Begeisterung, Angeregtheit vielleicht zu eigenem 'künstlerischen' Schaffen ... Der gute Dilettant! In uns Künstlern sieht es gründlich anders aus, als er mit seinem 'warmen Herzen' und 'ehrlichen Enthusiasmus' sich träumen mag. Ich habe Künstler von Frauen und Jünglingen umschwärmt und umjubelt gesehen, während ich über sie wusste ... Man macht, was die Herkunft, die Miterscheinungen und Bedingungen des Künstlertums betrifft, immer wieder die merkwürdigsten Erfahrungen ...»
2 «An anderen, Tonio Kröger - verzeihen Sie - oder nicht nur an anderen?»
3 Er schwieg. Er zog seine schrägen Brauen zusammen und pfiff vor sich hin.
4 «Ich bitte um Ihre Tasse, Tonio. Er ist nicht stark. Und nehmen Sie eine neue Zigarette. Übrigens wissen Sie sehr wohl, dass Sie die Dinge ansehen, wie sie nicht notwendig angesehen zu werden brauchen ...»
1 «Das ist die Antwort des Horatio (ответ Горацио), liebe Lisaweta. 'Die Dinge so betrachten, hieße, sie zu genau betrachten', nicht wahr?»
2 «Ich sage, dass man sie ebenso genau von einer anderen Seite betrachten kann, Tonio Kröger. Ich bin bloß ein dummes malendes Frauenzimmer (баба), und wenn ich Ihnen überhaupt etwas zu erwidern weiß (могу что-то возразить), wenn ich Ihren eigenen Beruf ein wenig gegen Sie in Schutz nehmen (защитить, взять под защиту; der Schutz) kann, so ist es sicherlich nichts Neues, was ich vorbringe (высказываю), sondern nur eine Mahnung (напоминание) an das, was Sie selbst sehr wohl wissen ... Wie also, Die reinigende, heiligende Wirkung (очищающее, освящающее воздействие) der Literatur, die Zerstörung der Leidenschaften durch die Erkenntnis und das Wort (разрушение страстей посредством познания и слова), die Literatur als Weg zum Verstehen, zum Vergeben (ко всепрощению; vergeben - прощать) und zur Liebe, die erlösende Macht der Sprache (спасительная власть языка; erlösen -спасать, выручать), der literarische Geist als die edelste Erscheinung des Menschengeistes überhaupt (благороднейшее проявление человеческого духа вообще), der Literat als vollkommener (совершенный) Mensch, als Heiliger (святой), -die Dinge so betrachten, hieße, sie nicht genau genug betrachten?»
3 «Sie haben ein Recht, so zu sprechen, Lisaweta Iwanowna, und zwar im Hinblick auf das Werk Ihrer Dichter (а именно применительно к творениям ваших писателей; im Hinblick auf - принимая во внимание /что-либо/, применительно /к чему-либо/), auf die anbetungswürdige (достойную поклонения; etwas anbeten - поклоняться чему-либо) russische Literatur, die so recht eigentlich die heilige Literatur darstellt (которая как раз: «так поистине собственно» и представляет ту святую литературу), von der Sie reden. Aber ich habe Ihre Einwände (ваши возражения; der Einwand) nicht außer Acht gelassen (оставил без внимания, упустил из виду), sondern sie gehören mit zu dem (они также относятся к тому, являются частью того), was mir heute im Sinne liegt (о чем я сегодня неотвязно думаю, что у меня на уме) ... Sehen Sie mich an. Ich sehe nicht übermäßig munter aus, wie (я выгляжу не слишком бодро, не так ли)? Ein bisschen alt und scharfzügig und müde, nicht wahr?
Nun, um auf die 'Erkenntnis' zurückzukommen, so ließe sich ein Mensch denken (так можно представить человека = так выглядел бы тот), der, von Hause aus gutgläubig (от природы доверчивый), sanftmütig (мягкосердечный), wohlmeinend (благожелательный) und ein wenig sentimental, durch die psychologische Hellsicht ganz einfach aufgerieben und zugrunde gerichtet würde (был бы просто-напросто истерт = изношен и уничтожен психологической прозорливостью, ясновидением; aufreiben - натирать /до мелких частей/; стирать /кожу до крови/; изнурять, изматывать). Sich von der Traurigkeit der Welt nicht übermannen (одолеть) lassen; beobachten, merken, einfügen (включать, вставлять /в картину мира/ = оправдывать, примирять), auch das Quälendste, und übrigens guter Dinge sein (быть в хорошем настроении, сохранять бодрость духа), schon im Vollgefühl der sittlichen Überlegenheit (в полном сознании: «в чувстве» нравственного превосходства) über die abscheuliche Erfindung des Seins (над ужасным изобретением бытия = над этим ужасным изобретением - бытием), - ja, freilich (конечно, пожалуй)! Jedoch zuweilen wächst Ihnen die Sache trotz aller Vergnügungen des Ausdrucks ein wenig über den Kopf (однако иногда становится невмоготу, несмотря на все радости выражения). Alles verstehen hieße alles verzeihen (все понять - значит все простить)? Ich weiß doch nicht. Es gibt etwas, was ich Erkenntnisekel (познавательной брезгливостью) nenne, Lisaweta: Der Zustand (состояние), in dem es dem Menschen genügt, eine Sache zu durchschauen, um sich bereits zum Sterben angewidert (und durchaus nicht versöhnlich gestimmt) zu fühlen (чтобы почувствовать смертельное отвращение; anwidern - быть противным, внушать отвращение), - der Fall Hamlets, des Dänen, dieses typischen Literaten. Er wusste, was das ist: zum Wissen berufen werden, ohne dazu geboren zu sein. Hellsehen noch durch den Tränenschleier des Gefühls hindurch (сквозь слезный туман чувства; der Schleier - покрывало; туман), erkennen, merken, beobachten und das Beobachtete lächelnd beiseite legen müssen noch in Augenblicken, wo Hände sich umschlingen (сплетаются, охватывают друг друга), Lippen sich finden, wo des Menschen Blick, erblindet von Empfindung, sich bricht (помрачается), - es ist infam (подло, бесчестно), Lisaweta, es ist niederträchtig (низко, гнусно), empörend (возмутительно) ... aber was hilft es, sich zu empören?
1 «Das ist die Antwort des Horatio, liebe Lisaweta. 'Die Dinge so betrachten, hieße, sie zu genau betrachten', nicht wahr?»
2 «Ich sage, dass man sie ebenso genau von einer anderen Seite betrachten kann, Tonio Kröger. Ich bin bloß ein dummes malendes Frauenzimmer, und wenn ich Ihnen überhaupt etwas zu erwidern weiß, wenn ich Ihren eigenen Beruf ein wenig gegen Sie in Schutz nehmen kann, so ist es sicherlich nichts Neues, was ich vorbringe, sondern nur eine Mahnung an das, was Sie selbst sehr wohl wissen ... Wie also, Die reinigende, heiligende Wirkung der Literatur, die Zerstörung der Leidenschaften durch die Erkenntnis und das Wort, die Literatur als Weg zum Verstehen, zum Vergeben und zur Liebe, die erlösende Macht der Sprache, der literarische Geist als die edelste Erscheinung des Menschengeistes überhaupt, der Literat als vollkommener Mensch, als Heiliger, - die Dinge so betrachten, hieße, sie nicht genau genug betrachten?»
3 «Sie haben ein Recht, so zu sprechen, Lisaweta Iwanowna, und zwar im Hinblick auf das Werk Ihrer Dichter, auf die anbetungswürdige russische Literatur, die so recht eigentlich die heilige Literatur darstellt, von der Sie reden. Aber ich habe Ihre Einwände nicht außer Acht gelassen, sondern sie gehören mit zu dem, was mir heute im Sinne liegt ... Sehen Sie mich an. Ich sehe nicht übermäßig munter aus, wie? Ein bisschen alt und scharfzügig und müde, nicht wahr? Nun, um auf die 'Erkenntnis' zurückzukommen, so ließe sich ein Mensch denken, der, von Hause aus gutgläubig, sanftmütig, wohlmeinend und ein wenig sentimental, durch die psychologische Hellsicht ganz einfach aufgerieben und zugrunde gerichtet würde. Sich von der Traurigkeit der Welt nicht übermannen lassen; beobachten, merken, einfügen, auch das Quälendste, und übrigens guter Dinge sein, schon im Vollgefühl der sittlichen Überlegenheit über die abscheuliche Erfindung des Seins, - ja, freilich! Jedoch zuweilen wächst Ihnen die Sache trotz aller Vergnügungen des Ausdrucks ein wenig über den Kopf.
Alles verstehen hieße alles verzeihen? Ich weiß doch nicht. Es gibt etwas, was ich Erkenntnisekel nenne, Lisaweta: Der Zustand, in dem es dem Menschen genügt, eine Sache zu durchschauen, um sich bereits zum Sterben angewidert (und durchaus nicht versöhnlich gestimmt) zu fühlen, - der Fall Hamlets, des Dänen, dieses typischen Literaten. Er wusste, was das ist: zum Wissen berufen werden, ohne dazu geboren zu sein. Hellsehen noch durch den Tränenschleier des Gefühls hindurch, erkennen, merken, beobachten und das Beobachtete lächelnd beiseite legen müssen noch in Augenblicken, wo Hände sich umschlingen,
Lippen sich finden, wo des Menschen Blick, erblindet von Empfindung, sich bricht, - es ist infam, Lisaweta, es ist niederträchtig, empörend ... aber was hilft es, sich zu empören?
1 «Eine andere, aber nicht minder liebenswürdige Seite der Sache ist dann freilich die Blasiertheit (пресыщенность), Gleichgültigkeit und ironische Müdigkeit aller Wahrheit gegenüber, wie es denn Tatsache ist, dass es nirgends in der Welt stummer und hoffnungsloser zugeht (нигде в мире не царит более немая и безнадежная атмосфера; zugehen - происходить /как-либо/) als in einem Kreise von geistreichen Leuten (умных, остроумных, одухотворенных людей), die bereits mit allen Hunden gehetzt sind (которые прошли уже огонь и воду: «были уже травлены всеми собаками»). Alle Erkenntnis ist alt und langweilig (всякое познание, все познанное старо и скучно). Sprechen Sie eine Wahrheit aus, an deren Eroberung (от овладения которой) und Besitz Sie vielleicht eine gewisse jugendliche Freude haben, und man wird Ihre ordinäre Aufgeklärtheit (ваше заурядное открытие: «просвещенность» = ваше открытие того, что давно всем известно) mit einem ganz kurzen Entlassen der Luft durch die Nase beantworten ... Ach ja, die Literatur macht müde, Lisaweta! In menschlicher Gesellschaft kann es einem, ich versichere Sie, geschehen, dass man vor lauter Skepsis und Meinungsenthaltsamkeit für dumm gehalten wird (с вами может случиться так, что лишь из-за скептицизма и сдержанности в суждениях вас будут считать глупым; sich enthalten - воздерживаться; enthaltsam -умеренный, воздержанный), während man doch nur hochmütig (горд) und mutlos (малодушен = непредприимчив, пассивен) ist ... Dies zur 'Erkenntnis'. Was aber das 'Wort' betrifft, so handelt es sich da vielleicht weniger um eine Erlösung (дело тут не в спасении, освобождении) als um ein Kaltstellen und Aufs-Eis-Legen der Empfindung (замораживании чувства; kaltstellen - лишить влияния, отстранить от дел; etwas aufs Eis legen - заморозить /реформу, проект/)? Im Ernst (и действительно, говоря серьезно), es hat eine eisige und empörend anmaßliche Bewandtnis (есть нечто холодное и нестерпимо дерзкое) mit dieser prompten und oberflächlichen Erledigung des Gefühls durch die literarische Sprache (в этой быстрой и поверхностной расправе с чувством посредством литературного языка; erledigen -уладить, закончить; разделаться, убить, прикончить - здесь работают оба значения). Ist Ihnen das Herz zu voll, fühlen Sie sich von einem süßen oder erhabenen Erlebnis allzusehr ergriffen (чувствуете ли себя охваченным каким-либо сладостным или возвышенным впечатлением, переживанием): nichts einfacher! Sie gehen zum Literaten, und alles wird in kürzester Frist geregelt sein (и все будет в кратчайший срок улажено). Er wird Ihnen Ihre Angelegenheit (ваше дело, ваш случай) analysieren und formulieren, bei Namen nennen, aussprechen und zum Reden bringen (выскажет), wird Ihnen das Ganze für alle Zeit erledigen (навсегда уладит, закончит) und gleichgültig machen und keinen Dank dafür nehmen. Sie aber werden erleichtert, gekühlt und geklärt nach Hause gehen und sich wundern, was an der Sache Sie eigentlich soeben noch mit so süßem Tumult (der Tumult - суматоха, сумятица) verstören konnte. Und für diesen kalten und eitlen Charlatan wollen Sie ernstlich eintreten (вступиться)? Was ausgesprochen ist, so lautet sein Glaubensbekenntnis (символ веры, кредо), ist erledigt. Ist die ganze Welt ausgesprochen, so ist sie erledigt, erlöst, abgetan (abtun - снимать, сбрасывать; покончить, разделаться)
... Sehr gut! Jedoch ich bin kein Nihilist ...»
2 «Sie sind kein -» sagte Lisaweta ... Sie hielt gerade ihr Löffelchen mit Tee in der Nähe des Mundes und erstarrte in dieser Haltung (застыла в этой позе).
3 «Nun ja ... nun ja ... kommen Sie zu sich (очнитесь, придите в себя), Lisaweta! Ich bin es nicht, sage ich Ihnen, in Bezug auf das lebendige Gefühl (там где речь идет о живом чувстве: «в отношении живого чувства»). Sehen Sie, der Literat begreift im Grunde nicht, dass das Leben noch fortfahren mag, zu leben, dass es sich dessen nicht schämt, nachdem es doch ausgesprochen und 'erledigt' ist. Aber siehe da, es sündigt trotz aller Erlösung durch die Literatur unentwegt darauf los (она /жизнь/ продолжает грешить по-старому: «в том же направлении, вперед», несмотря на все свое преображение, спасение через литературу, литературой; unentwegt - неуклонно, непрерывно); denn alles Handeln ist Sünde (всякое действие грех) in den Augen des Geistes ...
1 «Eine andere, aber nicht minder liebenswürdige Seite der Sache ist dann freilich die Blasiertheit, Gleichgültigkeit und ironische Müdigkeit aller Wahrheit gegenüber, wie es denn Tatsache ist, dass es nirgends in der Welt stummer und hoffnungsloser zugeht als in einem Kreise von geistreichen Leuten, die bereits mit allen Hunden gehetzt sind. Alle Erkenntnis ist alt und langweilig. Sprechen Sie eine Wahrheit aus, an deren Eroberung und Besitz Sie vielleicht eine gewisse jugendliche Freude haben, und man wird Ihre ordinäre Aufgeklärtheit mit einem ganz kurzen Entlassen der Luft durch die Nase beantworten ... Ach ja, die Literatur macht müde, Lisaweta! In menschlicher Gesellschaft kann es einem, ich versichere Sie, geschehen, dass man vor lauter Skepsis und Meinungsenthaltsamkeit für dumm gehalten wird, während man doch nur hochmütig und mutlos ist ... Dies zur 'Erkenntnis'. Was aber das 'Wort' betrifft, so handelt es sich da vielleicht weniger um eine Erlösung als um ein Kaltstellen und Aufs-Eis-Legen der Empfindung? Im Ernst, es hat eine eisige und empörend anmaßliche Bewandtnis mit dieser prompten und oberflächlichen Erledigung des Gefühls durch die literarische Sprache. Ist Ihnen das Herz zu voll, fühlen Sie sich von einem süßen oder erhabenen Erlebnis allzusehr ergriffen: nichts einfacher! Sie gehen zum Literaten, und alles wird in kürzester Frist geregelt sein. Er wird Ihnen Ihre Angelegenheit analysieren und formulieren, bei Namen nennen, aussprechen und zum Reden bringen, wird Ihnen das Ganze für alle Zeit erledigen und gleichgültig machen und keinen Dank dafür nehmen. Sie aber werden erleichtert, gekühlt und geklärt nach Hause gehen und sich wundern, was an der Sache Sie eigentlich soeben noch mit so süßem Tumult verstören konnte. Und für diesen kalten und eitlen Charlatan wollen Sie ernstlich eintreten? Was ausgesprochen ist, so lautet sein Glaubensbekenntnis, ist erledigt. Ist die ganze Welt ausgesprochen, so ist sie erledigt, erlöst, abgetan ... Sehr gut! Jedoch ich bin kein Nihilist ... »
2 «Sie sind kein -» sagte Lisaweta ... Sie hielt gerade ihr Löffelchen mit Tee in der Nähe des Mundes und erstarrte in dieser Haltung.
3 «Nun ja ... nun ja ... kommen Sie zu sich, Lisaweta! Ich bin es nicht, sage ich Ihnen, in Bezug auf das lebendige Gefühl. Sehen Sie, der Literat begreift im Grunde nicht, dass das Leben noch fortfahren mag, zu leben, dass es sich dessen nicht schämt, nachdem es doch ausgesprochen und 'erledigt' ist. Aber siehe da, es sündigt trotz aller Erlösung durch die Literatur unentwegt darauf los; denn alles Handeln ist Sünde in den Augen des Geistes ...
1 «Ich bin am Ziel, Lisaweta. Hören Sie mich an. Ich liebe das Leben - dies ist ein Geständnis (признание; etwas gestehen - признаваться в чем-либо). Nehmen Sie es und bewahren Sie es (сберегите, сохраните), - ich habe es noch keinem gemacht. Man hat gesagt, man hat es sogar geschrieben und drucken lassen, dass ich das Leben hasse oder fürchte oder verachte oder verabscheue (отношусь /к ней/ с отвращением). Ich habe dies gern gehört, es hat mir geschmeichelt; (льстило) aber darum ist es nicht weniger falsch (но на самом деле это не так: «но из-за этого оно не стало менее неверным»). Ich liebe das Leben ... Sie lächeln, Lisaweta, und ich weiß, worüber. Aber ich beschwöre Sie, halten Sie es nicht für Literatur, was ich da sage! Denken Sie nicht an Cesare Borgia (Чезаре Борджа (ок. 1476 - 1507) -итальянский герцог и кардинал, сын папы Александра Шестого. Отличался крайней жестокостью и вероломством; стремился установить свою тиранию в Романье и других областях Италии) oder an irgendeine trunkene (хмельной) Philosophie, die ihn aufs Schild erhebt (которая его поднимает на щит. В конце 19 -начале 20-го века становится популярна идея сильной личности, во многом идущая от искаженно понятого ницшеанского понятия «сверхчеловек»)! Er ist mir nichts (что он мне), dieser Cesare Borgia, ich halte nicht das Geringste auf ihn (я не придаю ему ни малейшего значения = он ничего для меня не значит), und ich werde nie und nimmer begreifen, wie man das Außerordentliche und Dämonische als Ideal verehren (etwas verehren - почитать что-либо, преклоняться перед чем-либо) mag. Nein, das 'Leben', wie es als ewiger Gegensatz dem Geiste und der Kunst gegenübersteht, - nicht als eine Vision von blutiger Größe (не как видение кровавого величия) und wilder Schönheit, nicht als das Ungewöhnliche stellt es uns Ungewöhnlichen sich dar; sondern das Normale, Wohlanständige und Liebenswürdige ist das Reich unserer Sehnsucht (царство, по которому мы тоскуем), ist das Leben in seiner verführerischen Banalität (в своей соблазнительной банальности)! Der ist noch lange kein Künstler (еще далеко не художник тот), meine Liebe, dessen letzte und tiefste Schwärmerei (мечта, устремление; von etwas schwärmen - мечтать о чем-то; für etwas schwärmen - увлекаться чем-либо, восторгаться) das Raffinierte, Exzentrische und Satanische ist, der die Sehnsucht nicht kennt nach dem Harmlosen, Einfachen und Lebendigen, nach ein wenig Freundschaft, Hingebung (/тоску по/ преданности, самоотверженности), Vertraulichkeit (доверчивости, интимности, непринужденности; vertraut - интимный, близкий) und menschlichem Glück, - die verstohlene (тайная, скрываемая) und zehrende Sehnsucht (и жгучая: «разъедающая тоска), Lisaweta, nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit (по блаженству, радостям обыденности; die Wonne - блаженство)! ...
1 «Ich bin am Ziel, Lisaweta. Hören Sie mich an. Ich liebe das Leben - dies ist ein Geständnis. Nehmen Sie es und bewahren Sie es, - ich habe es noch keinem gemacht. Man hat gesagt, man hat es sogar geschrieben und drucken lassen, dass ich das Leben hasse oder fürchte oder verachte oder verabscheue. Ich habe dies gern gehört, es hat mir geschmeichelt; aber darum ist es nicht weniger falsch. Ich liebe das Leben ... Sie lächeln, Lisaweta, und ich weiß, worüber. Aber ich beschwöre Sie, halten Sie es nicht für Literatur, was ich da sage! Denken Sie nicht an Cesare Borgia oder an irgendeine trunkene Philosophie, die ihn aufs Schild erhebt! Er ist mir nichts, dieser Cesare Borgia, ich halte nicht das Geringste auf ihn, und ich werde nie und nimmer begreifen, wie man das Außerordentliche und Dämonische als Ideal verehren mag. Nein, das 'Leben', wie es als ewiger Gegensatz dem Geiste und der Kunst gegenübersteht, - nicht als eine Vision von blutiger Größe und wilder Schönheit, nicht als das Ungewöhnliche stellt es uns Ungewöhnlichen sich dar; sondern das Normale, Wohlanständige und Liebenswürdige ist das Reich unserer Sehnsucht, ist das Leben in seiner verführerischen Banalität! Der ist noch lange kein Künstler, meine Liebe, dessen letzte und tiefste Schwärmerei das Raffinierte, Exzentrische und Satanische ist, der die Sehnsucht nicht kennt nach dem Harmlosen,