Elf Minuten - Coelho Paulo 11 стр.


»Ich blicke dich fest an, und ich frage mich vielleicht: ›Kenne ich ihn von irgendwoher?‹ Oder ich bin zerstreut. Oder ich habe Angst, du könntest mich unsympathisch finden. Vielleicht kennst du mich, und ich lasse dich kurz im Zweifel, ob ich dich auch kenne oder dich mit jemandem verwechselt habe.

Aber ich könnte auch einfach einen Mann treffen wollen. Oder ich bin auf der Flucht vor einer Liebe, die mich hat leiden lassen. Ich könnte mich an jemandem rächen wollen, der mich betrogen hat, und beschließen, mir am Bahnhof einen Wildfremden anzulachen. Oder ich könnte mir wünschen, nur für diese Nacht deine Hure zu sein, nur um Abwechslung in mein ödes Leben zu bringen. Und ich könnte soga r tatsächlich eine Frau sein, die auf den Strich geht.«

Maria schwieg. Ihre Gedanken wanderten zurück in das Hotel am Fluß, zu der Demütigung – ›gelb‹, ›rot‹, ›Schmerz und viel Lust‹. Das hatte ihre Seele in einer Art und Weise durcheinandergebracht, die ihr nicht gefiel.

Ralf bemerkte es und versuchte, sie wieder in den Bahnhof zurückzuholen. »Begehrst du mich bei dieser Begegnung auch?«

»Ich weiß es nicht. Wir reden nicht miteinander. Du weißt es auch nicht.«

Sie war erneut abgelenkt. Die Idee mit dem ›Ro llenspiel‹ war jedenfalls sehr hilfreich; es ließ die wahre Person zutage treten, verscheuchte die vielen falschen Personen, die in ihr wohnten.

»Tatsache aber ist, daß ich meinen Blick nicht abwende, und du weißt nicht, was du machen sollst. Sollst du näher treten? Wirst du abgelehnt? Werde ich einen Aufsichtsbeamten rufen? Oder werde ich dich zu einer Tasse Kaffee einladen?«

»Ich komme gerade aus München zurück«, sagte Ralf Hart, und seine Stimme klang anders, fremd. »Ich habe vor, eine Reihe von Bildern über die verschiedenen Gesichter des Sex zu malen. Die vielen Masken, die die Menschen aufsetzen, um niemals die wahre Begegnung zu erleben.«

Er kannte sich mit Rollenspielen aus. Milan hatte gesagt, auch Ralf sei ein spezieller Freier. Die Alarmglocken schrillten, aber Maria brauchte Zeit, um nachzudenken.

»Der Museumsdirektor hat mich gefragt, was die Grundidee für mein Bild sei. Ich habe ihm geantwortet: ›Frauen, die sich frei fühlen und ihr Geld mit Sex verdienen.‹ Er meinte: ›Das geht nicht. Wir nennen solche Frauen Huren.‹ Ich entgegnete: ›Richtig, es sind Prostituierte, ich werde die Geschichte der Prostitution studieren und sie intellektuell aufbereiten, aber so, daß es dem Bildungsstand der Museumsbesucher entspricht. Kunst kann das, wissen Sie. Schwerverdauliches ansprechend darbieten.‹

Der Direktor beharrte: ›Aber Sex ist doch kein Tabu mehr. Das Thema ist schon so häufig abgehandelt worden, daß es schwierig ist, etwas Neues zu machen.‹ Ich habe darauf geantwortet: ›Wissen Sie überhaupt, woher das sexuelle Begehren kommt?‹ – ›Vom Instinkt her‹, sagte der Direktor. – ›Ja, vom Instinkt, das weiß jeder. Aber ich will keine wissenschaftliche Ausstellung machen. Ich möchte thematisieren, wie sich die Menschen diese Anziehungskraft erklären: ein Philosoph beispielsweise.‹ Der Direktor bat mich, ihm ein Beispiel zu nennen. Ich habe ihm gesagt: ›Wenn mich im Zug nach Hause eine Frau ansieht, werde ich mit ihr reden; ich werde zu ihr sagen, daß wir, da wir uns nicht kennen, die Freiheit haben, alles zu tun, wovon wir geträumt haben, unsere Phantasien auszuleben, und daß wir anschließend in unsere Wohnungen, zu unseren Ehepartnern zurückkehren und uns nie wieder sehen würden.‹ Und dann, am Bahnhof, sehe ich dich.«

»Deine Geschichte ist so spannend, daß das Begehren dabei verfliegt.«

Ralf lachte zustimmend. Der Wein war ausgetrunken, und der Maler ging in die Küche, um eine zweite Flasche zu holen. Maria blieb sitzen, blickte ins Feuer. Sie wußte, wie es weitergehen würde, genoß aber einstweilen die gemütliche Atmosphäre und vergaß den englischen Manager.

Ralf schenkte beide Gläser voll.

»Sag mal, wie würde diese Geschichte mit dem Direktor eigentlich ausgehen?«

»Da ich es mit einem Intellektuellen zu tun habe, würde ich Plato zitieren. Plato zufolge waren Männer und Frauen zu Beginn der Schöpfung nicht, was sie heute sind; es gab nur ein Wesen – klein, ein Körper, ein Hals und ein Kopf mit zwei Gesichtern, von denen jedes in eine andere Richtung blickte. So, als wären zwei Geschöpfe mit dem Rücken aneinandergeklebt, mit zwei verschiedenen Geschlechtern und mit vier Beinen und vier Armen.

Die Götter der alten Griechen aber waren eifersüchtig und erkannten, daß ein Geschöpf mit vier Armen mehr arbeiten konnte. Zudem hielten die beiden Gesichter ständig Wache, und daher konnte das Wesen nicht aus dem Hinterhalt angegriffen werden. Es verbrauchte weniger Energie, konnte mit vier Beinen länger laufen oder stehen. Und noch gefährlicher: Dieses Wesen war zweigeschlechtlich, es konnte sich also eigenständig fortpflanzen.

Da sagte Zeus, der oberste Gott im Olymp: ›Ich habe einen Plan, um diesen Sterblichen die Kraft zu nehmen.‹

Und mit einem Blitz spaltete er das Wesen in zwei Teile und schuf so Mann und Frau. Die Erdenbewohner verdoppelten sich dadurch auf einen Schlag, wurden aber gleichzeitig orientierungslos und schwach: nun mußten alle nach ihrem verlorenen anderen Teil suchen, ihn umarmen und in dieser Umarmung die alte Kraft wiedererlangen, die Fähigkeit zur Eintracht, die Zähigkeit, die es braucht, um lange Wege zurückzulegen und ermüdende Arbeit zu ertragen. Diese Umarmung, in der die beiden Körper wieder miteinander verschmelzen, nennen wir Sex.«

»Ist diese Geschichte wahr?«

»Nach Plato, ja.«

Maria sah ihn fasziniert an, und die Erlebnisse der vergangenen Nacht waren wie weggewischt.

Während er begeistert diese merkwürdige Geschichte erzählte, sah sie, wie der Mann, der vor ihr saß, von demselben Licht erfüllt war, das er in ihr gesehen hatte. Seine Augen glänzten nicht vor Begehren, sondern aus Freude.

»Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«

Ralf antwortete, sie dürfe ihn um alles bitten.

»Kannst du herausfinden, warum einige Menschen, nachdem die Götter jenes vierbeinige Wesen geteilt hatten, diese Umarmung, diese Verschmelzung als eine Sache, ein beliebiges Gewerbe ansahen – das ihnen keine Energie gab, sondern sie ihnen nahm?«

»Redest du von der Prostitution?«

»Genau. Kannst du herausfinden, ob der Sex anfangs etwas Heiliges war?«

»Wann immer du möchtest«, antwortete Ralf.

Maria hielt dem Druck nicht mehr stand.

»Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, daß Frauen, und vor allem auch Huren, fähig sind zu lieben?«

»Ja, der ist mir an dem Tag gekommen, als wir in dem Cafe in der Altstadt am Tisch saßen und ich dein Licht sah. Als ich dir einen Pastis spendierte, traf ich die Wahl, an alles zu glauben, auch an die Möglichkeit, daß du mich der Welt wiedergibst, die ich vor langer Zeit verlassen habe.«

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Maria, die Meisterin, mußte ihr sofort zur Hilfe kommen, sonst würde sie ihn küssen, ihn umarmen, ihn anflehen, sie nie zu verlassen.

»Kehren wir zum Bahnhof zurück«, sagte sie. »Oder besser gesagt, zu dem Tag, an dem wir zum ersten Mal hier bei dir waren und du erkannt hast, daß ich existiere, und mir ein Geschenk gemacht hast. Es war ein erster Versuch, um dir Zutritt zu meiner Seele zu verschaffen, obwohl du nicht wußtest, ob ich dich hereinlassen würde. Aber darum geht es ja auch in deiner Geschichte: Die Menschen wurden getrennt und sind nun auf der Suche nach dieser Umarmung, die sie wieder vereint. Das ist unser Instinkt. Aber auch der Ansporn dafür, alle Hindernisse zu überwinden, die sich bei dieser Suche einstellen.

Ich möchte, daß du mich anschaust, aber so, daß ich es nicht merke. Das erste Begehren ist wichtig, weil es ein verstecktes, unerlaubtes Begehren ist. Du weißt nicht, ob du deinen verlorenen Teil vor dir hast. Er weiß es auch nicht, aber die gegenseitige Anziehungskraft besteht – man muß nur daran glauben.«

›Woher nehme ich das bloß?‹ fragte sie sich. ›Ich hole das alles aus den Tiefen meines Herzens, weil ich wollte, es wäre immer so gewesen. Diese Träume gehören zu meinem eigenen Traum als Frau.‹

Sie zog einen Träger ihres Kleides etwas herunter, so daß ihr Brustansatz sichtbar wurde.

»Du begehrst nicht, was du siehst, sondern, was du dir vorstellst.«

Ralf Hart sah eine Frau mit schwarzem Haar und ebenso schwarzen Kleidern, die auf dem Boden seines Salons saß und verrückte Wünsche hatte wie den, mitten im Sommer den Kamin anzuzünden. Ja, er wollte sich vorstellen, was diese Kleider verhüllten, er konnte die Größe ihrer Brüste sehen, wußte, daß sie den Büstenhalter, den sie trug und der wahrscheinlich in ihrem Beruf vorgeschrieben war, nicht brauchte. Ihre Brüste waren weder groß noch klein, sie waren jung. Ihr Blick verriet nichts. Was machte sie da? Warum gab er dieser gefährlichen, unmöglichen Beziehung Nahrung? Er hatte kein Problem, eine Frau zu bekommen. Er war reich, jung, berühmt, sah gut aus. Er liebte seine Arbeit, hatte die Frauen, die er geheiratet hatte, geliebt und war wiedergeliebt worden. Er war ein Mensch, der eigentlich hätte sagen müssen: ›Ich bin glücklich.‹

Aber er war es nicht. Während die meisten Menschen um ein Stück Brot kämpften, ein Dach über dem Kopf, eine Arbeit, die ihnen erlaubte, in Würde zu leben, hatte Ralf Hart all das im Überfluß und fühlte sich deswegen nur um so kläglicher. Rückblickend könnte er in den letzten Jahren vielleicht zwei oder drei Tage nennen, an denen er aufgewacht, die Sonne oder den Regen gesehen und glücklich gewesen war, am Leben zu sein – wunschlos glücklich, planlos glücklich. Von diesen wenigen Tagen abgesehen, war der Rest seines Lebens mit Träumen, Frustrationen und Erfolgen und dem Wunsch dahingegangen, sich selbst zu übertreffen, Reisen über die eigenen Grenzen hinaus zu machen. Er hatte das ganze Leben damit verbracht, etwas zu beweisen, nur wußte er nicht genau, wem.

Er sah die schöne Frau an, die in diskretes Schwarz gekleidet war und die er zufällig getroffen hatte, obwohl er sie schon zuvor in einem Nachtclub gesehen und festgestellt hatte, daß sie nicht dorthin paßte. Sie wollte, daß er sie begehrte, und er begehrte sie sehr, viel mehr, als sie sich vorstellen konnte – aber es waren nicht ihre Brüste oder ihr Körper; er begehrte ihre Gesellschaft. Er wollte sie im Arm halten, dabei schweigend ins Feuer blicken, Wein trinken, die eine oder andere Zigarette rauchen – mehr nicht. Das Leben bestand aus einfachen Dingen, er war es leid, all diese Jahre etwas gesucht zu haben, von dem er nicht wußte, was es war.

Allerdings, wenn er das tat, wenn er sie berührte, wäre alles verloren. Denn trotz des ›Lichtes‹, das er in Maria sehen konnte, wußte er, wie sehr er sie vermissen würde, wie gut es an ihrer Seite war. Zahlte er? Ja. Und er würde für die Zeit bezahlen, die nötig war, um sie zu erobern, sich mit ihr an den See zu setzen, ihr von Liebe zu sprechen und von ihr das gleiche zu hören. Es war besser, nichts zu riskieren, die Dinge nicht zu überstürzen, nichts zu sagen.

Ralf Hart hörte auf, sich zu quälen, und konzentrierte sich wieder auf das Spiel, das sie beide soeben erfunden hatten. Die Frau, die vor ihm saß, hatte recht: Der Wein, die Zigarette, ihre Gegenwart allein genügte nicht; es bedurfte einer anderen Art von Trunkenheit, einer anderen Art von Feuer.

Sie trug ein Trägerkleid, er konnte ihre Haut sehen, ihre halb entblößte Brust, die eher bräunlich als weiß schimmerte. Er begehrte sie. Er begehrte sie sehr.

Maria sah die Veränderung in Ralfs Augen. Sich begehrt zu fühlen erregte sie mehr als alles andere. Es hatte nichts mit dem Standardablauf zu tun – ich möchte mit dir Liebe machen, will heiraten, will, daß du einen Orgasmus hast, will ein Kind haben, will Verbindlichkeit. Nein, das Begehren war ein freies Gefühl, ein im Raum schwebender Wunsch, der das Leben erfüllte – und das reichte; dieser Wunsch trieb alles voran, brachte Berge zum Einstürzen… und ließ ihr Geschlecht feucht werden.

Der Wunsch hatte am Anfang von allem gestanden – ihr Land zu verlassen, eine neue Welt zu entdecken, Französisch zu lernen, ihre Vorurteile zu überwinden, von einer Farm zu träumen, bedingungslos zu lieben, sich allein wegen des Blickes eines Mannes als Frau zu fühlen. Mit kalkulierter Langsamkeit streifte sie den anderen Träger herab, und das Kleid glitt an ihrem Körper herunter. Dann hakte sie den Büstenhalter auf. Sie blieb so, mit nacktem Oberkörper sitzen, fragte sich, ob er sich auf sie stürzen, sie berühren, Liebesschwüre stammeln würde ­oder ob er sensibel genug war, um das eigene Begehren als die wahre sexuelle Lust zu empfinden.

Alles um sie herum versank, es gab keine Geräusche mehr, der Kamin, die Bilder, die Bücher verschwammen. An ihre Stelle trat eine Art Trance, in der nur das obskure Objekt der Begierde existierte und nichts sonst von Bedeutung war.

Der Mann rührte sich nicht. Anfangs spürte sie eine gewisse Schüchternheit in seinen Augen, aber die hielt nicht an. Er betrachtete sie, und in Gedanken liebkoste er sie mit der Zunge, machten sie Liebe, schwitzten sie, umarmten sie sich, vermischten Zärtlichkeit mit Heftigkeit, schrien sie und stöhnten sie gemeinsam.

In Wirklichkeit dagegen sagten sie nichts, keiner von beiden rührte sich, und das erregte Maria noch mehr, weil auch sie frei war zu denken, was sie wollte. Sie stellte sich vor, wie sie ihn bat, sie sanft zu berühren, spreizte die Beine, masturbierte vor ihm, stieß liebevolle und vulgäre Worte hervor, als seien sie ein und dasselbe, hatte mehrere Orgasmen, weckte die Nachbarn auf, weckte die ganze Welt auf mit ihren Schreien. Da war ihr Mann, der ihr Lust und Freude schenkte, mit dem sie sie selbst sein konnte, mit dem sie über ihre sexuellen Probleme reden und dem sie auch sagen konnte, wie gern sie für den Rest der Nacht, der Woche, den Rest ihres Lebens bei ihm bleiben würde.

Ihre Gesichter waren schweißnaß. Es war der Kamin, sagte einer im Geiste dem andern. Aber Mann wie Frau waren an ihre Grenzen gelangt, indem sie ihre ganze Vorstellungskraft ausgeschöpft und miteinander eine Ewigkeit schöner Augenblicke erlebt hatten. Sie mußten aufhören; ein Schritt weiter, und die Magie des Augenblicks würde von der Wirklichkeit zerstört werden.

Ganz langsam – denn das Ende ist immer schwieriger als der Anfang – hakte sie den Büstenhalter wieder zu, verhüllte ihre Brüste. Sie waren zurück in der Wirklichkeit. Die Dinge ringsum tauchten wieder auf, sie zog das Kleid hoch, das ihr bis zur Taille heruntergerutscht war, lächelte und berührte sanft sein Gesicht. Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Wange, wußte auch nicht, wie lange er sie dort halten und wie kräftig er sie packen durfte.

Sie hätte ihm gern gesagt, daß sie ihn liebte. Aber das würde alles zerstören, es könnte ihn erschrecken oder noch schlimmer ­dazu führen, daß er ihr antwortete, daß er sie auch liebe. Maria wollte das nicht: Die Freiheit ihrer Liebe bestand darin, nichts zu erbitten und nichts zu erhoffen.

»Wer zu fühlen imstande ist, weiß, daß man Lust empfinden kann, noch bevor man den anderen berührt. Die Worte, die Blicke, alles enthält das Mysterium des Tanzes. Aber der Zug ist angekommen, jeder geht in seine Richtung. Ich hoffe, dich auf dieser Reise zu begleiten – wohin ging sie noch mal?«

»Zurück nach Genf«, war Ralfs Antwort.

»Wer genau hinschaut und den Menschen entdeckt, von dem er immer geträumt hat, der weiß, daß die sexuelle Energie noch vor der körperlichen Vereinigung da ist. Die größte Lust ist nicht der Sex, es ist die Leidenschaft, mit der dieser praktiziert wird. Wenn diese Leidenschaft von hoher Qualität ist, vollendet der Sex den Tanz, aber er ist niemals das Wichtigste.«

»Du redest über die Liebe wie eine Lehrerin.«

Maria fuhr fort, denn das war ihre Verteidigung, ihre Art, alles zu sagen, ohne sich selbst einzubringen:

»Liebende machen die ganze Zeit Liebe, selbst wenn sie gerade nicht miteinander schlafen. Wenn die Körper sich finden, ist das nur wie ein überlaufendes Glas. Liebende können stundenlang, tagelang beieinander sein. Sie können den Tanz an einem Tag beginnen und am nächsten beenden oder aus übergroßer Lust sogar überhaupt nicht wieder aufhören. Das hat nichts mit den elf Minuten zu tun.«

»Wie bitte?«

»Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.«

»Verzeih. Ich weiß nicht, was ich sage.«

»Ich auch nicht.«

Sie stand auf, gab ihm einen Kuß und ging hinaus.

Aus Marias Tagebuch am nächsten Morgen:

Gestern nacht, als Ralf Hart mich ansah, hat er verstohlen eine Tür aufgestoßen wie ein Dieb; doch er hat mir nichts gestohlen; im Gegenteil, es blieb ein Duft nach Rosen zurück ­als hätte mich mein Liebster besucht und nicht ein Dieb.

Jeder Mensch hat seine eigenen Wünsche, sein eigenes Begehren. Sie sind Teil seines Schatzes. Sie können jemanden fernhalten, aber gemeinhin ziehen sie denjenigen, der wichtig ist, an. Meine Seele hat dieses Gefühl gewählt, und es ist so intensiv, daß es sich auf alle und alles um mich herum übertragen kann.

Jeden Tag wähle ich aufs neue die Wahrheit, mit der ich leben will. Ich versuche, praktisch zu sein, effizient, professionell. Aber wenn ich könnte, würde ich immer meine Wünsche und mein Begehren zu Gefährten wählen. Nicht aus Notwendigkeit und auch nicht, um nicht so einsam zu sein, sondern einfach nur, weil es mir guttut, weil es gut ist.

Im Durchschnitt waren sie achtunddreißig Frauen, die regelmäßig ins ›Copacabana‹ kamen, aber Maria konnte nur eine, die Philippinin Nyah, annähernd als Freundin bezeichnen. Im allgemeinen blieben die Frauen zwischen sechs Monaten und drei Jahren da. Entweder wurden sie sofort weggeheiratet oder als feste Geliebte abgeworben, oder aber sie hatten keine Anziehungskraft mehr auf die Freier und wurden von Milan höflich gebeten, sich nach einem anderen Arbeitsplatz umzusehen.

Alle wußten, wie wichtig es war, die Kundschaft der anderen zu respektieren. Sich gegenseitig die Freier auszuspannen galt nicht nur als unehrenhaft, sondern konnte auch sehr gefährlich werden. Ein paar Tage zuvor hatte eine Kolumbianerin eine Rasierklinge aus der Tasche gezogen, sie auf das Glas einer Jugoslawin gelegt und seelenruhig gedroht, die Kollegin zu entstellen, wenn diese sich noch einmal unterstand, sich von einem ihrer Stammkunden, einem Bankdirektor, einladen zu lassen. Die Jugoslawin konterte, der Bankdirektor sei ein freier Mensch, sie könne nichts dafür, wenn er sie gewählt habe.

Am selben Abend kam der Mann herein, begrüßte die Kolumbianerin und ging dann zum Tisch der Jugoslawin. Er spendierte ihr einen Drink, und während er mit ihr tanzte, zwinkerte die Jugoslawin ihrer Rivalin zu – allzu provozierend, wie Maria fand –, als wollte sie sagen: ›Siehst du? Er hat mich gewählt.‹

Ein vielsagendes Zwinkern, das auch hieß: Er hat mich ausgesuc ht, weil ich hübscher bin, weil ich beim letzten Mal mit ihm mitgegangen bin und es ihm gefallen hat. Die Kolumbianerin sagte nichts. Als die Jugoslawin zwei Stunden später zurückkam, setzte die andere sich neben sie, holte seelenruhig die Rasierklinge aus der Tasche und fuhr der Rivalin mit der Klinge neben dem Ohr entlang. Der Schnitt war nicht tief, nicht gefährlich, aber doch so, daß eine kleine Narbe zurückblieb, die die andere immer an diese Nacht erinnern würde. Die beiden wurden handgreiflich, Blut spritzte, die Kunden verließen erschrocken das Lokal.

Als die Polizei kam und wissen wollte, was passiert war, sagte die Jugoslawin, sie habe sich an einem Glas geschnitten, das vom Regal heruntergefallen sei (im ›Copacabana‹ gab es keine Regale). Das war das Gesetz des Schweigens oder die omertá, wie die italienischen Prostituierten sagten: Alles, was man in der Rue de Berne unter sich erledigen konnte, von der Liebe bis hin zum Tod, erledigte man unter sich, ohne die Hüter des Gesetzes. Man machte selbst das Gesetz.

Die Polizei wußte von der omertá, wußte, daß die Frau log, und ließ die Sache trotzdem auf sich beruhen. Milan dankte den Beamten für ihr schnelles Eingreifen, entschuldigte sich für das Mißverständnis und murmelte etwas von einer Intrige eines Konkurrenten.

Sobald sie draußen waren, zitierte Milan die beiden Mädchen zu sich und setzte sie vor die Tür. Das ›Copacabana‹ sei ein anständiges Lokal (eine Behauptung, die Maria nicht ganz nachvollziehen konnte), das seinen guten Ruf wahren müsse (was Maria amüsierte) und in dem Handgreiflichkeiten schon aus Respekt vor der Kundschaft tabu seien. Das sei oberstes Gebot.

Zweites Gebot war das der totalen Diskretion, »wie bei einer Schweizer Bank«, sagte Milan, zumal die Kunden genauso handverlesen waren wie die Privatklientel einer Bank – sie verfügten über einen guten Leumund und ein ausgeglichenes Konto. Manchmal erschienen Kunden, die nicht hierherpaßten, und es war auch schon vorgekommen, daß Mädchen nicht bezahlt, angegriffen oder bedroht worden waren. Aber über die Jahre hatte Milan einen Blick dafür entwickelt, wen er hereinlassen durfte und wen nicht. Keine der Frauen wußte genau, wonach sich sein Maßstab richtete, aber es war mehrmals vorgekommen, daß er gutangezogene Herren aus einem halbleeren Lokal hinauskomplimentiert hatte mit der Begründung, alle Tische seien besetzt, was soviel hieß wie: Lassen Sie sich hier nicht mehr blicken! Andererseits hatte Milan auch unrasierte Leute in Sportkleidung spontan zu einem Glas Champagner eingeladen. Der Besitzer des ›Copacabana‹ beurteilte die Menschen eben nicht nach dem Aussehen, und er täuschte sich selten.

Bei einer guten Geschäftsbeziehung müssen alle Beteiligten zufrieden sein. Die meisten Freier waren verheiratet, gutsituiert, erfolgreich. Auch einige Prostituierte waren verheiratet, hatten Kinder und gingen zu Elternabenden in die Schule. Nur wenn der Vater eines Mitschülers ihrer Kinder im ›Copacabana‹ auftauchte, wurde es peinlich wenn auch nicht riskant, denn da die Situation für beide Seiten unangenehm war, schwiegen auch beide.

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