Sie kam nicht dahinter; Masturbieren war viel weniger anstrengend, und sie hatte mehr davon – auch wenn das Fernsehen, die Illustrierten, Ratgeber und Freundinnen im Chor verkündeten, daß ein Mann wichtig sei. Maria begann zu glauben, daß sie ein sexuelles Problem hätte, das sie mit niemandem besprechen konnte. Daher stürzte sie sich aufs Lernen und vergaß lange Zeit diese wunderbare, mörderische Sache, die Liebe hieß.
Aus dem Tagebuch der inzwischen siebzehnjährigen Maria:
Ich möchte herausfinden, was das ist: die Liebe. Ich weiß, daß ich lebendig gewesen bin, als ich geliebt habe, und ich weiß auch, daß nichts an meinem heutigen Leben, so interessant es auf den ersten Blick aussehen mag, mich wirklich begeistert.
Aber die Liebe ist etwas Schreckliches: Ich sehe meine Freundinnen leiden, und das soll mir nicht auch passieren. Dieselben, die mich früher wegen meiner Naivität ausgelacht haben, fragen mich jetzt, wie ich es fertigbringe, die Männer im Griff zu haben. Ich lächle und schweige, weil ich weiß, daß die Arznei schlimmer ist als der Schmerz: Ich verliebe mich einfach nicht. Mit jedem Tag, der vergeht, sehe ich deutlicher, wie schwach, wankelmütig, unsicher die Männer sind und für einige Überraschungen gut… Einige der Väter meiner Freundinnen haben mir schon Angebote gemacht, ich habe abgelehnt. Früher war ich schockiert, jetzt glaube ich, daß die Männer eben so sind.
Ich will begreifen, was Liebe ist, aber bislang leide ich nur. Diejenigen, die meine Seele berühren, können meinen Körper nicht erwecken. Und die, denen ich mich hingebe, können meine Seele nicht berühren.
Mit neunzehn schloß Maria die Sekundarschule ab und nahm eine Stelle in einem Stoffladen an. Der Chef verliebte sich in sie – aber Maria wußte nun, wie man einen Mann benutzte, ohne von ihm benutzt zu werden. Er durfte sie nie auch nur anfassen, obwohl sie ihn, ihrer Anziehungskraft voll bewußt, immer wieder provozierte.
Die Macht der Schönheit! Und wie mochte die Welt für die häßlichen Frauen aussehen? Maria hatte etliche Freundinnen, die bei Partys unbeachtet blieben und zu denen keiner »Hallo, wie geht's!« sagte. Erstaunlicherweise maßen diese Mädchen dem wenigen an Liebe, das sie bekamen, viel mehr Wert bei, litten schweigend, wenn sie abgewiesen wurden, und setzten auf etwas anderes, als sich nur für jemanden schönzumachen. Sie waren unabhängiger, nahmen sich mehr Zeit für sich selbst, obwohl ihnen das Leben nach Marias Ansicht doch bestimmt unerträglich vorkommen mußte.
Sie selbst hingegen wußte, wie anziehend sie war. Allerdings vergaß sie die Warnung ihrer Mutter nicht: »Die Schönheit hält nicht ewig an, Töchterchen.«
Ihren Chef hielt sie auf Distanz, flirtete aber auch mit ihm, was ihr eine beachtliche Gehaltserhöhung einbrachte. Wie lange sie ihn noch hoffen lassen könnte, sie eines Tages doch noch ins Bett zu kriegen, wußte sie nicht, aber einstweilen verdiente sie gut. Dazu kam no ch ein Überstundenzuschlag, weil der Mann sie einfach soviel wie möglich um sich haben wollte, vielleicht aus Angst, sie könnte in ihrer Freizeit der großen Liebe begegnen. So arbeitete sie vierundzwanzig Monate hintereinander, konnte ihren Eltern monatlich etwas Geld abgeben und noch etwas auf die hohe Kante legen. Endlich war es soweit! Sie hatte genug Geld beisammen, um eine Woche in der Stadt ihrer Träume Urlaub zu machen, am Ort der Künstler, dem berühmtesten Postkartenmotiv ihres Landes: in Rio de Janeiro!
Ihr Chef erbot sich, sie zu begleiten und alle Kosten zu übernehmen, aber Maria flunkerte, ihre Mutter lasse sie nur unter der Bedingung an einen der gefährlichsten Orte der Welt reisen, daß sie im Haus eines Vetters übernachte, der Jiu-Jitsu praktiziere.
»Außerdem, Senhor«, fuhr sie fort, »können Sie den Laden doch nicht einfach allein lassen, ohne eine vertrauenswürdige Person, die auf ihn aufpaßt.«
»Sag nicht Senhor zu mir«, sagte er, und Maria las in seinen Augen das Feuer der Leidenschaft – und das kannte sie nur zu gut. Sie war überrascht, weil sie bisher geglaubt hatte, der Mann sei nur an Sex interessiert; sein Blick aber verhieß genau das Gegenteil: »Ich kann dir ein schönes Zuhause bieten, Kinder, und deine Eltern werde ich auch unterstützen.« Und mit Blick auf die Ungewisse Zukunft, beschloß Maria, das Feuer am Brennen zu halten.
Sie sagte, sie würde den Laden vermissen und die netten Menschen, mit denen sie so gern zusammen sei (sie nannte extra niemand Bestimmten, ließ offen, ob sich das mit den »netten Menschen« auf ihn bezog). Im übrigen werde sie schon auf ihre Handtasche achten und aufpassen, daß ihr nichts Böses geschehe. In Wahrheit jedoch wollte sie sich von nichts und niemandem ihre erste Woche in völliger Freiheit kaputtmachen lassen. Sie würde alles ausprobieren, im Meer baden, Wildfremde ansprechen, Schaufensterbummel machen und sich bereit halten für den Märchenprinzen, der endlich kommen und sie erlösen sollte.
»Eine Woche geht schnell vorbei«, sagte sie mit verführerischem Läche ln und hoffte im stillen, daß sie sich irrte. »Die geht schnell vorbei, und dann kehre ich zu meiner Arbeit zurück.«
Der Chef war untröstlich, zierte sich ein bißchen, willigte aber schließlich ein, denn er hatte vor, bei ihrer Rückkehr um ihre Hand anzuha lten; er wollte nur nicht zu dreist sein und alles kaputtmachen.
Maria reiste achtundvierzig Stunden mit dem Bus, nahm sich ein Zimmer in einer fünftklassigen Pension in Copacabana, und noch bevor sie ihren Koffer richtig ausgepackt hatte, zog sie ihren ne uen Bikini an und ging an den Strand. Die paar Wolken am Himmel konnten sie nicht abschrecken. Sie blickte aufs Meer und fürchtete sich und fühlte sich unsicher. Ängstlich blickte sie auf die Wellen. Schließlich ging sie doch ins Wasser.
Niemand am Strand bemerkte dieses Mädchen, das zum ersten Mal das Meer sah, das Reich der Liebes-und Meeresgöttin Jemanja, den Atlantik mit seinen Strömungen und seiner Gischt, der auf der anderen Seite an Afrika mit seinen Löwen grenzte. Als sie aus dem Wasser stieg, wurde sie zuerst von einer Sandwichverkäuferin angesprochen, dann von einem schönen Schwarzen, der sie fragte, ob sie abends frei sei, um mit ihm auszugehen, und schließlich von einem Mann, der kein einziges Wort Portugiesisch sprach und sie mit Gesten einlud, ein Kokoswasser mit ihm zu trinken.
Maria kaufte ein Sandwich, weil es ihr peinlich war, nein zu sagen, doch auf die beiden fremden Männer ging sie nicht ein. Plötzlich wurde sie traurig: endlich konnte sie tun, was sie wollte, und trotzdem benahm sie sich absolut unmöglich. Warum? Sie setzte sich und wartete, daß die Sonne hinter den Wolken hervorkam.
Der Mann, der kein Portugiesisch sprach, erschien mit einer Kokosnuß an ihrer Seite. Froh darüber, daß sie nicht mit ihm reden mußte, trank sie das Kokoswasser, lächelte, und er lächelte zurück. Eine Zeitlang saßen sie wortlos da, lächelten hinüber und herüber – bis der Mann ein rot eingebundenes Miniwörterbuch aus der Tasche zog und mit ausländischem Akzent »bonita« – »hübsch« – sagte. Sie lächelte wieder und war durchaus bereit, ihren Märchenprinzen zu treffen, aber er sollte zumindest ihre Sprache sprechen und etwas jünger sein.
Der Mann ließ nicht locker, blätterte weiter in dem Wörterbüchlein herum und stammelte dann:
»Heute abend essen?«
Und dann: »Schweiz.«
Und sagte dann jene Worte, die – in welcher Sprache auch immer – wie die Glocken des Paradieses klingen:
»Job! Dollar!«
Maria kannte kein Restaurant ›Schweiz‹. Aber sollten die Dinge wirklich so einfach sein und die Träume so schnell in Erfüllung gehe n? Besser mißtrauisch sein: Vielen Dank für die Einladung, ich bin schon vergeben, und sie war auch nicht daran interessiert, Dollars zu kaufen.
Der Mann, der kein einziges Wort ihrer Antwort verstand, verzweifelte allmählich; er gab das Hinundhergelächle auf, ließ sie stehen und kam kurz darauf mit einem Dolmetscher zurück. Durch ihn erklärte er, daß er aus der Schweiz komme (kein Restaurant, das Land war gemeint) und gern mit ihr zu Abend essen würde, da er ihr einen Job anzubieten habe. Der Dolmetscher, der sich als Berater des Ausländers und Sicherheitsmann des Hotels vorstellte, in dem der Mann abgestiegen war, flüsterte ihr zu:
»Wenn ich du wäre, würde ich einwilligen. Dieser Mann ist ein wichtiger Künstleragent und nach Rio gekommen, um neue Talente zu entdecken, die in Europa für ihn arbeiten sollen. Wenn du willst, kann ich dir andere Frauen vorstellen, die früher für ihn gearbeitet haben: Inzwischen sind sie reich und verheiratet und haben Kinder, und Dinge wie Arbeitslosigkeit und Angst vor Straßenräubern sind für sie Fremdwörter geworden.«
Zum Schluß versuchte er sie noch mit seiner Bildung zu beeindrucken: »Übrigens werden in der Schweiz Uhren und ausgezeichnete Schokolade hergestellt.«
Marias einzige künstlerische Erfahrung hatte bislang darin bestanden, in einem Passionsstück, das die Stadtverwaltung alljährlich in der Karwoche organisierte, die stumme Rolle einer Wasserverkäuferin zu spielen. Sie war übernächtigt von der langen Busreise, aber das Meer hatte sie erregt, und sie war hungrig und fü hlte sich verloren, weil sie weit und breit niemanden kannte. Sie hatte solche Situationen schon vorher erlebt, in denen ein Mann etwas verspricht und danach nicht hält – und wußte deshalb, daß die Geschichte mit der Künstlerin nur wieder ein Trick war, sie für etwas zu interessieren, das sie abzulehnen vorgab.
Sie spürte, daß die Heilige Jungfrau ihr diese Chance gegeben hatte und sie jede Sekunde dieser Urlaubswoche auskosten mußte. Ein gutes Restaurant kennenzulernen bedeutete, daß sie später zu Hause etwas Interessantes zu erzählen hatte. Deshalb nahm sie sein Angebot an, unter der Bedingung, daß der Dolmetscher sie begleitete. Sie hatte es satt, in einem fort zu lächeln und so zu tun, als verstehe sie auch nur ein Wort dessen, was der Ausländer sagte. Jetzt hatte sie nur ein Problem, ein ganz entscheidendes: Sie hatte nichts Richtiges anzuziehen. Eine Frau gibt so etwas nicht zu (eher noch nimmt sie hin, daß ihr Mann sie betrügt), aber da sie diese Männer nicht kannte und sie vermutlich nie wiedersehen würde, hatte sie nichts zu verlieren.
»Ich bin gerade aus dem Nordosten angekommen, ich habe nichts Anständiges anzuziehen.« Der Mann bat sie durch den Dolmetscher, sich keine Sorgen zu machen, und ließ sich die Adresse ihres Hotels geben. Am späten Nachmittag erhielt sie ein Kleid, wie sie in ihrem ganzen Leben noch keines gesehen hatte, dazu ein Paar Schuhe, die so viel gekostet haben mußten, wie sie im ganzen Jahr verdiente.
Sie spürte: Hier begann der Weg, von dem sie in ihrer Kindheit und Jugend im sertão immer geträumt hatte. Da gab es nur Dürre, junge Männer ohne Zukunft, das ehrliche aber arme Städtchen, in dem sie ein ödes, uninteressantes Leben geführt hatte. Jetzt würde sie bald schon die Prinzessin des Universums sein! Ein Mann hatte ihr einen Job und Dollars versprochen und ihr ein sündhaft teures Paar Schuhe und ein märchenhaftes Kleid geschenkt! Es fehlte noch das entsprechende Makeup, aber die Rezeptionistin ihres Hotels half ihr aus, sagte ihr allerdings auch, daß nicht alle Ausländer gut seie n, so wie auch nicht alle Bewohner Rios Straßenräuber seien.
Maria schlug die Warnung in den Wind, zog das im wahrsten Sinne himmlische Kleid an, verbrachte Stunden vor dem Spiegel. Sie bedauerte, daß sie ihren Fotoapparat zu Hause gelassen hatte und diesen Augenblick nicht festhalten konnte. Beinahe wäre sie zu spät zu ihrer Verabredung gekommen. Sie rannte hinaus wie Aschenputtel und hastete zu dem Hotel, in dem der Schweizer abgestiegen war.
Zu ihrer Überraschung sagte der Dolmetscher gleich, daß er sie nicht begleiten würde.
»Mach dir wegen der Sprache keine Sorgen – das wichtigste ist, daß er sich an deiner Seite wohl fühlt.«
»Aber wie denn, wenn er nicht versteht, was ich sage?«
»Genau deshalb. Du brauchst dich nicht zu unterhalten, es ist eine Frage von Energien.«
Maria wußte nicht, was sie sich unter »Energien« vorstellen sollte; bei ihr zu Hause verständigten sich die Menschen immer noch mit Worten. Und da wollte dieser Mailson ihr weismachen, in Rio de Janeiro und im Rest der Welt sei alles anders?
»Du brauchst es nicht zu verstehen, sieh nur zu, daß er sich wohl fühlt. Der Mann ist Witwer, kinderlos und Besitzer eines Nachtclubs. Er sucht Brasilianerinnen, die im Ausland auftreten wollen. Ich habe ihm gesagt, daß du nicht der Typ dafür seist, aber er hat nicht lockergelassen und gesagt, er habe sich in dich verliebt, als er dich aus dem Wasser kommen sah. Er hat auch deinen Bikini hübsch gefunden.« Er machte eine Pause. »Ehrlich, wenn du hier einen Freund finden willst, mußt du dir ein anderes Bikinimodell besorgen; außer diesem Schweizer gefällt er bestimmt niemandem.«
Maria tat so, als habe sie das nicht gehört. Mailson fuhr fort: »Ich glaube, er sucht nicht nur ein Abenteuer mit dir; er findet, daß du das Talent hast, eine Hauptattraktion in seinem Nachtclub zu werden. Natürlich hat er dich weder singen hören noch tanzen sehen, aber so was kann man lernen, während die Schönheit – die hat man entweder, oder man hat sie nicht. Diese Europäer glauben wirklich, alle Brasilianerinnen seien sinnlich und könnten Samba tanzen. Wenn er es ernst meint, rate ich dir, bevor du das Land verläßt, um einen unterzeichneten Vertrag zu bitten – mit vom Schweizer Konsulat beglaubigter Unterschrift. Morgen früh bin ich am Strand vor dem Hotel, komm zu mir, falls du noch Fragen hast.«
Der Schweizer nahm lächelnd ihren Arm und zeigte auf das wartende Taxi.
»Wenn er andere Absichten hat und du auch – der Tarif für eine Nacht ist dreihundert Dollar. Mach es nicht für weniger.«
Noch bevor sie antworten konnte, waren sie auf dem Weg zum Restaurant. Der Mann suchte mühsam nach Worten.
»Arbeiten? Job? Dollar? Brasilianischer Star?« Maria gingen Mailsons Worte nicht aus dem Sinn: dreihundert Dollar für eine Nacht! Was für ein Reichtum! Sie brauchte nicht aus Liebe zu leiden, konnte den Mann bezirzen, wie sie es mit dem Besitzer des Stoffladens gemacht hatte, heiraten, Kinder bekommen und ihren Eltern ein bequemes Leben bieten. Was hatte sie zu verlieren? Er war alt, vielleicht würde er schon bald sterben, und sie würde endlich reich sein. Es sah so aus, als wären in der Schweiz alle reich, aber als gebe es dort zu wenig Frauen.
Während des Essens redeten sie nur wenig – hier ein Lächeln, da ein Lächeln, und Maria begriff allmählich, was Mailson mit »Energien« gemeint hatte. Der Mann zeigte ihr ein Album mit Fotos, deren Bildunterschriften in einer für sie unverständlichen Sprache geschrieben waren. Das Album enthielt unzählige Fotos von Frauen in Bikini (alle viel gewagter als der, den sie am Nachmittag getragen hatte), Zeitungsausschnitte und bunte Prospekte, überschrieben mit dem einzigen Wort, das sie verstand, das aber falsch geschrieben war: »Brazil« (mit »z« statt mit »s«). Sie trank viel, trank sich Mut an, für den Fall, daß der Schweizer ihr tatsächlich ein Angebot machte (dreihundert Dollar waren schließlich nicht zu verachten, und ein bißchen Alkohol machte die Dinge sehr viel einfacher, vor allem, wenn niemand aus ihrer Stadt in der Nähe war). Aber der Mann benahm sich wie ein Gentleman, er zog sogar den Stuhl für sie zurück und schob ihn wieder nach vorn, während sie sich setzte, und erhob sich, als sie schließlich erschöpft aufstand und sich verabschiedete. Sie schlug ein Treffen am Strand für den nächsten Tag vor – auf die Uhr zeigen, mit den Händen eine Wellenbewegung machen und ganz langsam »morgen« sagen –, und er schaute ebenfalls auf seine Uhr (wahrscheinlich ein Schweizer Fabrikat) und war einverstanden.
Maria schlief schlecht. Träumte, daß alles ein Traum war. Wachte auf und stellte fest, daß es keiner war: Auf dem Stuhl in dem einfachen Zimmer lag ein wunderschönes Kleid, und darunter stand ein wunderschönes Paar Schuhe, und da war auch noch die Verabredung am Strand.
Aus Marias Tagebuch an dem Tag, an dem sie den Schweizer kennenlernte:
Alles sagt mir, daß ich kurz davor stehe, eine falsche Entscheidung zu treffen, aber wer handelt, macht zwangsläufig auch Fehler. Was will die Welt von mir? Daß ich keine Risiken eingehe? Daß ich wieder dahin zurückkehre, wo ich herkomme, und nie den Mut aufbringe, ja zum Leben zu sagen?
Ich habe schon einmal eine falsche Entscheidung getroffen, als ich elf Jahre alt war und ein Junge mich bat, ihm meinen Bleistift zu leihen; seither habe ich begriffen, daß sich manchmal keine zweite Gelegenheit ergibt und man besser die Geschenke annimmt, die die Welt einem vor die Füße legt. Natürlich ist es riskant, aber ist es riskanter, als mit dem Überlandbus zu fahren?
Wenn ich jemandem treu sein muß, dann in erster Linie mir selbst. Ich muß erst einmal die mittelmäßigen Lieben satt haben, die mir bislang über den Weg gelaufen sind, um mich dann auf die Suche nach der wahren Liebe zu begeben. Viel Lebenserfahrung habe ich nicht, aber eines weiß ich: daß man nichts besitzen kann, alles ist Illusion – sowohl materielle wie spirituelle Güter. Wer schon einmal etwas verloren hat, von dem er glaubte, er würde es nie verlieren (etwas, das mir so häufig passiert ist), weiß am Ende, daß ihm nichts gehört.
Und wenn ich nichts besitze, muß ich auch meine Zeit nicht damit vergeuden, mich um Dinge zu sorgen, die mir nicht gehören; es ist besser, ich lebe jeden Tag, als wäre es der erste (oder der letzte) Tag meines Lebens.
Am nächsten Tag teilte sie dem Schweizer durch Mailson mit, der sich nun als ihr empresario bezeichnete, sie nehme sein Angebot unter der Voraussetzung an, daß sie einen vom Schweizer Konsulat beglaubigten Vertrag erhalte. Der Schweizer, der solche Forderungen gewohnt zu sein schien, sagte, dies sei ganz in seinem Sinne, da man, um in seinem Land zu arbeiten, den Nachweis erbringen müsse, daß niemand sonst im Land diese Arbeit tun könnte – und dieser Nachweis sei unschwer zu erbringen, da Schweizerinnen keine besonders begabten Sambatänzerinnen seien. Sie gingen gemeinsam ins Stadtzentrum, der empresario verlangte bei der Vertragsunterzeichnung einen Vorschuß von fünfhundert Dollar in bar für Maria, von denen er dreißig Prozent einbehielt.
»Das ist ein Wochengehalt als Vorschuß. Eine Woche, verstehst du? Den Rest erhältst du ohne Abzug, ich bekomme nur bei der ersten Zahlung etwas.«
Bis zu jenem Augenblick war die Reise, der Gedanke, weit wegzufahren, nur ein Traum gewesen – und Träume sind sehr bequem, sofern wir nicht gezwungen sind, sie in die Tat umzusetzen. So gehen wir keine Risiken ein, vermeiden Frustrationen, schwierige Momente, und wenn wir alt sind, können wir immer den anderen die Schuld in die Schuhe schieben – vorzugsweise unseren Eltern, unseren Ehemännern oder unseren Kindern – dafür, daß wir unsere Träume nicht wahr gemacht haben.
Und nun war plötzlich die Chance da, auf die sie so sehr gewartet hatte, von der sie aber gewollt hätte, daß sie nie kam! Wie sollte sie sich den Herausforderungen und Gefahren eines Lebens stellen, das sie nicht kannte? Wie all das aufgeben, woran sie gewöhnt war? Warum hatte die Heilige Jungfrau sie vor eine derart schwierige Entscheidung gestellt?
Maria tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie es sich jederzeit anders überlegen könnte, daß alles nur ein unverbindlicher Spaß war – noch etwas, was sie später zu Hause erzählen könnte. Nun war sie mehr als tausend Kilometer von ihrer Heimat entfernt, hatte dreihundertfünfzig Dollar in der Tasche, und wenn sie morgen beschließen sollte, ihre Koffer zu packen und zu fliehen, würde keiner sie jemals wiederfinden.
Den Nachmittag nach dem Besuch im Konsulat verbrachte Maria allein am Strand, wo sie am Meer entlang spazierenging, den Kindern beim Spielen zusah und die Volleyballspieler, die Bettler, die Trinker und die Verkäufer von typisch brasilianischem Kunsthandwerk (made in China) beobachtete, Jogger und Fitneßfreaks, die sich durch Gymnastik jung halten wollten, ausländische Touristen, Mütter mit Kinderwagen und Rentner, die ganz hinten am Strand Karten spielten. Sie war nach Rio de Janeiro gekommen, hatte in einem erstklassigen Restaurant gegessen, einen Auslä nder kennengelernt, war in einem Konsulat gewesen, verfügte über einen empresario und hatte obendrein ein neues Kleid und ein neues Paar Schuhe geschenkt bekommen, die sich zu Hause niemand, wirklich niemand kaufen konnte.
Und jetzt?
Sie schaute aufs Meer, in die Richtung, in der sie aufgrund ihrer Geographiekenntnisse Afrika vermutete, Afrika mit seinen Löwen und seinen Urwäldern voller Gorillas. Wenn sie sich jedoch nicht immer geradeaus nach Osten, sondern auch ein wenig in Richtung Norden bewegte, würde sie in einem märchenhaften Reich namens Europa landen, wo es einen Eiffelturm, EuroDisney und den Schiefen Turm von Pisa gab. Was hatte sie zu verlieren? Sie hatte wie jede Brasilianerin Samba tanzen gelernt, noch bevor sie Mama sagen konnte; es stand ihr frei, zurückzukommen, wenn es ihr nicht gefiel. Sie hatte inzwischen gelernt, daß man Gelegenheiten beim Schöpfe packen mußte.
Sie hatte einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht, ›nein‹ zu Dingen zu sagen, zu denen sie gern ›ja‹ gesagt hätte, war entschlossen gewesen, nur Situationen zu durchleben, in denen sie die Kontrolle hatte – wie bei Abenteuern mit Männern, zum Beispiel. Jetzt stand sie vor dem Unbekannten, das so unbekannt war, wie dieses Meer einst für die Seefahrer gewesen war, die es überquert hatten – das hatte sie im Geschichtsunterricht gelernt. Sie konnte immer noch nein sagen, aber würde sie es dann nicht für den Rest ihres Lebens bereuen, so wie damals mit ihrer allerersten Liebe, ihrem Schulkameraden, der für immer verschwand? Warum sollte sie diesmal nicht ein Ja wagen?