Das als Vorbemerkung. Unsere Begegnung an diesem Vormittag fand unmittelbar vor dem >Select< statt, kurz nach zehn, Friedli hatte sich endlich entfernt, und auch ich hatte mich erhoben, um den Brief an Kohler einzuwerfen, aber ich war wohl schon nicht mehr so ganz entschlossen, und da trat Lienhard auf, genauer, fuhr vor. In einem Porsche. Er stoppte. Er kannte mich von meiner Studentenzeit her, er hatte ebenfalls Jura studiert, wenn auch nur ein Semester, hatte mir auch einmal das Angebot gemacht, bei ihm einzutreten, aber ich hatte abgelehnt.
«Rechtsanwalt«, sagte er, ohne mich anzusehen, am Steuer seines offenen Porsche,»etwas für mich?»
«Möglich«, antwortete ich.
«Einsteigen«, forderte er mich auf.
Ich gehorchte.
«Ein schneller Wagen«, stellte ich fest.
«Fünftausend«, bemerkte Lienhard und meinte damit, daß er den Porsche für soviel hergeben wolle. Er besaß viele Wagen, manchmal schien es, er fahre jeden Tag mit einem anderen herum.
Dann erzählte ich ihm meine Begegnung mit dem alten Kohler. Lienhard fuhr den See entlang, das war seine Angewohnheit, die wichtigsten Geschäfte wickelten sich in seinem Wagen ab.»Keine Zeugen«, erklärte er einmal. Er fuhr gleichmäßig, peinlich genau und hörte aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, hielt er an. In Uetikon. Vor einer Telefonkabine.
«Einträglich«, erklärte er,»Recherchen?»
Ich nickte.»Falls ich annehme.»
Er ging in die Telefonkabine, und als er wieder zurückkam, meinte er:»Seine Tochter ist zu Hause.»
Dann fuhren wir in die Weinbergstraße, parkten vor Kohlers Villa.
«Hineingehen«, forderte mich Lienhard auf.
Ich stutzte.»Ich soll den Auftrag annehmen?»
«Natürlich.»
«Zu undurchsichtig«, gab ich zu bedenken.
Er zündete sich eine Zigarette an.»Wenn Sie den Auftrag nicht annehmen, wird ihn ein anderer annehmen«, sagte er und hielt damit geradezu eine Rede.
Ich stieg aus. Neben dem großen Eingangsportal war im schmiedeeisernen Gitter ein öffentlicher Briefkasten befestigt, glänzte gelb. Mahnend. Der Absagebrief befand sich noch in meiner Tasche. Ich wußte, was meine Pflicht war. Aber warum sollte ich eigentlich den Auftrag Kohlers zurückweisen, den Charaktervollen spielen? Ich hatte Geld nötig, basta. Das lag nicht auf der Straße, da mußte schon eine Chance kommen, und nun war sie da. Ich mußte repräsentieren, wollte ich als Rechtsanwalt Erfolg haben. Architekt Friedli hatte recht, und ich wollte Erfolg haben. Und dann: Der Auftrag Kohlers war im Grunde doch wirklich harmlos, mehr ein wissenschaftliches Unternehmen, er konnte sich solche Extravaganzen leisten.
«Fünftausend wollen Sie für den Porsche?»
«Vier«, antwortete Lienhard.
«Großzügig.»
«Liegt am Auftrag.»
«Den haben Sie doch nicht nötig.»
«Macht Spaß.»
«Ich will zuerst einmal mit Kohlers Tochter reden«, sagte ich.
«Ich warte«, antwortete Lienhard.
Ansprache an den Staatsanwalt: Es läßt sich nicht mehr vermeiden. Ich muß auf meine erste Begegnung mit Hélène kommen. Ein schmerzliches Unternehmen, mit Umsicht zu wagen und nicht zu umgehen. Auch wenn Privates zur Sprache kommen muß. Endlich, denn Sie werden es mit Interesse lesen und anstreichen. Sie: Ganz recht, damit sind Sie gemeint, Herr Staatsanwalt Joachim Feuser. Zucken Sie nur ruhig zusammen. Warum nicht persönlich werden, als Nachfolger Jämmerlins werden Sie ja doch nach dem Kommandanten diese Zeilen als zweiter lesen — was Sie hiermit auch tun —, und es bereitet mir in diesem Augenblick einen Höllenspaß — wahrscheinlich im doppelten Sinne des Wortes —, Sie gleichsam vom Jenseits her zu grüßen. Ehrlich: Sie sind ein pedantisches Exemplar Ihrer Gattung, auch wenn Sie sich im Gegensatz zum seligen Jämmerlin fortschrittlich geben und in jede psychologische Tagung laufen. Sie lieben Belege. Eben haben Sie mich ordnungshalber in der Leichenhalle besichtigt, in Ihrem hellen Regenmantel, den Hut höflicherweise in der Hand und die Miene amtlich düster, der Selbstmord ist sauber durchgeführt, das müssen Sie zugeben, aber auch bei Kohler habe ich kunstgerechte Arbeit geleistet, es sieht sehr feierlich aus, wir beide so nebeneinander. Doch zurück nun aus Ihrer Gegenwart, die für mich in der Zukunft liegt, in meine für Sie vergangene Gegenwart. So überschneiden sich die Zeiten. Kapiert? Glaube nicht. Höchstens verärgert. Ich habe mich sorgfältig vorbereitet.
Erstens historisch, architektonisch, philosophisch: Fürs Innenleben. Wichtiges verlangt einen genauen Rahmen. Auch in geschichtlicher Hinsicht. So habe ich mich denn über die Kohlersche Villa genau informiert. Ich forschte sogar in der Zentralbibliothek nach. Das Gebäude stellte sich als die ehemalige Residenz Nikodemus Molchs heraus. Nikodemus Molch, Denker des anbrechenden zwanzigsten Jahrhunderts, mosesbärtiger Europäer Ungewissen Herkommens und Ungewisser Nationalität (nach den einen der legitime Sohn Alexanders des Dritten mit einer australischen Sängerin, nach den anderen eigentlich der wegen Unzucht mit Kindern vorbestrafte Sekundarlehrer Jakob Häger aus Burgdorf), betrieb eine von reichen Witwen und schöngeistigen Obersten finanzierte freie Akademie, korrespondierte mit dem alten Tolstoi, dem mittleren Rabindranath Tagore und dem jungen Klages, plante eine kosmische Erneuerungsbewegung, proklamierte eine vegetarische Weltregierung, deren Erlaß leider niemand befolgte (der Erste Weltkrieg, Hitler — obgleich Vegetarier —, der Zweite Weltkrieg, überhaupt das ganze nachfolgende Schlamassel wäre vermieden worden!), gab Zeitschriften heraus, teils okkultischen, teils edelpornographischen Inhalts, schrieb Mysterienspiele, trat später zum Buddhismus über, um noch später, schon steckbrieflich gesucht, in unzählige Bankrotte und Vaterschaftsklagen verwickelt, als Sekretär des Dalai-Lama zu enden, angeblich, denn einige unserer Mitbürger, Mitglieder einer Filmequipe, wollten ihn in den dreißiger Jahren in Schanghai in einem Barpianisten wiedererkannt haben.
Die Lage der Villa: Für einen aus unbemittelten, oder besser, aus gar keinen Verhältnissen stammenden Rechtsanwalt, der sich eben entschlossen hatte, den Salto mortale (Zitat Friedli) ins angenehmere Leben zu wagen, erwies sich der Weg von Lienhards Porsche zur Haustüre des Dr.h.c. Isaak Kohler animierend, er führte durch einen Park. Schon die Natur atmete Reichtum. Die Flora ließ sich nicht lumpen. Die Bäume durchwegs majestätisch, noch sommerlich. Auch der Föhn machte sich nicht bemerkbar, selbst hier müssen mit irgendwelchen Instanzen Abmachungen getroffen worden sein, reichen Leuten ist vieles möglich. (Für Ortsfremde: Unter Föhn wird in unserer Stadt eine Wetterlage verstanden, die Kopfweh, Selbstmord, Ehebrüche, Verkehrsunfälle und Gewaltakte fördert.) Man schritt über einen sorgfältig gerechten und gejäteten Kiesweg. Überhaupt war es nicht ein moderner Park. Mehr im alten Stil angelegt, soigniert. Kunstvoll zugeschnittene Hecken und Büsche. Bemooste Statuen. Nackte bärtige Götter mit jugendlichen Hintern und Waden. Stille Teiche. Ein gravitätisches Pfauenpaar. Dabei lag der Park mitten in der Stadt, allein ein Quadratmeter dieses Bodens mußte astronomische Summen erzielen. Er war von Trams umdonnert, von Autos umrollt, der Verkehr brandete an die ehrwürdigen schmiedeeisernen Gitter mit den vergoldeten Spitzen wie ein Ozean, tobte, klingelte und hupte, aber dennoch war es in Kohlers Park still. Wahrscheinlich war es den Schallwellen verboten hinüberzudringen. Nur einige Vögel waren zu vernehmen.
Das Haus selbst: In Wirklichkeit war es einmal entsetzlich gewesen, architektonisch ein Sündenpfuhl, der abendländische Denker hatte es selbst entworfen. Wie es dem Kantonsrat gelang, daraus etwas Wohnliches, Humanes zu machen, ist eines seiner Geheimnisse. Offenbar wurden Mengen von Kuppeln, Türmen, Erkern, Putten und Tierkreisbestien heruntergeschlagen (Nikodemus Molch betrieb auch Astrologie), bis sich aus dem Wust eine von wildem Wein, Efeu, Geißblatt und Rosen umrankte, zwar immer noch vergiebelte, aber um so gemütlichere Villa herausschälte, groß und geräumig, und so zeigte sie sich auch von innen, als ich sie nach einem letzten Blick auf den nur noch als roten Farbfleck sichtbaren Porsche betrat. Die Architekten hatten Tüchtiges geleistet, Wände herausgebrochen, Spannteppiche gelegt usw., alles war bequem und leicht. Antike Möbel, alles kostbare Stücke, an den Wänden berühmte Impressionisten, später alte Holländer (ein Dienstmädchen führte mich). Im Arbeitszimmer des Kantonsrats hatte ich zu warten. Der Raum war geräumig, von der Sonne vergoldet. Durch die geöffnete Flügeltür konnte man in den Park gelangen, die beiden Fenster, die Tür flankierend, reichten fast bis zum Fußboden. Kostbares Parkett, ein riesiger Schreibtisch, tiefe Ledersessel, an den Wänden keine Bilder, nur Bücher bis zur Decke, ausschließlich mathematische und naturwissenschaftliche Werke, eine beachtliche Bibliothek, zu welcher der Billardtisch in einem recht sonderbaren Gegensatz stand. Er befand sich in einer weiten Nische. Auf der grünen Fläche lagen noch drei Kugeln, an der Wand der Nische eine Sammlung von Billardstöcken. Viele alte Stücke mit Inschriften. Ein Billardstock von Honoré de Balzac, einer von Gottfried Keller, ein anderer vom General Dufour, einer von Bismarck, sogar einer, der angeblich Napoleon gehört haben soll. Ich schaute mich etwas verlegen um. Der alte Dr.h.c. war überall zu spüren, es war mir, als könnte er jeden Augenblick vom Park hereinkommen, als hörte ich sein Lachen, als streifte mich sein aufmerksamer Blick.
Die Vision: Da geschah etwas Merkwürdiges, eigentlich etwas Gespenstisches. Ich begriff den Kantonsrat mit einemmal. Unerwartet. Die Einsicht überfiel mich geradezu. Ich erriet plötzlich das Motiv seines Handelns. Ich witterte es aus den kostbaren Möbeln, aus den Büchern, aus dem Billardtisch. Ich erspähte es aus der Verbindung von strengster Logik und Spiel, die sich diesem Räume eingeprägt hatte. Ich war in seinen Bau gedrungen, und nun sah ich klar. Kohler hatte nicht gemordet, weil er ein Spieler war. Er war kein Hasardeur. Ihn lockte nicht der Einsatz. Ihn lockte das Spiel selbst, das Rollen der Bälle, die Berechnung und die Ausführung, die Möglichkeit der Partie. Glück bedeutete ihm nichts (darum konnte er sich als vollkommen glücklich betrachten, er heuchelte nicht einmal). Er war nur stolz darauf, daß es in seiner Macht lag, die Bedingungen des Spiels zu wählen, liebte es, das Abschnurren einer Notwendigkeit zu verfolgen, die er selbst geschaffen hatte — hier lag sein Humor. Natürlich gab es auch dafür einen Grund. Sublimster Machttrieb vielleicht, die Sucht, nicht nur mit Kugeln, sondern auch mit Menschen zu spielen, die Verführung, sich Gott gleichzusetzen. Möglich. Aber nicht wichtig. Als Jurist habe ich an der Oberfläche zu bleiben, nicht in die Psychologie abzusinken oder gar in die Philosophie oder Theologie abzusacken. Mit seinem Morde hatte Kohler eine neue Partie begonnen, das war alles. Es lief nun nach seinem Plan. Ich war nichts als eine seiner Billardkugeln, die sein Stoß in Bewegung gesetzt hatte. Er handelte vollkommen logisch. Er hatte vor Gericht keinen Grund angegeben, weil dies unmöglich war.
Mörder handeln im allgemeinen aus handfesten Motiven. Aus Hunger oder aus Liebe. Geistige Motive sind selten und dann in der Verzerrung, die sie durch die Politik erfahren haben. Religiöse Motive kommen kaum mehr vor und führen direkt ins Irrenhaus. Der Kantonsrat jedoch handelte aus Wissenschaftlichkeit. Das scheint absurd. Aber er war ein Denker. Seine Motive waren nicht konkret, sondern abstrakt. Hier mußte man ihn fassen. Er liebte das Billard nicht als Spiel an sich, sondern weil es ihm als Modell der Wirklichkeit diente. Als eine ihrer möglichen Vereinfachungen (Modell der Wirklichkeit, ich brauche einen Lieblingsausdruck Mocks, des Bildhauers, der sich viel mit Physik abgibt und wenig bildhauert, ein wirrer Spinnbruder, bei dem ich in letzter Zeit öfters in seinem Atelier sitze — wo soll man hierzulande nach Mitternacht noch trinken —, mit dem ein Gespräch seiner Taubheit wegen nur schwer möglich ist, der mir aber viele Lichter ansteckt). Aus dem gleichen Grunde beschäftigte sich Kohler mit den Naturwissenschaften und der Mathematik. Sie stellten für ihn ebenfalls» Modelle der Wirklichkeit «dar. Doch genügten ihm diese Modelle nicht mehr, er mußte zum Mord schreiten, um ein neues» Modell «zu schaffen. Er experimentierte mit einem Verbrechen, der Mord wurde eine bloße Methode. Deshalb der Auftrag an Knulpe, die Folgen des Mordes zu bestimmen, deshalb aber auch der groteske Auftrag, einen anderen» möglichen «Mörder zu suchen. Erst jetzt in seinem Arbeitszimmer, allein mit den Dingen, mit denen sich der Alte beschäftigte, begriff ich das Gespräch, das ich mit ihm im Zuchthaus geführt hatte.»Es gilt, die Wirklichkeit auszuloten, die Wirkungen einer Tat exakt auszumessen «und» wir haben das Wirkliche umzudenken, um ins Mögliche vorzustoßen«. Der Dr.h.c. hatte mit offenen Karten gespielt, aber ich hatte sein Spiel nicht begriffen. Erst wenn sein Spiel ernst genommen wurde, kam das Motiv zum Vorschein: er hatte getötet, um zu beobachten, gemordet, um die Gesetze zu untersuchen, die der menschlichen Gesellschaft zugrunde liegen. Hätte er jedoch dieses Motiv vor Gericht zugegeben, wäre es als bloße Ausrede betrachtet worden. Das Motiv war zu abstrakt für die Justiz. Aber das Denken der Wissenschaft ist nun einmal so beschaffen. Seine Abstraktheit ist sein Schutz. Doch kann es aus seiner Geborgenheit auf einmal hervorbrechen und gefährlich werden. Dann stehen wir ihm wehrlos gegenüber. Daß mit Kohlers Experiment etwas Ähnliches geschah, ist nicht zu bestreiten: Wissenschaftlicher Geist ging auf Mord aus. Damit ist weder der Kantonsrat freigesprochen noch die Wissenschaft angegriffen. Je geistiger das Motiv eines Gewaltakts, desto böser ist es, je bewußter, desto weniger zu entschuldigen. Es wird unmenschlich. Eine Blasphemie. Insofern sah ich damals richtig, in dieser Hinsicht bestätigte sich meine Vision. Sie bewahrte mich davor, Kohler zu bewundern und ihn je als unschuldig zu betrachten. Sie half mir, ihn zu verabscheuen. Die Gewißheit, daß er der Mörder war, konnte mich von dieser Stunde an niemals verlassen. Bedauerlich war nur, daß ich damals nicht die Gefährlichkeit der Partie erkannte, die Kohler mit meiner Hilfe nun weiterführte. Ich glaubte, Mitmachen sei nichts weiter als eine harmlose technische Angelegenheit, ohne Folgen. Ich stellte mir vor, die Partie würde sich im leeren Raum abspielen, allein im Geiste eines gotteslästerlichen Menschen. Sein Spiel begann mit einem Mord. Warum erkannte ich damals nicht, daß es zwangsläufig zu einem zweiten Mord führen mußte, zu einem Mord, den nicht mehr der Dr. h. c., sondern wir verüben mußten, wir, die Vertreter der Justiz, mit der der Alte spielte?
Zweitens seelisch: Eine große Begegnung verlangt nicht nur einen genauen Rahmen, sie erhebt auch Anspruch, in einer ihr angemessenen Verfassung berichtet zu werden. Deshalb gewaltig gesoffen und gehurt. Getrunken habe ich zuerst einige Liter Apfelwein, stilwidrig, ich weiß (Preisfrage), doch trank ich ihn nur, um mich in Fahrt zu bringen, als das Mädchen dabei war, ging ich zum Kognak über. Keine Angst, mein Magen war immer unverwüstlich. Das Mädchen war übrigens nicht Giselle (die mit der bemerkenswerten Figur), sondern Monika (oder Marie oder Marianne, jedenfalls begann ihr Name mit M), es ging groß her, später wußte sie eine Menge Volkslieder aus deutschen Filmen, ich schlief ein, noch später war sie mit meinem Bargeld verschwunden. Ich war inzwischen zu Birnenschnaps übergegangen und fand sie in einem alkoholfreien Cafe in der Nähe des Bellevue. Ich stöberte sie mit Giselle und mit deren Beschützer wieder auf (der schon erwähnte Lucky), welcher sich auch als ihr Beschützer erwies. Ich stellte sie zur Rede, und er stellte humanerweise das Finanzielle richtig, Marlene (oder Monika oder Magdalena) mußte herausgeben. Überhaupt ging es menschlich zu. Sogar nobel, die Kellnerin übersah, daß ich meine Flasche Williamine mitgebracht hatte, wir tranken alle vier. Dann kam Hélène, ganz unverhofft, ganz unerwartet, wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Aus einer schlechteren Welt. Seit ich sie mit Stüssi-Leupin gesehen hatte — wann war das, vor zwei Monaten, drei, vor einem halben Jahr? — , hatte ich nicht an sie gedacht, zwar noch, als einst, in irgendeiner Nacht, gegen den Morgen zu, die nackte Giselle über mir wie ein geschaukelter Buddha thronte, aber dann nicht mehr, bestimmt nicht mehr — nur noch flüchtig, als ich über die regennasse Straße beim Bellevue ging, aber das zählt nicht, war nur eine Auswirkung des Wetterumsturzes aufs Gemüt —, und nun stand sie da, mußte mich direkt im Café gesucht haben. Ich mußte lachen, alles lachte. Hélène blieb ruhig, freundlich, überlegen, klar, alles was man will an tadelloser Haltung, das war ja das Verzweifelte, daß sie sich immer beherrschte, ruhig, freundlich, überlegen, klar blieb, ich hätte sie töten, ermorden, erdrosseln, vergewaltigen können, zu einer Hure machen, das wäre mir das liebste gewesen.
«Ich habe mit Ihnen zu reden, Herr Spät«, sagte sie und sah mich bittend an.
«Was ist denn das für ein Mädchen?«fragte Giselle.
«Ein feines Mädchen«, erklärte ich,»ein Mädchen aus gutem Hause, das Töchterlein eines Mörders.»
«Mit wem schläft sie denn?«wollte Marianne (oder Magdalene oder Madeleine) wissen.
«Sie liegt mit einem Super-Rechtsanwalt im Bett«, erläuterte ich,»mit dem Star aller juristischen Stare, mit einem ausgebildeten Galgenvogel, mit dem großen Allerweltsadvokaten Stüssi-Leupin, jeder Fick ist da ein juristischer Akt.»
«Herr Spät«, sagte Hélène.
«Nehmen Sie Platz«, antwortete ich.»Wünschen Sie auf dem Schoß dieses famosen Herrn Lucky zu sitzen, der diese zwei Mädchen beschützt und dessen Rechtsanwalt zu sein ich die Ehre habe, oder wünschen Sie einen Sessel?»
«Einen Sessel«, antwortete Hélène leise.
Lucky schob ihr einen Sessel zu, höflich, piekfein, eben ganz der weltmännische Lucky mit dem schwarzen Schnurrbärtchen, dem Palmolive-Gesicht und dem braunen Apostelblick, verbeugte sich sogar, stank meilenweit nach Parfüm und Camel. Sie setzte sich zögernd.»Eigentlich wollte ich mit Ihnen allein reden«, sagte sie.
«Unnötig«, lachte ich.»Wir haben hier keine Geheimnisse. Mit Fräulein Giselle schlafe ich seit Wochen, mit der wackeren Monika oder Marianne, weiß der Teufel, wie sie heißt, diese Nacht. Sie sehen, es geht öffentlich genug zu. Also schießen Sie los.»
Hélène hatte Tränen in den Augen.
«Sie haben mich einmal etwas gefragt.»
«Weiß.»
«Als ich mit Herrn Stüssi-Leupin Kaffee…»
«Es ist mir vollkommen klar, was Sie meinen«, unterbrach ich sie,»nur brauchen Sie nicht vor diesen Schuft noch ein Herr zu setzen.»
«Ich hatte damals den Sinn Ihrer Frage nicht verstanden«, sagte sie leise.
Es war auf einmal still geworden. Giselle war von meinem Schoß geglitten, schminkte sich. Ich wurde wütend, goß Williamine hinunter, bemerkte plötzlich, daß meine Haare verklebt waren, mein Gesicht schweißig, daß meine Augen brannten, daß ich mich nicht rasiert hatte, daß ich stank, die plötzliche Verlegenheit der Mädchen ärgerte mich gewaltig, es war, als ob sie sich vor Hélène schämten, als ob Heilsarmeestimmung sich ausbreitete, ich hätte alles zusammenschlagen können, die Welt war verkehrt. Hélène hätte kriechen sollen vor diesen Mädchen, sollte auch kriechen. Ich trank immer mehr Williamine, ohne etwas zu sagen, stierte einfach in das stille Gesicht vor mir mit den großen dunklen Augen.
«Fräulein Hélène Kohler«, lallte ich, mich erhebend, umständlich, schwankend, aber es ging.»Fräulein Hélène Kohler, ich will Ihnen nun eine Erklärung, eine grundsätzliche Erklärung abgeben — jawohl, abgeben, das ist das richtige Wort. Ich habe Sie mit Ihrem Beischläfer — Ruhe, meine Damen — ich habe Sie, Hélène Kohler, mit Ihrem Beischläfer Stüssi-Leupin getroffen. Stimmt. Ich habe Sie gefragt, ob Sie am Mordtag die Stewardeß gewesen seien, und zwar im Flugzeug, das den englischen Minister nach seiner jämmerlichen Insel bringen sollte. Stimmt, stimmt, stimmt. Sie haben diese Frage bejaht. Und nun will ich Ihnen das Entscheidende geradeheraus ins Gesicht schleudern — jawohl, schleudern, mit Wucht, Hélène Kohler: Im Mantel des Ministers ist ein Revolver gewesen. Diesen Revolver haben Sie zu sich genommen, das haben Sie ja als Stewardeß leicht gekonnt, und dieser Revolver war die Waffe Ihres werten Herrn Papa gewesen, die nie gefundene Mordwaffe, das wissen Sie genau. Sie sind eine Mittäterin, Hélène Kohler, nicht nur die Tochter eines Mörders, sondern selber eine Mörderin. Sie sind mir verhaßt, Hélène Kohler, ich kann Sie nicht mehr riechen, denn Sie stinken nach Mord wie Ihr hündischer Vater und nicht nur nach Schnaps und Hurerei wie ich. Sie sollen lebendigen Leibes verfaulen, ich wünsche Ihnen den Krebs in Ihre werte Gebärmutter, denn kämen Sie mit einem kleinen Stüssi-Leupin nieder, ginge es mit unserer Welt zu Ende, sie wäre zu zerbrechlich, ein solches Monstrum zu tragen. Dafür ist mir die Welt aber trotz ihrer Sünden zu schade, diesen wunderschönen Huren zuliebe, an die Sie nicht heranreichen, Gnädigste, die ein ehrliches Gewerbe betreiben und nicht ein mörderisches, meine Heißgeliebte, und nun verduften Sie gefälligst, hauen Sie ab. Legen Sie sich unter Ihren Staradvokaten…»
Sie ging. Was sich dann ereignete, ist mir nicht mehr deutlich. Ich stürzte, glaube ich, lag jedenfalls bäuchlings auf dem Boden, ein Tischchen fiel möglicherweise auch um, die Flasche Williamine lief aus (das ist ganz sicher), ein Gast mit Denkerstirne und Brille beschwerte sich, die Wirtin kam herangesegelt, eine richtige Hurenmami, Lucky, der Noble, brachte mich auf die Toilette, ich ärgerte mich plötzlich über seinen Schnurrbart, begann ihn zu schlagen, er war früher Amateurboxer gewesen, es gab Blut, ich lag im Pissoir, es war unangenehm, vor allem weil es so was faustdick aufgetragen Symbolisches an sich hatte, wie in einem schlechten Film, auf einmal kam die Polizei, Wachtmeister Stuber mit zwei Mann. Sie nahmen mich für einige Stunden auf die Wache. Verhör, Protokoll usw.