Elf Minuten - Coelho Paulo


Und diese, eine Frau, war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als sie vernahm, daß er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küßte seine Füße und salbte sie mit Salböl…

Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüßte er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt, denn sie ist eine Sünderin. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es.

Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?

Simon antwortete und sprach: »Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat.«

Er aber sprach zu ihm: »Du hast recht geurteilt.«

Und dann wandte er sich zu der Frau und sprach zu Simon: »Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben, diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben, diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt.

Deshalb sage ich zu dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.«

Lukas, 7: 37-47

Weil ich die erste und die letzte bin

Bin ich verehrt und verachtet

Bin ich Hure und Heilige

Bin ich Gattin und Jungfrau

Bin ich Mutter und Tochter

Bin ich die Arme meiner Mutter

Bin ich unfruchtbar, und die Zahl meiner Kinder ist groß

Bin ich gut vermählt und ledig

Bin ich die gebiert und niemals geboren hat

Bin ich die Trösterin der Wehen

Bin ich die Gattin und der Gatte und es war mein Mann, der mich geschaffen hat

Ich bin die Mutter meines Vaters

Bin die Schwester meines Mannes und er ist mein abgelehnter Sohn

Achtet mich immer

Denn ich bin die Anstoß Erregende und die Prächtige

Hymne an Isis, 3. oder 4. Jh. n. Chr., entdeckt in Nag Hammadi

Es war einmal eine Prostituierte namens Maria.

Moment mal. »Es war einmal« ist die beste Art, ein Märchen für Kinder zu beginnen, während »Prostituierte« nach etwas klingt, was für Erwachsene gedacht ist. Darf man ein Buch mit einem so offensichtlichen Widerspruch beginnen? Im Leben stehen wir schließlich auch dauernd mit einem Fuß im Märchen und mit dem anderen im Abgrund, und darum wollen wir es bei diesem Anfang belassen: Es war einmal eine Prostituierte namens Maria.

Wie alle Prostituierten war auch Maria einmal ein unschuldiges Mädchen gewesen und hatte während ihrer Jugendzeit davon geträumt, dem Mann ihres Lebens zu begegnen (reich, schön, intelligent), ihn zu heiraten (im Brautkleid), mit ihm zwei (dereinst berühmte) Kinder zu haben und in einem schönen Haus (mit Blick aufs Meer) zu wohnen. Marias Vater war Bauer, ihre Mutter Schneiderin, in ihrer Heimatstadt im Nordosten Brasiliens gab es nur ein Kino, einen Nachtclub, eine Bankfiliale; deshalb wartete Maria immer darauf, daß eines Tages ein Märchenprinz auftauchen, ihr Herz im Sturm nehmen und mit ihr aufbrechen würde, um die Welt zu erobern.

Solange aber der Märchenprinz nicht kam, konnte sie nur träumen. Mit elf verliebte sie sich zum ersten Mal. Auf dem Schulweg. Am ersten Schultag. In einen Jungen aus der Nachbarschaft. Die beiden sprachen nie ein Wort miteinander, aber Maria merkte bald, daß die schönsten Augenblicke des Tages für sie die auf der staubigen Straße waren, wenn die Sonne im Zenit stand und sie durstig und müde versuchte, mit dem Jungen Schritt zu halten.

So ging es mehrere Monate lang: Maria, die im Grunde nicht gern lernte und in ihrer Freizeit nur vor dem Fernseher saß, konnte den nächsten Schultag jeweils kaum erwarten; im Gegensatz zu ihren Altersgenossinnen fand sie die Wochenenden todlangweilig. Da die Zeit einem jungen Menschen viel länger vorkommt als einem Erwachsenen, erschien es ihr unerträglich, daß jeder Tag ihr nur zehn Minuten mit ihrem Liebsten bescherte und dafür unendlich viele Stunden, in denen sie an den Jungen nur denken und sich ausmalen konnte, wie schön es wäre, mit ihm zu reden.

Und dann geschah es. Eines Morgens sprach der Junge sie an und bat sie, ihm einen Bleistift zu leihen. Maria antwortete nicht, blickte ihn abweisend an und ging schnell weiter. In Wirklichkeit war sie vor Angst wie versteinert gewesen, als sie ihn auf sich zukommen sah. Sie fürchtete, er könnte merken, wie verliebt sie in ihn war, was sie sich alles von ihm erhoffte, wie sehr sie davon träumte, mit ihm Hand in Hand am Schultor vorbei- und die Straße bis zum Ende zu gehen, bis in eine große Stadt, wo es angeblich Märchenprinzen gab und Künstler, viele Autos und Kinos und alle möglichen tollen Dinge, die man unternehmen konnte.

Tagsüber im Unterricht konnte sie sich nicht konzentrieren. Sie machte sich Vorwürfe, aber zugleich war sie erleichtert, weil sie dem Jungen auch aufgefallen war und dieser den Bleistift offensichtlich nur als Vorwand benutzt hatte, um mit ihr ein Gespräch zu beginnen, denn als er zu ihr gekommen war, hatte sie einen Kugelschreiber in seiner Tasche bemerkt. Sie wartete darauf, daß er sie erneut ansprechen würde, und in der Nacht ­und all die folgenden Nächte – malte sie sich die Antworten aus, die sie ihm beim nächsten Mal geben würde, und was die richtige Art wäre, eine Liebesbeziehung zu beginnen, die nie enden würde.

Aber es gab kein nächstes Mal. Obwohl sie weiterhin zusammen zur Schule gingen – Maria mal ein paar Schritte vor ihm mit einem Bleistift in der Hand, mal hinter ihm, um ihn zärtlich anzusehen –, sprach er sie bis zum Ende des Schuljahres nie wieder an.

In den großen, endlosen Ferien wachte sie eines Morgens mit Blut an den Beinen auf und dachte, sie müßte sterben. Sie beschloß, dem Jungen einen Brief zu schreiben, in dem sie ihm ihre Liebe gestand; danach würde sie in den sertão, in die Wildnis, gehen und von einem dieser fürchterlichen Tiere ­nämlich dem Werwolf oder dem Maultier ohne Kopf –, von denen die Bauern der Gegend immer munkelten, getötet werden. Wenigstens wußten ihre Eltern dann nicht, daß sie tot war, und konnten hoffen, daß ihr Kind von einer reichen, kinderlosen Familie geraubt worden und eines Tages – reich und erfolgreich – zurückkehren würde; Marias große Liebe dagegen würde sich ein Leben lang grämen, sie nicht wieder angesprochen zu haben.

Maria kam nicht dazu, den Brief zu schreiben, denn ihre Mutter trat ins Zimmer, sah die roten Bettücher und sagte lächelnd:

»Jetzt bist du ein junges Mädchen, Töchterchen.« Maria wollte wissen, was das Blut damit zu tun habe, daß sie jetzt ein junges Mädchen war, doch ihre Mutter konnte es ihr nicht richtig erklären. Sie sagte nur, es sei normal und von nun an müsse sie an vier oder fünf Tagen im Monat eine Art Puppenkissen zwischen den Beinen tragen. Geht das bei den Männern auch so? fragte Maria, denn sie konnte sich nicht vorstellen, wie das bei ihnen funktionieren sollte. Aber sie erhielt die Auskunft, daß Männer keine monatlichen Blutungen hätten. Männern passiere das nicht, nur Frauen. Zuerst haderte Maria mit dem lieben Gott wegen dieser Ungerechtigkeit, doch mit der Zeit fand sie sich mit der Menstruation ab. Mit der Abwesenheit des Jungen konnte sie sich jedoch nicht abfinden, und sie machte sich ständig Vorwürfe, weil sie vor dem weggelaufen war, was sie sich am meisten gewünscht hatte. Einen Tag vor Schulbeginn ging sie in die einzige Kirche des Ortes und gelobte vor dem Bildnis des heiligen Antonius, daß sie die Initiative ergreifen und den Jungen ansprechen würde. Gott sei Dank waren die Ferien endlich vorbei. Am nächsten Tag machte sie sich so hübsch wie möglich. Sie zog das neue Kleid an, das die Mutter für sie genäht hatte, und trat vor das Haus. Aber der Junge kam und kam nicht. Eine bange Woche verging, bis sie von ihren Kameraden erfuhr, er sei in eine andere Stadt gezogen.

»Er ist weit weggezogen«, sagte einer.

Da lernte Maria, daß gewisse Dinge nicht nachholbar, sondern auf ewig verloren sein können. Sie lernte auch, daß es einen Ort namens ›Weit weg‹ gab, daß die Welt groß und ihr Städtchen klein war und daß die interessanten Menschen am Ende immer weggingen. Sie wäre selbst gern weggegangen, aber sie war noch sehr jung; dennoch beschloß sie, daß sie eines Tages dem Jungen folgen und den vertrauten staubigen Straßen für immer den Rücken kehren würde.

An den neun folgenden Freitagen ging sie zur Kommunion und betete zur Jungfrau Maria, sie bald hier herauszuholen.

Vergebens versuchte sie, eine Spur des Jungen zu finden, aber niemand wußte, wohin er mit seinen Eltern gezogen war. Und Maria kam zu dem Schluß, daß die Welt zu groß, die Liebe etwas Gefährliches und die Jungfrau Maria dort im Himmel zu weit weg wohnte, um die Bitten der Kinder zu hören.

Die Jahre vergingen, Maria besuchte weiter die Schule, lernte Mathematik und Erdkunde, schaute sich regelmäßig die Serien im Fernsehen an, las in der Schule unter dem Pult die ersten erotischen Zeitschriften. Sie begann auch ein Tagebuch, dem sie ihr, wie sie fand, uninteressantes Leben anvertraute und ihre Sehnsucht nach der weiten Welt, von der ihnen der Erdkundelehrer erzählte – den Meeren, den schneebedeckten Alpen, aber auch von den Männern mit Turban und eleganten, schmuckbehangenen Frauen. Aber da das Leben nicht nur aus unerfüllbaren Wünschen bestehen kann – vor allem, wenn die Mutter Schneiderin ist und der Vater auf dem Feld arbeitet und fast nie zu Hause ist –, begriff Maria bald, daß sie ihrer Umgebung mehr Beachtung schenken sollte. Sie lernte eifrig, um es im Leben zu etwas zu bringen, während sie zugleich jemanden suchte, mit dem sie ihre Sehnsucht nach Abenteuern teilen konnte.

Mit fünfzehn verliebte sie sich in einen Jungen, den sie während einer Karwochenprozession kennengelernt hatte. Sie machte denselben Fehler nicht noch einmal: Die beiden redeten miteinander, freundeten sich an, gingen zusammen ins Kino und auf Partys. Erneut stellte sie fest, daß die Liebe mehr mit der Abwesenheit als mit der Gegenwart der geliebten Person zu tun hatte: Wenn sie den Jungen nicht sah, vermißte sie ihn, und sie verbrachte Stunden damit, sich auszumalen, was sie beim nächsten Wiedersehen sagen würde, erinnerte sich an jeden Augenblick, den sie zusammen verbracht hatten, und grübelte, was sie richtig oder falsch gemacht hatte. Sie gefiel sich in der Rolle des schon etwas erfahreneren Mädchens, das schon eine Liebe hatte gehen lassen und es bitter bereute. Jetzt war sie wild entschlossen, um den jungen Mann zu kämpfen: sie wollte heiraten, Kinder haben, in dem Haus am Meer wohnen. Ihre Mutter, mit der sie sich besprach, fand sie dafür noch zu jung.

»Aber du warst doch auch erst sechzehn, als du Vater gehe iratet hast!«

Die Mutter wollte nicht zugeben, daß eine ungewollte Schwangerschaft der Grund gewesen war, und brach das Gespräch sofort ab.

»Damals war eben alles anders«, sagte sie nur.

Am nächsten Tag durchstreifte Maria mit dem Jungen die Felder vor dem Städtchen. Sie unterhielten sich, und Maria fragte, ob er auch so große Lust habe zu reisen; als Antwort nahm er sie in den Arm und küßte sie.

Der erste Kuß ihres Lebens! Wie oft hatte sie von diesem Augenblick geträumt! Noch dazu vor dieser Kulisse mit den fliegenden Reihern, dem Sonnenuntergang, der wilden Steppenlandschaft, in die von ferne Musik herüberschallte. Maria tat erst so, als wolle sie nicht, doch bald küßte sie ihn auch oder tat vielmehr, was sie so oft im Kino, in Illustrierten und im Fernsehen gesehen hatte: Sie rieb ihre Lippen heftig an seinen und bewegte dabei ihren Kopf halb rhythmisch, halb unkontrolliert von einer Seite zur anderen. Sie spürte, daß die Zunge des Jungen hin und wieder ihre Zähne berührte, und fand das köstlich.

Da hörte er plötzlich auf, sie zu küssen.

»Willst du nicht?« fragte er.

Was sollte sie darauf antworten? Was wollte er? Natürlich wollte sie. Aber eine Frau durfte sich doch nicht gleich hingeben, vor allem nicht ihrem zukünftigen Ehemann, sonst wurde er womöglich mißtrauisch und hielt sie für ein leichtfertiges Mädchen. Darum sagte sie lieber nichts.

Er umarmte und küßte sie wieder, aber mit spürbar weniger Begeisterung. Dann hörte er auf. Er war ganz rot im Gesicht ­und Maria merkte, daß etwas nicht stimmte, hatte aber Angst zu fragen. Sie nahm ihn bei der Hand, und sie gingen ins Städtchen zurück, wobei sie über belanglose Dinge redeten, als wäre nichts geschehen.

In jener Nacht schrieb sie in dem Bewußtsein, daß etwas Schlimmes passiert war, in wohlgesetzten und auch etwas umständlichen Worten in ihr Tagebuch:

Wenn wir jemandem begegnen und uns in ihn verlieben, haben wir das Gefühl, daß das ganze Universum einverstanden ist; heute habe ich das bei Sonnenuntergang erlebt. Wenn jedoch etwas nicht klappt, wenn etwas schiefläuft, dann ist plötzlich alles dahin, als wäre es nie gewesen: die Reiher, die Musik in der Ferne, der Geschmack seiner Lippen. Wie kann soviel Schönheit von einer Minute auf die andere vergehen?

Das Leben rast mit uns dahin, und innerhalb von Sekunden gelangen wir vom Himmel in die Hölle.

Am nächsten Tag redete sie mit ihren Freundinnen. Alle hatten gesehen, daß sie mit ihrem ›Liebsten‹ spazierengegangen war – es reicht schließlich nicht, daß man eine große Liebe hat, man muß auch alles tun, damit die anderen wissen, daß man begehrt ist. Die Freundinnen waren sehr neugierig darauf, zu erfahren, was passiert war, und Maria berichtete stolz, das Beste sei die Zunge gewesen, die ihre Zähne berührt habe. Eins der Mädchen lachte.

»Hast du den Mund nicht aufgemacht?«

Schlagartig wurde ihr alles klar – die Frage, die Enttäuschung.

»Wozu?«

»Damit die Zunge hineinkann.«

»Und was ist der Unterschied?«

»Dafür gibt es keine Erklärung. Man küßt nun mal so.«

Heimliches Kichern, mitleidiges Lächeln – eine süße Genugtuung für jene Mädchen, in die sich noch kein Junge verliebt hatte. Maria tat so, als wäre das nicht weiter wichtig, und stimmte in ihr Gelächter ein – obwohl ihr eigentlich zum Weinen zumute war. Insgeheim verfluchte sie die Filme, von denen sie gelernt hatte, daß man beim Küssen die Augen schließt, den Kopf des anderen zwischen beide Hände nimmt, die Lippen aneinander reibt, die ihr aber das Wesentliche, das Wichtigste, vorenthalten hatten. Sie redete sich ein: Ich wollte mich nicht gleich hingeben, weil ich nicht überzeugt war, doch jetzt habe ich herausgefunden, daß du der Mann meines Lebens bist, und sie wartete auf die nächste Gelegenheit.

Aber sie sah den Jungen erst drei Tage darauf im Clubhaus der Gemeinde wieder, wo er mit ihrer besten Freundin Händchen hielt – derjenigen, die sie nach dem Kuß gefragt hatte. Sie spielte wieder die Gleichgültige, hielt den ganzen Abend durch, redete Belangloses mit ihren anderen Freundinnen und tat so, als bemerke sie die mitleidigen Blicke nicht, mit denen sie bedacht wurde. Erst als sie wieder zu Hause war, brach sie zusammen und weinte die ganze Nacht. Acht Monate kam sie nicht darüber hinweg. Ihr war klargeworden: Weder war die Liebe für sie, noch sie für die Liebe gemacht. Sie trug sich jetzt mit dem Gedanken, Nonne zu werden und den Rest ihres Lebens einer Art Liebe zu weihen, die nicht verletzte und keine Wunden im Herzen zurückließ – der Liebe zu Jesus. In der Schule sprachen sie von Missionaren, die nach Afrika gingen, und sie beschloß, daß dies der Ausweg aus einem Leben ohne große Gefühle sei. Sie plante, ins Kloster zu gehen, absolvierte einen Erste-Hilfe-Kurs (da in Afrika so viele Menschen krank waren), beteiligte sich eifrig am Religionsunterricht und sah sich bereits als eine moderne Heilige, die Leben rettete und in der Wildnis mitten unter Tigern und Löwen hauste.

Doch ihr fünfzehntes Lebensjahr bescherte ihr nicht nur die Entdeckung des Zungenkusses und der Liebe als Quelle vielen Leids, sondern noch etwas Drittes: die Selbstbefriedigung. Es geschah fast zufällig, als sie an einem Nachmittag, als sie allein zu Hause war, auf ihrem Bett lag und an ihrem Körper herumspielte. Sie hatte das schon als Kind sehr gemocht – bis ihr Vater sie eines Tages dabei überrascht und ihr kommentarlos eine Tracht Prügel verabreicht hatte. Sie hatte die Schläge nie vergessen und daraus gelernt, daß sie sich nie in Anwesenheit anderer berühren durfte; da sie zu Hause kein eigenes Zimmer hatte, unterließ sie es ganz und vergaß das angenehme Gefühl.

Bis zu jenem Nachmittag, fast sechs Monate nach dem bewußten Kuß. Die Mutter war beim Einkaufen, der Vater mit einem Freund unterwegs, und im Fernsehen lief kein interessantes Programm. Maria, die auf ihrem Bett lag, begann ihren Körper nach unerwünschten Härchen abzusuchen, die sie mit der Pinzette auszupfen wollte. Zu ihrer Überraschung bemerkte sie einen kleinen Knubbel oberhalb ihrer Vagina; sie begann mit ihm zu spielen und konnte nicht mehr aufhören; es wurde immer köstlicher, immer intensiver, und ihr ganzer Körper – vor allem der Teil, den sie berührte – wurde steif.

Allmählich gelangte sie in eine Art paradiesischen Zustand, das Gefühl wurde immer intensiver, sie hörte nichts mehr, alles verschwamm vor ihren Augen zu einem goldenen Dunst, bis sie vor Lust aufstöhnte und ihren ersten Orgasmus hatte.

Es war so, als wäre sie in den siebten Himmel aufgestiegen und würde nun wieder langsam mit einem Fallschirm zur Erde herunterschweben. Ihr Körper war schweißnaß, aber sie fühlte sich ganz erfüllt, voller Energie. Das also war Sex! Wie wunderbar! Nicht wie in den erotischen Fotoromanen, in denen alle von Lust redeten, dazu aber ein schmerzverzerrtes Gesicht machten. Sie brauchte keinen Mann, der ihre Seele mißachtete und nur ihren Körper liebte. Sie konnte alles selbst machen! Sie befriedigte sich erneut, und diesmal stellte sie sich vor, daß ein Fernsehstar sie berührte. Und wieder gelangte sie in den siebten Himmel und schwebte mit dem Fallschirm herunter, noch erfüllter, noch lebendiger. Sie wollte gerade ein drittes Mal beginnen, als ihre Mutter heimkam.

Maria sprach mit ihren Freundinnen über ihre Entdeckung, sagte aber nicht, daß sie diese erst vor ein paar Stunden gemacht hatte. Außer zweien wußten alle Bescheid, aber keine hatte bislang gewagt, die Sache anzusprechen. Erstmals konnte sich Maria als Vorkämpferin ihrer Clique fühlen; sie erfand ein ›Bekenntnis-Spiel‹ und bat jede zu erzählen, wie sie sich am liebsten selbst befriedigte. So erfuhr sie von verschiedenen Techniken, wie der, es mitten im Sommer unter der Decke zu tun (weil Schwitzen angeblich half), eine Gänsefeder zu benutzen, um die bewußte Stelle zu berühren (wie die Stelle hieß, wußte sie nicht), einen Jungen das machen zu lassen (was Maria überflüssig vorkam) oder die Dusche des Bidets zu benutzen.

Jedenfalls gab Maria, nachdem sie die Selbstbefriedigung entdeckt und einige der von ihren Freundinnen empfohlenen Techniken angewandt hatte, endgültig den Plan auf, Nonne zu werden. Es verschaffte ihr viel Lust. Auch wenn es von der Kirche als große Sünde angeprangert wurde. Unter ihren Freundinnen kursierten die wildesten Geschichten: daß man vom Masturbieren überall am Körper Pickel bekam oder wahnsinnig oder sogar schwanger werden konnte. Maria nahm die Risiken gern in Kauf und befriedigte sich wöchentlich mindestens einmal, meistens mittwochs, wenn ihr Vater mit seinen Freunden zum Kartenspielen wegging.

Gleichzeitig wurde sie in ihrer Beziehung zu Männern immer unsicherer – und der Wunsch, wegzugehen, wurde immer größer. Sie verliebte sich ein drittes und ein viertes Mal, konnte inzwischen küssen, berührte sich oder ließ sich berühren, wenn sie mit ihren Liebsten allein war – aber immer lief etwas falsch, und die Beziehung endete immer genau dann, wenn Maria das sichere Gefühl hatte, den Richtigen gefunden zu haben, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Männer bedeuten nur Schmerz, Frustration und Kummer, dachte sie.

An einem Nachmittag, als sie im Park war und eine Mutter mit ihrem zweijährigen Sohn spielen sah, merkte sie, daß sie auf den Traum von Ehemann, Kindern und einem Haus mit Meerblick doch nicht ganz verzichten wollte; nur verlieben wollte sie sich nicht mehr, denn die Leidenschaft machte alles kaputt!

So vergingen Marias Jugendjahre. Sie wurde immer hübscher, und wegen ihrer geheimnisvollen, traurigen Aura hatte sie viele Verehrer. Sie verabredete sich auch mit dem einen oder anderen, träumte und litt – obwohl sie sich doch geschworen hatte, sich nie wieder zu verlieben. Bei einer dieser Verabredungen verlor sie ihre Jungfräulichkeit auf der Rückbank eines Wagens; sie und ihr Freund berührten sich heftiger als sonst, der Junge fing Feuer, und da sie es satt hatte, die letzte Jungfrau in ihrer Clique zu sein, ließ sie zu, daß er in sie eindrang. Doch statt sie wie das Masturbieren in den siebten Himmel zu heben, tat ihr dieses erste Mal nur weh und hinterließ einen Blutfleck auf ihrem Kleid, der nur schwer wieder herausging. Sie fühlte sich auch nicht verzaubert wie beim ersten Kuß – keine fliegenden Reiher, kein Sonnenuntergang, keine Musik… aber daran wollte sie nicht mehr denken.

Sie hatte mit dem Jungen noch ein paarmal Sex und setzte ihn unter Druck mit der Drohung, ihrem Vater zu erzählen, daß er sie vergewaltigt habe, und der wäre imstande, ihn umzubringen. Sie machte ihn zu einem Werkzeug, um Erfahrungen zu sammeln, wobei sie auf alle möglichen Arten und Weisen zu ergründen suchte, worin die Lust beim Sex mit einem Partner liegen könnte.

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