«Schön«, sagte ich,»das sind lobenswerte Prinzipien. Aber nun soll ich für Sie handeln, Ihren Fall noch einmal untersuchen. Darf der Ochse fragen, was Sie im Schilde führen?»
«Ich führe nichts im Schilde«, antwortete Dr.h.c. Isaak Kohler schlicht.»Ich denke nach. Über die Welt, über die Menschen, vielleicht auch über Gott. Aber dazu brauche ich Material, sonst bewegt sich mein Denken im Leeren. Was ich von ihnen verlange, ist nichts als eine kleine Hilfe zu meinen Studien, die Sie ruhig als Hobby eines Millionärs betrachten können. Auch sind Sie nicht der einzige, den ich um solche kleine Handlangerdienste bitte. Kennen Sie den alten Knulpe?»
«Den Professor?»
«Den.»
«Ich habe bei ihm noch studiert.»
«Sehn Sie. Der ist nun pensioniert, und damit er mir nicht dahinsärbelt, habe ich ihm auch einen Auftrag gegeben. Er arbeitet an einer Untersuchung: Folgen eines Mordes. Er stellt die Auswirkungen fest, die das etwas gewaltsame Ableben seines Kollegen gehabt hat und noch hat. Hochinteressant. Es macht ihm einen Riesenspaß. Es gilt, die Wirklichkeit auszuloten, die Wirkungen einer Tat exakt auszumessen. Was nun Ihre Aufgabe angeht, mein Bester, so ist sie anderer Art, der Arbeit Knulpes gewissermaßen entgegengesetzt.»
«Inwiefern?»
«Sie sollen meinen Fall unter der Annahme neu untersuchen, ich sei nicht der Mörder gewesen.»
«Ich verstehe nicht.»
«Sie haben eine Fiktion aufzustellen, nichts weiter.»
«Aber Sie sind nun einmal der Mörder, da ist diese Fiktion doch sinnlos«, erklärte ich.
«Nur so ist sie sinnvoll«, antwortete Kohler.»Sie sollen ja auch nicht die Wirklichkeit untersuchen, das tut der brave Knulpe, sondern eine der Möglichkeiten, die hinter der Wirklichkeit stehen. Sehn Sie, lieber Spät, die Wirklichkeit kennen wir ja nun, dafür sitze ich hier und flechte Körbe, aber das Mögliche kennen wir kaum. Begreiflich. Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, daß wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen.»
Ich lachte:»Ein merkwürdiger Gedankengang, Herr Kohler.»
«Man sinniert sich eben einiges aus hierzulande«, sagte er.»Sehen Sie, Herr Spät, oft in der Nacht, wenn ich die Sterne zwischen den Gitterstäben im Fenster erblicke, überlege ich mir, wie denn die Wirklichkeit aussähe, wenn nicht ich, sondern ein anderer der Mörder wäre. Wer wäre dieser andere? Diese Fragen will ich von Ihnen beantwortet haben. Als Honorar zahle ich dreißigtausend, fünfzehn als Vorschuß.»
Ich schwieg.
«Nun?«fragte er.
«Es klingt nach Teufelspakt«, antwortete ich.
«Ich verlange nicht Ihre Seele.»
«Vielleicht doch.»
«Sie riskieren nichts.»
«Möglich. Aber ich sehe den Sinn dieser Angelegenheit nicht ein.»
Er schüttelte den Kopf, lachte.
«Es genügt, daß ich den Sinn sehe. Um das Weitere haben Sie sich nicht zu kümmern. Was ich von Ihnen verlange, ist nichts als die Annahme eines Vorschlags, der in keiner Weise das Gesetz verletzt, und den ich zur Erforschung des Möglichen benötige. Die Spesen werden selbstverständlich von mir übernommen. Setzen Sie sich mit einem Privatdetektiv in Verbindung, am besten mit Lienhard, zahlen Sie ihm, was er will, Geld ist genug da, gehen Sie überhaupt so vor, wie Sie wollen.»
Ich überlegte mir aufs neue den merkwürdigen Vorschlag. Er gefiel mir nicht, ich witterte eine Falle, vermochte sie aber nicht zu entdeсken.
«Warum haben Sie sich ausgerechnet an mich gewandt?«fragte ich.
«Weil Sie nichts von Billard verstehen«, antwortete er gelassen.
Nun hatte ich mich entschieden.
«Herr Kohler«, antwortete ich,»dieser Auftrag ist mir zu undurchsichtig.»
«Geben Sie meiner Tochter Bescheid«, sagte Kohler und erhob sich.
«Da gibt es nichts zu überlegen, ich lehne ab«, sagte ich und erhob mich ebenfalls.
Kohler schaute mich ruhig an, strahlend, glücklich, rosig.
«Sie werden meinen Auftrag annehmen, junger Freund«, sagte er,»ich kenne Sie besser als Sie sich selbst: Eine Chance ist eine Chance, und die benötigen Sie. Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte. Und nun, Möser, gehen wir wieder Körbe flechten.»
Die beiden gingen, Arm in Arm, so wahr ich lebe, und ich war froh, den Ort des vollkommenen Glücks zu verlassen. Eilig. Machte mich regelrecht aus dem Staube. Entschlossen, die Hände von der Angelegenheit zu lassen, Kohler nie mehr zu sehen.
Ich sagte dann doch zu. Zwar war ich noch am anderen Morgen willens abzusagen. Ich fühlte, daß mein Ruf als Rechtsanwalt auf dem Spiele stand, auch wenn ich noch keinen Ruf besaß, aber der Vorschlag Kohlers war sinnlos, eine Spielerei, unter der Würde meines Berufs, eine bloße Gelegenheit, auf eine törichte Art Geld zu verdienen, die mein Stolz verschmähte. Ich wollte damals noch sauber durch die Welt kommen, sehnte mich nach wirklichen Prozessen, nach Möglichkeiten, den Menschen zu helfen. Ich schrieb einen Brief an den Kantonsrat, teilte ihm meinen Entschluß noch einmal mit. Die Sache war für mich erledigt. Den Brief in der Tasche verließ ich mein Zimmer in der Freiestraße, wie jeden Morgen, punkt neun, in der Absicht, mich gewohnheitsmäßig zuerst ins >Select<, später auf mein Studio (die Mansarde in der Spiegelgasse), noch später zum Quai zu begeben. In der Haustüre grüßte ich meine Vermieterin, blinzelte dann in der Sonne zum gelben Briefkasten neben dem Konsum hinüber, einige Schritte, eine Lächerlichkeit, doch da das Leben oft wie ein schlechter Romancier arbeitet, begegnete ich an diesem föhnigen, drückenden, für unsere Stadt so typischen Alltagsmorgen, wie gesagt, zwischen neun und zehn gleich nacheinander a) dem alten Knulpe, b) dem Architekten Friedli, c) dem Privatdetektiv Lienhard.
a) Der alte Knulpe: er erwischte mich beim Briefkasten. Ich wollte eben meinen Absagebrief einwerfen, als er mir zuvorkam, mit einem ganzen Bündel von Briefen, von denen er einen um den anderen sorgfältig einwarf. Der Alte war wie immer von seiner Frau begleitet. Professor Carl Knulpe war fast zwei Meter groß, ausgemergelt, schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen, wie Prediger Simon Berger und Niklaus von der Flüe, doch ohne Bart, verwildert, schmutzig, trug sommers und winters eine Pelerine, dazu eine Baskenmütze. Seine Gattin war ebenso groß wie er, ebenso ausgemergelt, ebenso verwildert und schmutzig, trug auch jahraus, jahrein Pelerine und Baskenmütze, so daß viele sie gar nicht für seine Frau, sondern für seinen Zwillingsbruder hielten. Beide waren bedeutend in ihrem Fachgebiet, beide Soziologen. Doch so unzertrennlich sie auch im Leben zusammenhielten, wissenschaftlich waren sie Todfeinde, die sich publizistisch oft boshaft bekämpften, er war ein großer Liberaler (>Kapitalismus als geistiges Abenteuer<, Francke, 1938), sie eine leidenschaftliche Marxistin, bekannt unter dem Namen Moses Staehelin (>Marxistischer Humanismus des Diesseits<, Europa-Verlag, 1939), beide durch die politische Entwicklung gleich gezeichnet: Carl Knulpe erhielt kein Visum für die USA, Moses Staehelin keines für die UdSSR, er hatte sich scharf gegen die» instinktiven marxistischen Tendenzen «der Vereinigten Staaten geäußert, sie noch unbarmherziger über den» kleinbürgerlichen Verrat «der Sowjetunion. Hatte. Leider ist die Vergangenheitsform notwendig: vor zwei Wochen zermalmte ein Lastwagen des Abbruchgeschäfts Stürzeier die beiden, er wurde begraben, sie kremiert, eine testamentarische Verfügung, die das Begräbnis nicht unerheblich erschwerte.
«Grüß Gott«, machte ich mich bemerkbar, den Brief an Kohler noch in der Hand. Professor Carl Knulpe grüßte nicht zurück, blinzelte nur mißtrauisch durch seine staubige randlose Brille zu mir herunter, und auch seine Frau (mit gleicher Brille) schwieg.
«Ich weiß nicht recht, ob Sie sich noch an mich erinnern, Herr Professor«, sagte ich etwas entmutigt.
«Doch, doch«, antwortete Knulpe.»Erinnere mich. Studierten Jurisprudenz und trieben sich bei mir in der Soziologie herum. Sehen ein wenig wie ein ewiger Studiosus aus. Examen bestanden?»
«Längst, Herr Professor.»
«Rechtsanwalt geworden?»
«Jawohl, Herr Professor.»
«Tüchtig, tüchtig. Wohl Sozi, wie?»
«Teils, Herr Professor.»
«Ein wackerer Sklave des Kapitals, he?«fragte Carl Knulpes Frau.
«Teils, Frau Professor.»
«Haben wohl etwas auf dem Herzen«, stellte Carl Knulpe fest.
«Jawohl, Herr Professor.»
«Begleiten Sie uns«, sagte sie. Ich begleitete die beiden. Wir gingen gegen den >Pfauen<, den Brief hatte ich nun doch noch nicht eingeworfen, aus einer momentanen Vergeßlichkeit heraus, aber es gab ja noch viele Briefkästen.
«Nun?«fragte er.
«Ich besuchte Dr.h.c. Isaak Kohler, Herr Professor. Im Zuchthaus.»
«So, so. Waren bei unserem kreuzfidelen Mörder. Ei, ei, beorderte er Sie auch zu sich?»
«Gewiß.»
Bald fragte der eine, bald fragte die andere.
«Ist er immer noch glücklich?»
«Und wie!»
«Strahlt er noch immer?»
«Und ob!»
Wir kamen an einem weiteren Briefkasten vorbei. Eigentlich wollte ich nun stehenbleiben, den Absagebrief einwerfen, doch Knulpes gingen weiter, ahnungslos, mit großen hastigen Schritten. Ich mußte laufen, um mitzuhalten.
«Kohler hat mir erzählt, Sie hätten da einen recht eigenartigen Auftrag angenommen, Herr Professor«, sagte ich.
«Eigenartig? Weshalb eigenartig?»
«Herr Professor! Hand aufs Herz: daß Kohler seinen eigenen Mord auf die Folgen hin untersuchen läßt, ist doch eine gar zu verrückte Geschichte. Da mordet der Kerl am heiterhellen Tag, grundlos, so mir nichts dir nichts, und läßt dann noch soziologische Studien darüber anstellen, unter dem Vorwand, damit sei die Wirklichkeit auszuloten.»
«Sie wird aber ausgelotet, junger Mann. Klaftertief.»
«Da muß doch irgend etwas dahinterstecken! Irgendeine Teufelei!«rief ich aus.
Knulpes blieben stehen. Ich keuchte. Er reinigte seine randlose Brille, trat auf mich zu, so daß ich zu ihm hinauf-, er zu mir heruntersehen mußte. Er setzte seine Brille wieder auf, seine Augen glotzten. Auch sein Weib glotzte mich entrüstet an, rückte eng an ihren Gatten und somit auch an mich.
«Die Wissenschaft steckt dahinter, junger Mann, nur die Wissenschaft. Zum ersten Male können die Folgen eines Mordes in der bürgerlichen Gesellschaft mit methodischer Gründlichkeit untersucht und erschöpfend dargestellt werden! Dank unseres fürstlichen Mörders. Eine Riesenchance! Zusammenhänge tauchen auf! Verwandtschaftliche, berufliche, politische, finanzielle, kulturelle. Nicht verwunderlich. Alles hängt zusammen in dieser Welt, auch in unserer lieben Stadt, einer stützt sich auf den anderen, einer protegiert den anderen, und wenn einer fällt, purzeln viele, und so sind denn viele gepurzelt. Stecke jetzt in der Darstellung der Folgen bei unserer verehrten Alma mater. Und das ist nur der Anfang.»
«Entschuldigen, ein Auto.»
Ich zog die beiden in Sicherheit, Knulpes waren vor Aufregung vom Trottoir auf die Straße getreten, und ein Taxi mußte scharf bremsen. Es war überfüllt, eine alte Dame mit einem Hut voller Kunstblumen prallte innen gegen die Scheibe, der Chauffeur schrie zum Fenster hinaus, war sehr grob. Knulpes wurden nicht einmal blaß.
«Gänzlich gleichgültig«, sagte er,»statistisch unerheblich, ob wir überfahren werden oder nicht. Nur der Auftrag zählt, nur die Wissenschaft.»
Aber Frau Professor Knulpe war anderer Meinung:»Um mich wäre es schade gewesen«, behauptete sie.
Das Taxi fuhr davon. Knulpe kam wieder auf seine soziologische Untersuchung zu sprechen.
«Mord ist Mord, gewiß, doch für einen Wissenschaftler ist er ein Phänomen, das wie alle anderen Phänomene erforscht werden muß. Bis jetzt hat man sich darauf beschränkt, die Ursachen festzustellen, Motive, Herkommen, Umwelt, ich habe mich jetzt auf die Folgen zu werfen. Und da darf ich sagen: ein Segen für die Alma mater, ein Segen für die ganze Universität, dieser Mord, man möchte sozusagen selber etwas morden. Na ja, natürlich, an sich bedauerlich, so eine Untat, aber durch die unverhoffte Lücke, die Winter hinterließ, strömt frische Luft, neuer Geist. Toll, was sich da alles herausstellt, der liebe selige Winter war Sand im Getriebe, ein rückständiges Element, wie schon Shakespeare sagte: >Der Winter unseres Mißvergnügens<, aber ich will weder lästern noch kalauern, stelle einfach dar, liefere Fakten, junger Mann, Fakten und nichts weiter.»
Wir waren beim >Pfauen< angelangt.
«Gott befohlen, Herr Rechtsanwalt«, sagten Knulpes und verabschiedeten sich.»Habe jemand Wichtiges von der ETH zu treffen«, fügte er noch bei,»habe nun auf diesem Terrain nachzuforschen, Winters Einfluß auf die Schulkommission stellt schon ein Kapitel für sich dar, wittere Sensationen. Kann rosig werden. «Am Eingang zum Restaurant kehrten sie sich noch einmal um, hoben den Finger:»Wissenschaftlich denken, junger Mann, wissenschaftlich denken. Das müssen Sie noch lernen. Auch als Rechtsanwalt, mein Bester«, sagte Frau Professor Knulpe, alias Moses Staehelin. Sie verschwanden, und meinen Brief hatte ich noch immer nicht eingeworfen.
b) Architekt Friedli: saß neben ihm kurz darauf im >Select<, den Brief immer noch in der Tasche. Select: Café, vor dem man sitzt und sitzen bleibt, seit jeher, seit ewig, oder doch seit Jahrmillionen, als noch die Brontosaurier den Fluß hinunterwateten, saß man schon da. Friedli kannte ich von meiner Stüssi-Leupin-Zeit her, er hatte bisweilen Schwierigkeiten mit seinen Bodenspekulationen, doch konnte ihn nichts hemmen, er war und ist noch die Fettlawine, die unsere Stadt reinfegt, so daß in den Schneisen sich Geschäftshäuser, Appartementhäuser, Mietshäuser neu erheben, nur teurer als vorher, zu entsprechend fetten Preisen. Die Naturkatastrophe näher besehen: fünfzigjährig, schwitzende enorme Speckwülste, die Augen klein und funkelnd, irgendwo hineingesteckt, die Nase winzig, auch die Ohren, sonst alles riesig, Selfmademan, ein Kind der Langstraße (meine Alte, lieber Spät, ist zu fremden Leuten waschen gegangen, mein Alter hat sich zu Tode gesoffen, habe noch selber bei der Beerdigung eine Flasche Bier in sein Grab gegossen), nicht nur Radsportmäzen, ohne dessen Sonderpreise kein Sechstagerennen denkbar ist, an dem er inmitten des Hallenstadions thronend Unmengen von St.-Galler-Schüblig und Wienerwürstchen verschlingt, sondern auch Musikförderer, dank dessen das Tonhalleorchester und unser Opernhaus nicht ins ganz und gar Mittelmäßige sinken, der Klemperer, Bruno Walter, ja sogar Karajan verlockte, bei uns zu dirigieren, und jetzt Mondschein protegiert, so daß er unsere Stadt, die er durch Neu- und Umbauten so gründlich verschandelt, wenigstens wieder etwas musisch verklärt.
Er erkannte mich auf der Stelle. Der Morgen war wie gesagt föhnig und warm, man fühlte sich zu Hause, war wie gelähmt und verhext in der Schlappheit des Klimas, saß zusammengedrängt, ich an Friedli geklebt, der bester Laune war, einen Gipfel um den anderen in einen Milchkaffee um den anderen tunkte, unmäßig, schmatzend, schlürfend, der Kaffee lief in braunen Streifen über seine seidene Krawatte und über das weiße Hemd.
Der Ursprung seiner Freude war eine Todesanzeige in unserem weltbekannten Lokalblatt. Es hatte Gott dem Herrn gefallen, durch einen tragischen Unfall» unseren unvergessenen Gatten, Vater, Sohn, Bruder, Onkel, Schwiegersohn und Schwager Otto Erich Kugler zu sich zu rufen. Sein Leben war lauter Liebe.»
«Ihr Feind?«fragte ich.
«Mein Freund.»
Ich kondolierte.
«Da muß er gegen Cham und in einen Baum sausen, der brave, gute, liebe Kugler«, erläuterte Friedli, strahlend, Kaffee schlürfend, Gipfel tunkend und essend,»kugelt ins ewige Leben.»
«Das tut mir leid«, sagte ich.
«Seinen Fiat sollten Sie erst gesehen haben, ein einziges Blechschlamassel.»
«Schauerlich.»
«Schicksal. Müssen alle mal sterben.»
«Offenbar«, sagte ich.
«Mensch«, sagte er,»Sie wissen wohl gar nicht, was dieser Schicksalsschlag für meine Wenigkeit bedeutet?»
Ich wußte es nicht. Die massive Wenigkeit glotzte mich freundschaftlich an.
«Kugler hinterläßt eine Witwe«, erklärte er,»ein herrliches Weib.»
Mir ging ein Licht auf:»Und dieses herrliche Weib wollen Sie nun heiraten.»
Architekt Friedli schüttelte jenen Teil seines Fettes, in welchem man den Kopf vermuten konnte:»Nein, junger Mann, ich will nicht die Witwe heiraten, sondern die Frau ihres Geliebten. Auch ein Prachtweib. Kapiert? Ganz einfach: Heiratet der Liebhaber die Witwe, muß er sich vorher scheiden lassen, und dann heirate ich seine Frau.»
«Gesellschaftsmathematik«, sagte ich.
«Kapiert.»
«Nur müssen Sie sich dann auch scheiden lassen«, gab ich zu bedenken und hoffte vage auf ein Geschäft.
«Bin ich. Schon seit einer Woche. Meine fünfte Scheidung.»
Wieder nichts.
Der Kellner brachte neue Gipfel. Eine Schulklasse lief über den Platz, Mädchen, einige mit Zöpfen, manche schon wie junge Frauen, ein Rudel blieb stehen, betrachtete die Standfotos vor dem Kino. Friedli spähte nach der Gruppe.
«Sie sind doch der komische Rechtsanwalt, der sich in der Spiegelgasse ein Büro in einer Mansarde leistet?«fragte er, die Mädchen betrachtend.
Ich mußte es zugeben.
«Es ist halb zehn«, stellte er fest, grinste und wandte sich wieder zu mir,»ich will zwar nicht indiskret sein, denn ich bin ein höflicher Mensch, Spät, aber ich habe das starke Gefühl, daß Sie heute noch nicht auf Ihrem Büro gewesen sind.»
«Erraten«, sagte ich,»Ihr starkes Gefühl trügt nicht. Ich werde mich vielleicht in einer Stunde oder dann heute nachmittag hinbegeben.»
«So. Heute nachmittag vielleicht. «Er betrachtete mich aufmerksam.»Lieber Spät«, sagte er,»Sie heißen irgendwie richtig. Ich bin heute von sieben bis zehn vor neun auf einem Bauplatz herumgestampft«, sagte er bescheiden.»Ich verdiene Millionen. Gut. Durch meine Bauten, durch meine Spekulationen. In Ordnung. Aber darin steckt Arbeit, Disziplin, verflucht nochmal. Ich saufe wie ein Loch, zugegeben, aber reiße mich dafür auch jeden Morgen zusammen.»
Der Speckkoloß legte mir väterlich den Arm um die Schultern:»Mein lieber Spät«, fuhr er zärtlich fort, ganz fettes Riesengefühl, leuchtend vor Kaffeedampf, Gipfelbrosamen im Gesicht und an den Händen,»mein lieber Spät, ich will Ihnen einmal reinen Wein einschenken: Sie haben ausgesprochen Startschwierigkeiten, da machen Sie mir nichts vor. Das Resultat: Sie sind für einen ernsthaften Menschen nicht vorhanden. Ein Rechtsanwalt, der um neun Uhr dreißig noch nicht hinter seinem Schreibtisch sitzt, ist für einen anständigen Geschäftsmann Luft. Ich will nun nicht gründlicher in Sie dringen, nach einem Faulpelz sehen Sie mir nicht aus, aber zu einem richtigen Salto mortale ins volle Menschenleben haben Sie sich bis jetzt nicht aufraffen können. Und wissen Sie weshalb? Weil Sie nicht zu repräsentieren verstehen, keine Haltung und keinen Bauch besitzen. Studiert zu haben ist ja was Feines, aber mit guten Examen imponieren Sie außer den Schulmeistern niemandem. Ein Schreibtisch genügt nicht, Sie können so lange dahinter thronen, wie Sie wollen, die Kunden kommen nicht angeschwommen. Mit Recht, weshalb sollten sie. Nein, mein Freundchen, Ihre Enttäuschung ist fehl am Platz, VW und Mansarde sind nicht nur ein soziales, sondern auch ein wenig ein geistiges Armutszeichen, nehmen Sie es mir nicht übel. Nichts gegen Redlichkeit und Bescheidenheit, aber ein Rechtsanwalt hat aufzutreten, daß die Erde zittert. Was Sie fürs erste brauchen, sind richtige Büroräume, mit Ihrem Taubenschlag kommen Sie nicht aus, dorthin klettert Ihnen kein Mensch nach, man will schließlich prozessieren, nicht sportliche Höchstleistungen vollbringen. Kurz und gut, so geht das nicht mehr weiter, ich will Ihnen eine Chance geben. Kommen Sie morgen um sieben in der Früh in mein Büro, bringen Sie mir vier Tausenderlappen mit, und dann werden wir Ihnen einige anständige Räumlichkeiten am Zeltweg zuschanzen.»
(Was folgte, waren längere Ausführungen über eine gigantische Bodenspekulation, dazu weiterer Gipfelkonsum und Milchkaffeegenuß, die Ausführungen ironisch und sardonisch, getragen vom Bewußtsein, daß hierzulande die größten Gaunereien nur legal abgewickelt werden können und abgewickelt werden, und dann kam er noch auf ein Strawinsky-Festival und einen Honegger-Zyklus zu sprechen, und wie ich mich erhob, meinte er noch, das Verkehrschaos käme davon, daß wir einen Stadtpräsidenten hätten, der Fußgänger sei.)
c) Privatdetektiv Fredi Lienhard: gleicher Jahrgang wie ich. Hager, schwarzhaarig, ein Mann von auffallender Schweigsamkeit und kurzen Sätzen. Einziges Kind geschiedener Eltern. Als Gymnasiast stand er unter dem Verdacht, seine Mutter samt ihrem Geliebten ermordet zu haben, man fand sie beide nackt in Mamas Schlafzimmer, fein säuberlich hingestreckt, sie auf dem Bett, der Geliebte, ihr Psychiater aus Küsnacht, davor, wie ein Bettvorleger. Lienhard wurde aus der Maturitätsprüfung geholt, er war gerade dabei, aus Tacitus zu übersetzen, als ihn die Polizei schnappte, seine Lage schien aussichtslos, nur er kam in Frage, nur er hatte sich in der Mordnacht im Hause aufgehalten, wenn auch nach seiner Aussage friedlich auf seiner Gymnasiastenbude, in einer Mansarde, vollgestopft mit Klassikern und Büchern über Zoologie. Dazu kam noch das Pech, gerade achtzehn geworden zu sein, so daß er nicht in die Fänge des Jugendanwalts, sondern in die weitaus unbarmherzigeren Jämmerlins geriet. Die Verhöre in der Untersuchungshaft und später vor dem Geschworenengericht fielen denn auch hart genug aus, Jämmerlin rückte dem Gymnasiasten mit allen Regeln der Kunst zuleibe, doch hielt sich Lienhard glänzend, geradezu überlegen, die handfesten Indizien wiesen auf einmal bedenkliche Widersprüche auf, und endlich blieb nichts anderes übrig, als ihn freizusprechen; nicht einmal zur Bevormundung reichte die rechtliche Handhabe. Jämmerlin tobte, erlitt seinen ersten Nervenzusammenbruch, versuchte dann noch mehrere Male, wenn auch vergeblich, ans Bundesgericht zu appellieren, den Prozeß wiederaufzunehmen, um so mehr als sich Lienhard nun zu rächen begann. Der Verdächtige war zu Geld gekommen, zu irrsinnigen Summen, sein geschiedener steinreicher Vater vermachte ihm alles, dazu kamen die Kapitalien seiner finanzkräftigen Mutter, überhaupt rollte, strömte, flog ihm der Pulver von allen Seiten zu, sammelte sich an, summierte, multiplizierte, potenzierte sich, er brachte eine Erbschaft um die andere unter Dach, innerhalb kürzester Frist, Großeltern, Tanten, Onkel rückten eilig, sozusagen per Schub, in die Ewigkeit ein, dazu noch eventuelle Erben, es war, als ob Himmel und Hölle ihren ganzen Vorrat von Todesarten einsetzten, um Lienhard mit allen Gütern zu segnen, und er wurde gesegnet. Eben aus dem Bereiche des tobenden Jämmerlin entlassen und kaum zwanzigjährig, schälte er sich als mehrfacher Millionär heraus. Es war sagenhaft, mehr Glück als Verstand war im Spiel, wenn auch dieser beträchtlich war. Denn gegen den Staatsanwalt ging er ebenso systematisch wie einfach vor: er hielt sich ständig in dessen Nähe auf. Jämmerlin konnte sein, wo er wollte, Lienhard lief ihm über den Weg. Bei jedem Plädoyer grinste ihm irgendwo Lienhards Gesicht entgegen. Aß er in einem Restaurant, aß am Nebentisch Lienhard. Dieser war immer in seiner Nähe. Wo Jämmerlin auch wohnte, im Nebenhaus wohnte Lienhard, zog Jämmerlin wütend in eine Mietwohnung um, plötzlich hauste Lienhard über ihm. Jämmerlin wußte sich nicht mehr zu helfen. Der Anblick Lienhards wurde ihm unerträglich. Er war mehrere Male nahe daran, sich auf ihn zu stürzen, tätlich zu werden, und einmal kaufte er sogar einen Revolver. Er zog von einer Straße zur anderen, von einem Stadtteil zum anderen, von der Hinterberg-Straße in die C. F. Meyer-Straße, von Wollishofen nach Schwamendingen, und als er endlich weitab von aller Zivilisation in der Katzenschwanz-Straße bei Witikon ein Chalet bauen ließ, wurde neben ihm ebenfalls gebaut. Jämmerlin schwante Ungutes. Daß sich als Bauherr der Prokurist einer Bank herausstellte, beruhigte ihn nur zeitweise. Mit Recht, denn als er im Frühjahr hemdsärmelig zum ersten Mal den jungen Rasen sprengte, winkte ihm über den frisch gestrichenen Gartenzaun Lienhard fröhlich entgegen, benahm sich wie unter alten Bekannten (die sie schließlich waren), stellte sich als neuer Nachbar vor. Der Bankprokurist war nur eine Attrappe gewesen. Jämmerlin wankte zum Haus zurück, kam noch bis zur Veranda. Zweiter Nervenzusammenbruch, dazu Herzinfarkt. Die Ärzte schwankten zwischen Irrenhaus und Klinik. Jämmerlin blieb zu Hause liegen, unbeweglich, wächsern, galt als erledigt. Doch er war zäh. Er rappelte sich wieder hoch, wenn auch innerlich verwüstet. Hinsichtlich Lienhard stille Ergebung. Die beiden blieben nebeneinander wohnen. Am Waldrand. Mit Blick auf Witikon. Jämmerlin wagte sich nicht mehr zu rühren. Um so mehr als er gegen eine andere Tätigkeit Lienhards auch machtlos war. Der war Privatdetektiv geworden, betrieb sein Geschäft in großem Stil. Er hatte in einem der feudalen Geschäftshäuser im Talacker Räume gemietet, gleich eine ganze Etage, von einem Zimmer schwebte man ins andere. Hinter modernen Bürotischen saßen einige gewichtige Herren, alte Sportler, wenn auch bierbäuchig, Zigarren rauchend und zufrieden, mit kurzgeschorenen Haaren, ferner ehemalige Polizisten, die er eingekauft hatte, was Lienhard finanziell bieten konnte, übertraf die Möglichkeiten unserer Stadt beträchtlich. Aber nicht diese Erwerbungen ärgerten Jämmerlin, Geschäft war Geschäft, dagegen ließ sich leider nichts vorbringen. Was ihn quälte, waren ganz andere Anschaffungen. Es war nicht zu übersehen, daß die vornehmen Räume im Talacker öfters von Elementen belebt wurden, die Jämmerlin einst verdonnert hatte, von ehemaligen Zuchthäuslern und schweren Jungen, die nun hier, in die Ehrlichkeit hinübergewechselt, als Fachmänner eingesetzt wurden. Seine» kriminalistische Abteilung «hatte denn auch in unserer Stadt großen Erfolg, trotz der horrenden Honorare, die er zu fordern, und der saftigen Spesen, die er zu berechnen pflegte, denn die >Privatauskunftei Lienhard<, wie sie sich offiziell nannte, lieferte Beweise für die Untreue oder die Unschuld beargwöhnter Eheleute, sorgte für Väter, falls solche den Müttern nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen wollten, gab Auskünfte über Privates und Industrielles, ließ überwachen, verfolgen, aufstöbern, traf diskrete Arrangements und wurde von den Strafverteidigern benutzt, gewisse Absichten Jämmerlins zu durchkreuzen, Gegenbeweise zu liefern, überhaupt mit Neuem aufzufahren. Viele Prozesse nahmen dank Lienhards Institut für die Angeklagten eine unverhofft günstige Wendung, auch trafen sich im Talacker die Rechtsanwälte im geheimen, Lienhard war ein glänzender Gastgeber, auch politische Gegner tauschten bei ihm ihre Karten.