Hunter sah zu, wie Whisper zwei Gläser mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit füllte. Seine Augen hatten sich jetzt vollständig an das Licht gewöhnt, und er konnte sein Gegenüber besser sehen.
Whisper – keiner kannte seinen richtigen Namen – war ein großer, stämmiger Mann mit übergroßen blassen Händen. Er war selbst einmal ein erfolgreicher Freibeuterkapitän gewesen. Dann hatte er mit Edmunds den Angriff auf Matanceros unternommen. Whisper hatte als Einziger überlebt, nachdem Cazalla ihn gefangen genommen und ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. Irgendwie war der Totgeglaubte nicht gestorben, hatte allerdings seine Stimme fast zur Gänze eingebüßt. Ein weiteres deutliches Zeugnis seiner Vergangenheit war die weiße, geschwungene Narbe unter seinem Kinn.
Seit seiner Rückkehr nach Port Royal verkroch Whisper sich in diesem Hinterzimmer, ein starker, rüstiger Mann, aber ohne Mut – die Kraft war ihm entwichen. Er war ängstlich. Er hatte stets eine Waffe in der Hand und eine weitere neben sich. Jetzt, wie er schaukelnd in seinem Stuhl saß, sah Hunter in greifbarer Nähe ein Entermesser auf dem Boden schimmern.
»Was führt Euch zu mir, Captain? Matanceros?«
Hunter hatte wohl verdutzt dreingeschaut, denn Whisper brach in Gelächter aus. Whispers Lachen klang entsetzlich, ein schrilles, schnaufendes Zischen wie von einem Dampfkessel. Er warf beim Lachen den Kopf in den Nacken, wodurch die weiße Narbe deutlich sichtbar wurde.
»Hab ich Euch erschreckt, Captain? Seid Ihr überrascht, dass ich es weiß?«
»Whisper«, sagte Hunter. »Wissen noch mehr Bescheid?«
»Einige«, zischte Whisper. »Oder sie ahnen was. Aber sie wissen nichts Genaues. Ich hab die Geschichte von Mortons Fahrt gehört.«
»Ah.«
»Wollt Ihr hin, Captain?«
»Erzählt mir von Matanceros, Whisper.«
»Wünscht Ihr eine Karte?«
»Ja.«
»Fünfzehn Shilling?«
»Abgemacht«, sagte Hunter. Er wusste, er würde Whisper zwanzig zahlen, um sich sein Wohlwollen und sein Schweigen gegenüber etwaigen späteren Besuchern zu sichern. Und Whisper würde wissen, welche Verpflichtung sich aus den fünf Shilling extra ergab. Und er würde wissen, dass Hunter ihn töten würde, wenn er mit irgendwem sonst über Matanceros sprach.
Whisper holte ein Stück Wachstuch und ein Stück Holzkohle hervor. Er legte sich das Wachstuch aufs Knie und zeichnete rasch.
»Die Insel Matanceros, das spanische Wort für Gemetzel«, flüsterte er. »Sie hat die Form eines U, ungefähr so. Die Hafenmündung zeigt nach Osten, zum Ozean. An dieser Stelle –« er tippte auf die linke Seite des U – »liegt Punta Matanceros. Da hat Cazalla die Festung gebaut. Das Gelände da ist niedrig. Die Festung liegt keine fünfzig Schritte über dem Wasser.«
Hunter nickte und wartete, während Whisper gurgelnd einen Schluck Teufelstöter trank.
»Die Festung ist achteckig. Die Mauern sind aus Stein, dreißig Fuß hoch. Drinnen ist eine spanische Milizgarnison.«
»Wie stark?«
»Manche sagen zweihundert. Manche sagen dreihundert. Ich habe sogar vierhundert gehört, aber das glaube ich nicht.«
Hunter nickte. Er sollte von dreihundert Mann ausgehen. »Und die Kanonen?«
»Nur auf zwei Seiten der Festung«, krächzte Whisper. »Eine Batterie zum Ozean hin, nach Osten. Eine Batterie quer zur Hafenmündung, nach Süden.«
»Was für Kanonen?«
Whisper stieß ein schauriges Lachen aus. »Höchst interessant, Captain Hunter. Es sind culebrinas, 24-Pfünder, Bronzeguss.«
»Wie viele?«
»Zehn, vielleicht zwölf.«
Das war interessant, dachte Hunter. Die culebrinas – Kolubrinen oder Feldschlangen – zählten nicht gerade zu den schlagkräftigsten Geschützen und wurden nicht mehr für den Einsatz auf Schiffen bevorzugt. Stattdessen fand sich auf Kriegsschiffen jeder Fahne inzwischen die kurze Kanone.
Die Kolubrine war ein älteres Geschütz. Kolubrinen wogen über zwei Tonnen und hatten Rohre, die bis zu fünfzehn Fuß maßen. Durch die Länge der Rohre waren Kolubrinen über große Entfernungen tödlich präzise. Sie konnten schwere Kugeln abfeuern und ließen sich flink laden. Von erfahrenen Kanonieren bedient, konnten sie bis zu einmal pro Minute abgefeuert werden.
»Die Festung ist also gut gesichert.« Hunter nickte. »Wer ist der Geschützmeister?«
»Bosquet.«
»Von dem hab ich schon gehört«, sagte Hunter. »Er hat die Renown versenkt.«
»Genau der«, zischte Whisper.
Die Kanoniere waren also gut ausgebildet. Hunter runzelte die Stirn.
»Whisper«, sagte er, »wisst Ihr, ob die Kolubrinen fest montiert sind?«
Whisper schaukelte einen langen Augenblick vor und zurück. »Ihr seid wahnsinnig, Captain Hunter.«
»Wieso?«
»Ihr plant einen Angriff von der Landseite.«
Hunter nickte.
»Das wird niemals gelingen«, sagte Whisper. Er tippte auf die Karte auf seinen Knien. »Edmunds hatte auch daran gedacht, aber als er die Insel sah, hat er es sich anders überlegt. Seht mal hier, wenn Ihr im Westen an Land geht« – er zeigte auf die Rundung des U –, »da ist ein kleiner Hafen, den Ihr benutzen könnt. Aber um über Land zum Haupthafen von Matanceros zu gelangen, müsst Ihr über den Leres-Kamm.«
Hunter machte eine ungeduldige Geste. »Ist der Leres-Kamm schwer zu erklimmen?«
»Da kommt keiner hoch«, sagte Whisper. »Kein normaler Mensch schafft das. Von der westlichen Bucht aus steigt das Gelände gut fünfhundert Fuß oder mehr sanft an. Aber es geht durch einen heißen, dichten Dschungel, mit Sümpfen. Trinkwasser gibt es keins. Aber Patrouillen. Falls die Patrouillen Euch nicht entdecken und Ihr nicht am Fieber sterbt, gelangt Ihr zum Fuß des Kamms. Die Westflanke des Leres-Kamms ist eine Felswand, die gut dreihundert Fuß senkrecht aufragt. Selbst ein Vogel findet an der Wand keine Stelle, um zu landen. Und der unaufhörliche Wind hat Sturmstärke.«
»Falls ich es doch bis oben schaffe«, sagte Hunter. »Was dann?«
»Der Osthang ist sanft und stellt keine Schwierigkeit dar«, sagte Whisper. »Aber Ihr kommt niemals bis zur Ostflanke, das verspreche ich Euch.«