Elf Minuten - Coelho Paulo 13 стр.


»Hattest du keinen Orgasmus?«

»Nein«, sagte er. »Die Aufgabe des Meisters ist, die Sklavin zu zwingen. In der Lust der Sklavin liegt die Freude des Meisters.«

All das war unverständlich, weil es nicht dem entsprach, was sie darüber gehört hatte, und es im realen Leben so etwas nicht gab. Aber dies hier war die Welt der Phantasie. Maria fühlte sich voller Licht, und Terence wirkte matt, erschöpft.

»Du kannst gehen, wann du willst«, sagte er. »Ich möchte nicht gehen, ich möchte verstehen.«

»Da gibt es nichts zu verstehen.« Sie erhob sich, schön und intensiv in ihrer Nacktheit, und schenkte Wein in zwei Gläser. Sie zündete zwei Zigaretten an und reichte ihm eine – die Rollen hatten sich vertauscht, sie war die Meisterin, die den Sklaven bediente, ihn für die Lust entschädigte, die er ihr gegeben hatte.

»Ich werde mich gleich anziehen und gehen. Aber vorher würde ich gern noch ein bißchen reden.«

»Da gibt es nichts zu reden. Das genau wollte ich, und du warst wunderbar. Ich bin müde, morgen früh muß ich zurück nach London.«

Er legte sich aufs Bett und schloß die Augen. Maria wußte nicht, ob er nur so tat, als ob er schliefe, aber das war ihr gleichgültig. Sie rauchte genüßlich ihre Zigarette, trank langsam ihren Wein aus und schaute dabei, die Stirn an die Fensterscheibe gelehnt, auf den Fluß und auf den See hinunter; sie wünschte sich, ein anderer Mann könnte sie jetzt so sehen ­nackt, erfüllt, befriedigt, selbstsicher.

Sie kleidete sich an, ging grußlos hinaus. Da sie sich nicht sicher war, ob sie wieder hierher zurückkommen wollte, kam es ihr nicht darauf an, daß Terence ihr die Tür öffnete.

Terence hörte die Tür zuschlagen, wartete aber noch eine Weile, um zu sehen, ob sie zurückkam, weil sie noch etwas vergessen hatte. Dann stand er auf und zü ndete sich eine Zigarette an.

Das Mädchen hatte Klasse, dachte er. Sie hatte die Peitsche großartig zu nehmen gewußt, die gewöhnlichste, älteste und gleichzeitig leichteste der körperlichen Züchtigungen. Er erinnerte sich daran, wie er das erste Mal diese geheimnisvolle Verbindung zweier Menschen erlebt hatte, die sich einander nähern wollen, denen dies aber nur gelingt, indem sie einander weh tun.

Dort draußen übten sich unbewußt Millionen Paare in der Kunst des Sadomasochismus. Sie gingen zur Arbeit und wieder heim, beschwerten sich über alles, wurden handgreiflich, fühlten sich elend – waren aber zutiefst an das eigene Unglück gebunden und wußten nicht, daß es nur einer Geste bedurfte, eines ›Auf Nimmerwiedersehen‹, um sich aus der Unterdrückung zu befreien. Terence hatte das bei seiner ersten Ehefrau erlebt, einer berühmten englischen Sängerin. Er war von Eifersucht zerfressen gewesen, hatte ihr ständig Szenen gemacht, hatte tagsüber unter Beruhigungsmitteln und nachts unter Alkohol gestanden. Sie liebte ihn, verstand nicht, warum er das tat. Er liebte sie verstand aber ebensowenig, warum er sich so verhielt. Doch das wechselseitige Leid, das sie einander zufügten, schien für ihr Leben ebenso notwendig wie wesentlich.

Einmal hatte ein Musiker, der ihm unter all den exzentrischen Menschen merkwürdig normal vorgekommen war, ein Buch im Studio vergessen. Die Venus im Pelz von Leopold von Sacher-Masoch. Terence hatte darin geblättert und dabei einiges über sich selbst erfahren:

»Die schöne Frau entkleidete sich und nahm eine lange Peitsche mit einem kleinen Griff, den sie sich am Handgelenk befestigte. ›Du hast es so gewollt‹, sagte sie, ›also werde ich dich auspeitschen.‹ – ›Tu es‹, murmelte ihr Geliebter. ›Ich flehe dich an.‹«

Seine Frau befand sich auf der anderen Seite der Studioscheibe und probte. Sie hatte darum gebeten, das Mikrofon auszuschalten, das den Technikern erlaubte mitzuhören. Terence, der zwischen ihr und dem Pianisten eine Liaison vermutete, fiel es wie Schuppen von den Augen:

Seine Frau brachte ihn zum Wahnsinn, aber ihm war, als könne er ohne zu leiden nicht mehr leben, so sehr war es ihm schon zur Gewohnheit geworden.

»Ich werde dich auspeitschen«, sagte die nackte Frau in dem Roman, den er in der Hand hielt. »Tu es, ich flehe dich an«, murme lte ihr Geliebter.

Er sah gut aus, hatte Macht im Studio, warum mußte er so leben?

Weil es ihm gefiel. Es geschah ihm recht, daß er litt: das Leben war sehr gut zu ihm gewesen, und er hatte Geld, Achtung und Ruhm nicht verdient. Zudem glaubte er, daß er beruflich irgendwann an einen Punkt käme, an dem er vom Erfolg abhängig sein würde, und das erschreckte ihn, denn er hatte schon viele aus großer Höhe abstürzen sehen.

Er las das Buch ganz durch. Anschließend las er alles, was ihm über diese geheimnisvolle Verbindung zwischen Schmerz und Lust in die Hände fiel. Irgendwann entdeckte seine Frau die Videos, die er auslieh, die Bücher, die er versteckte, fragte, ob er krank sei. Terence sagte, es gehe ihm gut, dies sei nur Anschauungsmaterial für einen neuen Auftrag. Und ganz nebenbei machte er ihr den Vorschlag: »Vielleicht sollten wir das einmal ausprobieren.« Sie probierten es aus. Anfangs zaghaft, genau nach den Handbüchern, die sie in Pornoläden fanden. Allmählich entwickelten sie neue Techniken, riskierten mehr, gingen bis an ihre Grenzen – und konnten gleichzeitig spüren, wie ihre Ehe immer stabiler wurde. Sie waren Komplizen bei etwas Verborgenem, Verbotenem, Verdammtem.

Ihre Erfahrungen flossen in die Kunst ein: Sie kreierten ein spezielles Leder-Outfit mit Nieten. Seine Frau trat mit Peitsche, Strumpfhalter, Stiefeln auf und brachte das Publikum zum Rasen. Ihre neue Platte schaffte es auf den ersten Platz der englischen Hitparade und wurde in ganz Europa zu einem Riesenerfolg. Terence wunderte sich, wie selbstverständlich die Jugend seine persönlichen Phantasien aufnahm, und seine einzige Erklärung dafür war, daß sie darüber ihre latenten Wünsche nach Gewalt intensiv, aber harmlos ausleben konnten.

Die Peitsche wurde zum Markenzeichen der Band, tauchte auf T-Shirts, Aufklebern, Postkarten auf und als Tattoo. Weil er glaubte, sich dadurch besser selbst zu verstehen, machte Terence sich daran, den Ursprung dieser Phantasien zu studieren.

Am Anfang standen nicht, wie er Maria gegenüber behauptet hatte, die Flagellanten, die den schwarzen Tod abwenden wollten. Von Anbeginn der Zeit hatte der Mensch erkannt, daß Leiden, wenn es ohne Furcht angenommen wurde, zur Freiheit führen konnte.

Schon im alten Ägypten, in Rom und Persien wußten sie bereits, daß ein Mensch sein Land und die Welt rettet, wenn er sich opfert. In China wurde, wenn eine Naturkatastrophe hereinbrach, der Kaiser bestraft, weil er der Vertreter der Gottheit auf Erden war. Die besten Krieger Spartas im antiken Griechenland wurden einmal im Jahr von morgens bis abends zu Ehren der Göttin Artemis ausgepeitscht. Die Menge feuerte sie an, die Schmerzen mit Würde zu ertragen, denn sie bereiteten sie auf den Krieg vor. Am Ende des Tages untersuchten die Priester die Wunden auf dem Rücken der Krieger und lasen aus ihnen die Zukunft der Stadt.

Die Wüstenväter, eine alte christliche Klostergemeinschaft des vierten Jahrhunderts in Alexand ria, geißelten sich, um die Dämonen auszutreiben oder zu zeigen, wie nutzlos der Körper bei der spirituellen Suche war. Die Heiligenlegenden sind voll solcher Beispiele: So ging die heilige Rosa barfuß durch Dornengestrüpp, der heilige Dominik Loricatus geißelte sich regelmäßig vor dem Schlafengehen, die Märtyrer wählten freiwillig den qualvollen Tod am Kreuz oder in den Fängen wilder Tiere. Alle beteuerten, daß der Schmerz, wenn er erst einmal überwunden war, zur religiösen Ekstase führen könne. Jüngeren, unbestätigten Untersuchungen zufolge konnten sich in den Wunden bestimmte Pilze entwickeln und bei den Patienten Visionen hervo rrufen.

Die empfundene Lust schien so groß gewesen zu sein, daß Flagellation weltweit auch außerhalb der Klöster in Mode kam. 1718 wurde das Traktat über die Autoflagellation veröffentlicht, das lehrte, wie man durch Schmerz zu Lust kam, ohne daß dabei der Körper Schaden nahm. Schon zu Ende des 18. Jahrhunderts gab es in Europa Hunderte von Orten, an denen Menschen sich geißelten, um Freude zu erfahren. Als Beleg gibt es Aufzeichnungen von Königen und Prinzessinnen, die sich von ihren Sklaven auspeitschen ließen, bis sie herausfanden, daß die Lust nicht nur darin bestand, geschlagen zu werden, sondern auch dann, Schmerz zuzufügen – obwohl es mühsamer und undankbarer war.

Während er seine Zigarette zu Ende rauchte, dachte Terence mit einer gewissen Genugtuung, daß wohl die wenigsten, wenn sie es nicht selbst erlebt hatten, dies je nachvollziehen könnten. Er gehörte einer Art verschworener Gemeinschaft an, zu der nur wenige Auserwählte Zutritt hatten. Aber es war vermutlich besser so. Er brauchte nur daran zu denken, wie aus seiner qualvollen Ehe eine wunderbare Ehe geworden war. Seine Frau wußte, warum er in Genf war. Sie hatte nichts dagegen – im Gegenteil. Sie freute sich, wenn ihr Mann nach einer harten Arbeitswoche die Belohnung erhielt, die er sich wünschte.

Das Mädchen, das gerade gegangen war, hatte alles verstanden. Er fühlte, daß seine Seele ihrer Seele nah war. Doch er war nicht bereit, sich zu verlieben, denn er liebte seine Frau. Aber ihm gefiel der Gedanke, daß er frei war, von einer neuen Beziehung zu träumen.

Er mußte sie nur noch das Schwierigste erleben lassen: sich in die Venus im Pelz zu verwandeln, in die Dominatrix, die Meisterin, die imstande war, erbarmungslos zu demütigen und zu züchtigen. Bestand sie auch diese Probe, so war er bereit, sein Herz zu öffnen und sie hereinzulassen.

Trunken von Wodka und von Lust notierte Maria in ihr Tagebuch:

Als ich nichts zu verlieren hatte, hatte ich alles. Als ich aufhörte, die zu sein, die ich war, habe ich mich selbst gefunden.

Als ich die Demütigung und die totale Unterwerfung erfahren habe, war ich frei. Ich weiß nicht, ob ich krank bin oder ob alles nur ein Traum war oder nur einmal im Leben geschieht. Ich weiß nur, daß es für mich nicht lebensnotwendig ist, aber ich würde ihn gern noch einmal treffen, das Erlebnis wiederholen, noch weiter gehen, ah ich bisher gegangen bin.

Ich bin ein bißchen erschrocken, wie weh es tat, aber der Schmerz war weniger stark als die Demütigung – er war nur ein Vorwand. In dem Augenblick, in dem ich den ersten Orgasmus hatte – den keiner der vielen Männer in den letzten Monaten in mir erwecken konnte –, fühlte ich mich (paradoxerweise?) Gott näher. Ich erinnerte mich an das, was Terence über den schwarzen Tod gesagt hatte und über die Flagellanten, die ihren Schmerz zur Rettung der Menschheit darbrachten und darin Lust fanden. Ich selbst wollte weder die Menschheit noch ihn retten; ich war einfach nur dort.

Bei der körperlichen Liebe liegt die Kunst in der Kontrolle und im Kontrollverlust.

Diesmal war es kein Rollenspiel. Sie waren tatsächlich zum Bahnhof gegangen. Maria hatte Ralf darum gebeten, weil es dort ihre Lieblingspizza gab. Es konnte nicht schaden, etwas kapriziös zu sein. Ralf hätte einen Tag früher wieder auftauchen sollen, als sie noch eine Frau war, die die Liebe, ein Kaminfeuer, Wein und Begehren suchte. Aber das Leben hatte anders entschieden, und heute war sie schon deshalb den ganzen Tag ohne ihre Übung ausgekommen, sich auf die Geräusche und die Gegenwart zu konzentrieren, weil sie keinen Augenblick an Ralf gedacht und dafür Dinge herausgefunden hatte, die sie viel mehr interessierten.

Was sollte sie mit dem Mann anfangen, der neben ihr saß und eine Pizza verspeiste, die er vielleicht nicht einmal mochte, nur damit Maria ihn anschließend nach Hause begleitete? Als er in den Nachtclub kam und sie zu einem Drink einlud, hatte Maria mit dem Gedanken gespielt, ihm zu sagen, daß sie kein Interesse mehr habe, daß er sich jemand andern suchen solle; andererseits mußte sie unbedingt mit jemandem über die vergangene Nacht reden.

Sie hatte versucht, mit der einen oder anderen Kollegin ins Gespräch zu kommen, die auch ›spezielle Freier‹ bediente, aber keine ließ sich dazu herab, denn die meisten empfanden die gewitzte Maria als potentielle Bedrohung. Von allen Männern, die sie kannte, würde vermutlich nur Ralf Hart sie verstehen, zumal er laut Milan auch ein ›spezieller Freier‹ war. Aber nun blickte er sie mit vor Liebe leuchtenden Augen an, und das machte alles noch schwieriger. Vielleicht war es besser, gar nichts zu sagen. »Was weißt du über Schmerz, Leid und viel Lust?« Sie hatte sich mal wieder nicht beherrschen können.

Ralf sagte: »Ich weiß alles darüber. Aber es interessiert mich nicht.« Die Antwort war schnell gekommen, und Maria war schockiert. Wußten also alle etwas darüber, nur sie nicht? Großer Gott, was war das bloß für eine Welt?

»Ich habe meine Dämonen und meine Schattenseiten kennengelernt«, fuhr Ralf fort. »Ich bin bis zum Grund gegangen, habe alles ausprobiert, nicht nur in diesem Bereich, in vielen and eren Bereichen auch. Dennoch bin ich in der Nacht, in der wir uns zuletzt gesehen haben, über meine Grenzen des Begehrens – nicht des Schmerzes hinausgegangen. Ich bin in die Tiefe meiner Seele hinabgetaucht und weiß, daß ich noch viel vom Leben erwarte.« Er hätte am liebsten gesagt: »Und ein Teil davon bist du, bitte geh diesen Weg nicht weiter.« Aber er traute sich nicht. Statt dessen rief er ein Taxi und bat den Fahrer, sie an den See zu fahren, wo sie eine Ewigkeit zuvor, an dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, spazierengegangen waren. Maria wunderte sich über die Bitte, sagte aber nichts, denn obwohl ihr Verstand noch benebelt war von den Ereignissen der vergangenen Nacht, spürte sie instinktiv, daß viel auf dem Spiel stand.

Erst unten an der Seepromenade erwachte sie aus ihrer Benommenheit. Es war noch Sommer, aber nachts schon empfindlich kalt.

»Was wollen wir hier?« fragte sie, als sie aus dem Taxi stiegen. »Der Wind ist frisch, ich werde mich erkälten.«

»Ich habe über das nachgedacht, was du am Bahnhof gesagt hast. Leid und Lust. Zieh deine Schuhe aus.«

Darum hatte sie schon einmal einer ihrer Freier gebeten und schon beim Anblick ihrer Füße eine Erektion bekommen. Sollte das Abenteuer sie nicht in Ruhe lassen?

»Ich werde mich erkälten.«

»Tu, was ich dir sage«, beharrte er. »Du wirst dich nicht erkälten, weil wir nicht lange bleiben werden. Vertrau mir, wie ich dir vertraue.«

Maria hätte es nicht begründen können, aber irgendwie spürte sie, daß er ihr helfen wollte; vielleicht, dachte sie, hatte er Dinge erlebt, die er ihr ersparen wollte. Aber Maria mochte sich nicht helfen lassen; sie war mit ihrer neuen Welt zufrieden, in der, wie sie herausgefunden hatte, der Schmerz kein Problem mehr war. Doch dann dachte sie an Brasilien, daran, daß es unmöglich sein würde, dort einen Partner zu finden, mit dem sie dieses neue Universum teilen könnte. Sie zog die Schuhe aus. Der Boden war mit spitzen Kieselsteinchen bedeckt, die ihre Strümpfe zerrissen – egal, sie konnte sich neue kaufen.

»Zieh die Jacke aus!«

Sie hätte nein sagen können, aber letzte Nacht hatte sie herausgefunden, welche Freude es bedeutete, zu allem ja zu sagen, was ihr begegnete. Sie zog die Jacke aus, ihr Körper war noch warm und reagierte nicht gleich, ließ sie erst nach und nach frösteln.

»Laß uns gehen. Und laß uns dabei miteinander reden.«

»Das geht nicht; der Boden ist zu steinig.«

»Gerade deswegen; ich möchte, daß du diese Steine spürst, möchte, daß sie dir weh tun, weil du offensichtlich – genauso wie ich – Schmerz in Verbindung mit Lust erlebt hast, eine Erfahrung, die ich dir aus der Seele reißen muß.« Maria hätte am liebsten gesagt: ›Laß nur. Mir gefällt's.‹ Doch sie ging langsam, und die spitzen Steinchen brannten unter ihren kalten Fußsohlen.

»Eine meiner Ausstellungen hat mich genau zu dem Zeitpunkt nach Japan geführt, als ich in das verwickelt war, was du ›Leid, Demütigung und viel Lust‹ genannt hast. Damals glaubte ich, es gebe keinen Weg zurück, daß ich nur immer tiefer hineingeraten und von meinem Leben nichts übrigbleiben würde außer dem Wunsch, zu züchtigen und gezüchtigt zu werden. Wir sind schließlich Menschen, wir entwickeln früh Schuldgefühle, haben Angst, wenn das Glück machbar wird, und haben den Drang, die anderen zu bestrafen, weil wir uns ständig ohnmächtig, ungerecht behandelt und unglücklich fühlen. Für seine Sünden bezahlen und die Sünder bestrafen können – ist das nicht köstlich? Ja, das ist wunderbar.«

Maria ging weiter, Schmerzen und Kälte machten es ihr schwer, genau auf seine Worte zu achten. »Du hast Spuren an den Handgelenken.« Die Handschellen. Sie hatte mehrere Armbänder angelegt, um die Spuren zu verbergen. Doch was man kennt, sieht man.

»Nun, wenn alles, was du in deinem Leben erlebt hast, dich zu diesem Schritt bewogen hat, bin ich der letzte, der dich daran hindern will; aber er hat nichts mit dem wahren Leben zu tun…«

»Welcher Schritt?«

»Schmerz und Lust. Sadismus und Masochismus. Nenne es, wie du willst. Aber wenn du überzeugt bist, daß dies dein Weg ist, werde ich leiden, mich an das Begehren erinnern, an unsere Begegnungen, an den Spaziergang auf dem Jakobsweg, an dein Licht. Ich werde deinen Kugelschreiber in Ehren halten, und jedesmal, wenn ich den Kamin anzünde, werde ich mich an dich erinnern. Aber ich werde dich nicht mehr besuchen.«

Maria bekam Angst, fand, daß der Augenblick gekommen war, einen Rückzieher zu machen, die Wahrheit zu sagen, aufzuhören, so zu tun, als wisse sie mehr als er.

»Was ich vor kurzem, oder vielmehr gestern, erlebt habe, hatte ich bisher noch nie erlebt. Und es erschreckt mich, daß ich an der äußersten Grenze der Entwürdigung mich selbst gefunden habe.«

Ihre Zähne klapperten, ob vor Schmerz oder vor Kälte, vermochte sie nicht zu sagen, und ihre Füße brannten höllisch.

»Zu meiner Ausstellung in einer Region namens Kumano kam ein Holzfäller«, fuhr Ralf unbeirrt fort. »Ihm gefielen meine Bilder nicht, aber er konnte sie deuten und begriff, was ich erlebte und fühlte. Am nächsten Tag kam er zu mir ins Hotel und fragte, ob ich zufrieden sei; wenn ja, könnte ich ruhig so weitermachen. Sonst würde er mich einladen, ihn ein paar Tage zu begleiten. Er hat mich auf Steinen gehen lassen, so wie ich dich. Er hat mich Kälte spüren lassen. Hat mich dazu gebracht, die Schönheit des Schmerzes zu begreifen, nur daß dies ein von der Natur und nicht vom Menschen verursachter Schmerz war. Er sagte, es sei eine Übung des Shugendo, einer jahrhundertealten Religion.

Er sagte auch, daß er den Schmerz nicht fürchte. Um seine Seele zu beherrschen, müsse man auch seinen Körper beherrschen lernen. Und er sagte mir, daß ich den Schmerz falsch benutze und dies sehr schädlich sei. Dieser ungebildete Holzfäller glaubte mich besser zu kennen als ich mich selbst, und das ärgerte mich. Zugleich aber machte es mich stolz, zu sehen, daß meine Bilder so genau ausdrückten, was ich fühlte.«

Maria spürte, wie sich ein ganz besonders spitzer Stein in ihre Fußsohle bohrte, aber die Kälte war stärker als der Schmerz, ihre klammen Glieder waren gefühllos, und sie vermochte Ralfs Worten nicht recht zu folgen. Warum wollten die Männer in Gottes schöner Welt ihr bloß immer nur den Schmerz zeigen? Den heiligen Schmerz, den lustvollen Schmerz, den Schmerz mit oder ohne Erklärungen, immer nur Schmerz, Schmerz, Schmerz…

Sie stieß mit dem verletzten Fuß an einen anderen Stein; sie unterdrückte einen Schrei und ging weiter. Anfangs hatte sie versucht, ihre Selbstbeherrschung, ihre Integrität, all das zu bewahren, was er ›Licht‹ nannte. Aber jetzt bewegte sie sich langsam, während ihre Gedanken im Kreis gingen, so daß ihr davon ganz übel wurde. Sie war drauf und dran stehenzubleiben, nichts davon ergab einen Sinn, und dennoch blieb sie nicht stehen.

Sie blieb aus Selbstachtung nicht stehen; sie hätte so lange weiter barfuß gehen können, wie es notwendig war, es würde nicht ein ganzes Leben lang dauern. Und plötzlich dachte sie: Was ist, wenn ich morgen nicht im ›Copacabana‹ erscheine, wegen einer ernsthaften Fußverletzung oder Grippe und Fieber, weil ich nicht warm genug angezogen war? Sie dachte an die Freier, die auf sie warteten, an Milan, der ihr so sehr vertraute, an das Geld, das sie nicht verdienen würde, an die Farm, an ihre Eltern, die so stolz auf sie waren. Aber vor Schmerz konnte sie nicht weiter nachdenken, und so setzte sie nur brav einen Fuß vor den anderen und wünschte sich sehnlich, Ralf möge endlich ihre Mühen anerkennen und ihr sagen, es sei genug, sie könne ihre Schuhe wieder anziehen.

Doch Ralf wirkte unbeteiligt, weit weg, als könne er sie nur so von der Versuchung befreien, die am Ende tiefere Spuren hinterlassen würde als die Handschellen. Obwohl sie wußte, daß er ihr helfen wollte, und obwohl sie sich bemühte, weiterzugehen und ihm das Licht ihrer Willenskraft zu zeigen, ließ der Schmerz weder profane noch edle Gedanken zu – er war nur Schmerz, nahm allen Raum ein, machte ihr angst und zwang sie, ihre Grenzen wahrzunehmen.

Doch sie tat einen Schritt vorwärts. Und noch einen.

Der Schmerz nahm jetzt ihre Seele in Besitz und schwächte sie, denn es ist eine Sache, in einem Fünfsternehotel nackt, mit Wodka, Kaviar und einer Peitsche zwischen den Beinen etwas Theater zu machen, aber etwas ganz anderes war es, barfuß durch die Kälte über spitze Steine zu gehen. Maria fühlte sich verloren, brachte kein Wort heraus. Ihre Welt bestand nur noch aus kleinen spitzen Steinen, die den Weg zwischen den Bäumen markierten.

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