Elf Minuten - Coelho Paulo 5 стр.


Aber sie war ja nicht auf der Suche nach Lust, sondern nach Arbeit. Sie dankte der Bibliothekarin, ging in ein Dessousgeschäft und tätigte eine erste Investition in die Karriere, die sich möglicherweise am Horizont abzeichnete – Wäsche, die sie aufreizend fand. Anschließend begab sie sich in die Rue de Berne. Diese begann bei einer Kirche (und zufällig ganz in der Nähe des japanischen Restaurants, in dem sie am Tag zuvor zu Abend gegessen hatte), wurde dann zu einer Straße mit Schaufenstern, in denen billige Uhren zum Verkauf angeboten wurden, und an ihrem Ende lagen alle Nachtclubs, von denen sie gehört hatte. Zu dieser Tageszeit waren sie allerdings geschlossen. Sie ging wieder an den See und kaufte dort, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, fünf Pornozeitschriften, die sie dann eingehend im Hinblick auf mögliche Wünsche ihrer künftigen Kunden studierte. So brachte sie die Zeit herum, bis es Abend wurde, und ging dann wieder in die Rue de Berne. Dort suchte sie sich eine Bar mit dem suggestiven Namen ›Copacabana‹ aus.

Noch hatte sie nichts entschieden, sagte sie zu sich selbst. Es war nur ein Versuch. Sie hatte sich in der ganzen Zeit, seit sie in der Schweiz war, nie besser und freier gefühlt.

»Suchen Sie Arbeit?« fragte der Besitzer, der hinter einem Tresen Gläser wusch. Das Lokal bestand aus ein paar Tischen, einer Ecke mit einer Art Tanzfläche und ein paar an die Wand gestellten Sofas. »Daraus wird nichts. Es sei denn, Sie haben eine Arbeitsbewilligung. Denn hier wird das Gesetz eingehalten.«

Maria zeigte ihren Ausweis, und der Mann schien gleich bessere Laune zu bekommen.

»Haben Sie Erfahrung?«

Sie wußte nicht, was sie antworten sollte: würde sie ja sagen, so würde er fragen, wo sie vorher gearbeitet hatte. Würde sie nein sagen, so würde er sie möglicherweise ablehnen.

»Ich schreibe an einem Buch.«

Der Gedanke war aus dem Nichts gekommen, wie von einer fremden Stimme eingeflüstert. Sie merkte, daß der Mann wußte, daß sie log, auch wenn er so tat, als glaube er ihr.

»Bevor Sie sich entscheiden, sollten Sie mit einem der Mädchen sprechen. Wir haben hier jede Nacht mindestens sechs Brasilianerinnen. Die können Ihnen sagen, was Sie hier erwartet.«

Maria wollte noch sagen, daß sie keine Ratschläge brauche, daß sie sich noch nicht entschieden habe, aber der Mann hatte sie stehenlassen und war zur anderen Seite der Bar gegangen, ohne ihr auch nur ein Glas Wasser anzubieten.

Die anderen Mädchen stellten sich ein, und der Besitzer machte Maria mit ein paar Brasilianerinnen bekannt. Keine von ihnen schien große Lust zu haben, mit der Neuen zu sprechen. Vielleicht haben sie Angst vor der Konkurrenz, dachte Maria. Dann erklang Musik, ein paar brasilianische Lieder (das Lokal hieß nicht umsonst ›Copacabana‹), und es kamen noch mehr Mädchen, einige mit asiatischen Gesichtszügen und andere, die aussahen, als seien sie direkt von den beschneiten, romantischen Bergen rund um Genf heruntergestiegen. Doch sie alle, wie auch der Besitzer, behandelten Maria wie Luft. Allmählich beschlich sie das Gefühl, daß selbst dieser Versuch schon eine falsche Entscheidung war. Endlich, nach zwei Stunden sie war inzwischen fast am Verdursten und hatte nur eine Zigarette nach der anderen geraucht –, kam eine der Brasilianerinnen zu ihr.

»Warum hast du dieses Lokal ausgesucht?«

Maria konnte wieder auf die Geschichte mit dem Buch zurückgreifen oder das tun, was sie getan hatte, als es um die Kurden und Joan Miro ging: die Wahrheit sagen.

»Wegen des Namens. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, und ich weiß auch nicht, ob ich anfangen will.«

Das Mädchen war von dieser ehrlichen, geraden Antwort sichtlich überrascht. Sie trank einen Schluck von einem Getränk, das wie Whisky aussah. Sie habe Heimweh nach Brasilien, sagte sie. Heute abend würde wenig los sein, weil gerade ein großer Kongreß, der in der Umgebung von Genf stattfinden sollte, abgesagt worden sei. Als sie merkte, daß Maria gehen wollte, hielt sie sie zurück:

»Es ist ganz einfach, du mußt nur drei Regeln einhalten. Die erste lautet: Verliebe dich in niemanden, mit dem du zusammenarbeitest oder mit dem du für Geld ins Bett gehst. Die zweite: Glaube nicht an Versprechen und bestehe auf.

Vorauszahlung. Die dritte: Keine Drogen.«

Und nachdem sie kurz innegehalten hatte:

»Und fang gleich an. Wenn du heute nach Hause gehst, ohne zuvor mit einem Freier weggegangen zu sein, wirst du es dir morgen zweimal überlegen und nicht den Mut aufbringen wiederzukommen.«

Maria war nur auf ein Informationsgespräch vorbereitet gewesen, fühlte sich in die Enge getrieben und entschied blitzschnell, wie in Panik, daß sie die Herausforderung annehmen wollte.

»In Ordnung. Ich fange heute an.« Daß sie erst gestern zum ersten Mal mit einem Freier zusammengewesen war, verschwieg sie. Die Frau ging zum Besitzer, den sie Milan nannte, und er kam, um sich mit Maria zu unterhalten.

»Tragen Sie hübsche Unterwäsche?« Das hatte sie noch keiner gefragt. Nicht einmal ihre Liebhaber, auch der Araber und ihre Freundinnen nicht, noch viel weniger ein Fremder. Aber hier kam man direkt zur Sache.

»Ich trage einen hellblauen Slip. – Und keinen Büstenhalter«, fügte sie provozierend hinzu.

Aber sie wurde nur getadelt: »Morgen tragen Sie bitte einen schwarzen Slip, einen passenden BH, Strumpfhalter und Strümpfe. Es gehört zum Ritual, soviel Wäsche wie möglich auszuziehen.«

Und da er sicher war, eine Anfängerin vor sich zu haben, brachte ihr Milan gleich noch den Rest des Rituals bei. Dazu gehörte, daß die Männer, die hierherkamen, im Glauben belassen wurden, das ›Copacabana‹ sei ein gewöhnlicher Nachtclub, kein Bordell. Die Männer kamen in der Absicht, dort eine Frau anzutreffen, die zufällig ohne Begleitung war. Wenn jemand zu Maria an den Tisch trat und daran nicht gehindert wurde, weil er als »exklusiver Freier« eines bestimmten Mädchens galt, würde er sie als erstes zu einem Drink einladen.

Darauf könne Maria mit Ja oder Nein antworten. Es stand ihr frei, ihre Begleitung auszuwählen, obwohl es nicht ratsam war, pro Abend mehr als einmal Nein zu sagen. Wenn die Antwort Ja war, müsse sie einen Fruchtcocktail wählen, das rein zufällig teuerste Getränk auf der Karte. Kein Alkohol, und der Freier dürfe nie für sie aussuchen.

Als nächstes wollten die Männer normalerweise tanzen. Die meisten waren Stammkunden und harmlos. Auf die »exklusiven Freier« ging Milan nicht näher ein. Die Polizei und das Gesundheitsministerium würden monatliche Blutunter­suchungen verlangen, um sicherzustellen, daß sie keine ansteckenden Geschlechtskrankheiten hatte. Der Gebrauch eines Präservativs sei Pflicht, obwohl er, Milan, das natürlich nicht überprüfen könne. Sie dürften niemals einen Skandal heraufbeschwören – Milan war verheiratet, ein Familienvater, der um seinen guten Ruf und den guten Namen des Nachtclubs besorgt war.

Er fuhr mit der Beschreibung des Rituals fort: Nach dem Tanzen bringe der Freier sie an den Tisch zurück und tue dann so, als wäre ihm völlig überraschend die Idee gekommen, sie einzuladen, mit ihm in ein Hotel zu gehen. Der normale Tarif sei dreihundertfünfzig Franken, von denen Milan fünfzig als Tischmiete bekam (ein legaler Trick, mit dem er sich mögliche Klagen vom Hals hielt).

Maria versuchte zu verhandeln: »Aber ich habe doch eintausend Franken für…«

Doch Milan ignorierte ihren Einwand und wollte schon weggehen, da schaltete sich die Brasilianerin, die das Gespräch mitgehört hatte, ein.

»Sie macht nur Spaß«, sagte sie beschwichtigend. Und zu Maria sagte sie in schönem, wohlklingendem Portugiesisch: »Sag das nicht noch einmal. Dies ist das teuerste Lokal von Genf. Er kennt die Preise und weiß, daß keiner tausend Franken bezahlt, um mit jemandem ins Bett zu gehen, ausgenommen ­wenn du Glück hast und gut bist – ›spezielle Freier‹.«

Milan (Maria würde später feststellen, daß er Jugoslawe war und seit zwanzig Jahren in der Schweiz lebte) warf ihr einen Blick zu, der besagte: Dreihundertfünfzig Franken und keinen Rappen mehr.

»Richtig, das ist der Preis«, sagte Maria beschämt. Zuerst entschied er über die Farbe ihrer Unterwäsche, jetzt über den Preis ihres Körpers.

Aber er ließ ihr keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, und fuhr mit seinen Instruktionen fort: Keine Einladungen in Häuser oder Hotels, die nicht der Fünfsternekategorie angehörten. Im Zweifelsfall müsse sie ihren Freier in ein Hotel bringen, das ein paar Häuserblocks entfernt lag. Und immer im Taxi, angeblich um zu verhindern, daß die Frauen der anderen Clubs in der Rue de Berne sich das Gesicht des Freiers merkten. Maria dagegen glaubte, der wahre Grund sei vielmehr, daß dieser Freier es sich auf dem Weg sonst anders überlegen könnte. Aber diesmal behielt sie ihre Gedanken für sich – die Diskussion über den Preis hatte ihr gereicht.

»Und wie gesagt: Kein Alkohol im Dienst – wie die Polizisten im Film. Ich lasse Sie jetzt allein, bald geht der Betrieb los.«

»Sag danke«, sagte die Brasilianerin auf portugiesisch.

Maria bedankte sich. Milan lächelte, aber dann kam ihm noch eine letzte Verhaltensregel in den Sinn: »Ehe ich's vergesse: Die Zeit zwischen dem Bestellen eines Getränks und dem Verlassen des Lokals darf nicht mehr als fünfundvierzig Minuten betragen, maximal fünfundvierzig Minuten – in der Schweiz, wo überall Uhren hängen, lernen sogar Jugoslawen und Brasilianer, pünktlich zu sein. Vergessen Sie nicht, daß ich mit den Kommissionen meine Kinder ernähre.«

Das würde sie bestimmt nicht vergessen.

Damit drückte er ihr ein Glas Mineralwasser mit Kohlensäure und Zitrone in die Hand, das man leicht für einen Gin Tonic halten konnte, und bat sie zu warten. Der Nachtclub belebte sich allmählich; Männer kamen herein, schauten sich um. Kaum hatten sie sich gesetzt, gesellte sich ein Mädchen wie selbstverständlich zu ihnen, als wären sie alte Bekannte und wollten sich jetzt nach einem langen Arbeitstag gemeinsam etwas amüsieren. Bei jedem Mann, der eine Begleiterin fand, atmete Maria erleichtert auf. Sie fühlte sich allerdings schon sehr viel besser. Vielleicht, weil sie in der Schweiz und nicht zu Hause war, vielleicht, weil sie früher oder später das Abenteuer, Geld oder einen Mann finden würde, wie sie es sich immer erträumt hatte. Vielleicht auch, weil sie seit Wochen zum ersten Mal abends ausging und in einem Lokal gelandet war, wo brasilianische Musik spielte und wo jemand sie auf portugiesisch angesprochen hatte. Sie scherzte und lachte mit den anderen Mädchen, die um sie herum saßen, trank Fruchtcocktails, unterhielt sich fröhlich.

Keine von ihnen hatte sie begrüßt oder in ihrem neuen Beruf willkommen geheißen, aber sie hatte nichts anderes erwartet, schließlich war sie eine Konkurrentin, die um dieselben Trophäen stritt. Sie fühlte sich nicht deprimiert, sondern stolz ­denn sie kämpfte und war nicht hilflos. Sie konnte jederzeit durch die Tür hinaustreten und gehen, aber sie würde sich immer daran erinnern, daß sie den Mut gehabt hatte, bis hierher zu kommen, Dinge auszuhandeln und zu besprechen, an die sie bisher nie auch nur zu denken gewagt hatte. Sie war kein Opfer des Schicksals, sagte sie sich immer wieder: Sie riskierte etwas, übertrat Grenzen, erlebte Dinge, auf die sie später in der Stille ihres Herzens, im Alter, sehnsüchtig zurückblicken würde.

Niemand würde kommen und sie ansprechen, ganz bestimmt nicht. Keiner würde morgen behaupten, daß alles nur ein verrückter Traum gewesen sei, den sie nie mehr zu träumen wagen würde. Denn sie hatte begriffen, daß tausend Franken für eine Nacht ihr wahrscheinlich nicht noch einmal angeboten werden würden und daß es sicherer war, einen Rückflug nach Brasilien zu buchen. Zum Zeitvertreib rechnete sie nach, wieviel jedes dieser Mädchen verdiente: Wenn sie dreimal pro Abend mit einem Freier weggingen, verdienten sie in fünf Arbeitsstunden soviel wie Maria vorher in zwei Monaten im Stoffladen.

So viel? Nun ja, sie selbst hatte in einer Nacht tausend Franken verdient, aber vielleicht war das nur Anfängerglück. Auf jeden Fall aber war ihr Verdienst als normale Prostituierte sehr viel höher als das Gehalt einer Französischlehrerin in ihrem Heimatstädtchen. Dabei mußte sie dafür nur eine Zeitlang in einer Bar sitzen, tanzen, die Beine breitmachen – Schluß, aus. Sie brauchte nicht einmal zu reden.

Geld konnte ein Grund sein, dachte sie weiter. Aber war das alles? Hatten die Beteiligten – Freier und Frauen – dabei ihren Spaß? Würde es sehr viel anders sein, als in der Schule getuschelt worden war? Mit Präservativ war es ungefährlich. Und sie riskierte auch nicht, daß jemand aus ihrem Ort sie wiedererkannte; denn nach Genf kamen laut den Mitstudenten in ihrem Französischkurs nur Leute, die irgendwelche Bankgeschäfte tätigen wollten. Die meisten Brasilianer, die es sich leisten konnten, gingen am liebsten shoppen, vorzugsweise in Miami oder Paris.

Neunhundert Schweizerfranken pro Nacht, fünf Tage pro Woche. Ein Vermögen! Was machten diese Mädchen noch hier, wenn sie in einem Monat genügend verdienten, um heimzufliegen und ihren Eltern ein Haus zu kaufen? Arbeiteten sie erst seit kurzem hier?

Oder – und Maria hatte Angst, sich diese Frage zu stellen ­war es womöglich sogar schön?

Wieder hätte sie gern etwas getrunken – der Champagner hatte vergangene Nacht sehr geholfen. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?« Vor ihr stand ein etwa dreißigjähriger Mann in der Uniform einer Luftfahrtgesellschaft.

Plötzlich stand die Zeit still, und Maria hatte das Gefühl, aus ihrem Körper herauszutreten, neben sich zu stehen, vor Scham zu vergehen. Sie merkte, wie sie rot wurde, nickte lächelnd und spürte, daß sich in dieser Minute ihr Leben für immer veränderte.

Fruchtcocktail, Unterhaltung, was machen Sie hier, es ist kalt, nicht wahr? Mögen Sie diese Musik, also ich mag Abba lieber, die Schweizer sind kalt, sind Sie aus Brasilien? Erzählen Sie mir etwas von Ihrem Land. Vom Karneval. Wie hübsch ihr Brasilianerinnen doch seid!

Lächeln, sich schüchtern für die Komplimente bedanken. Tanzen, aber auf den Blick Milans achten, der sich manchmal am Kopf kratzt und auf seine Armbanduhr zeigt. Rasierwasserduft des Mannes. Sie begreift schnell, daß sie sich an Gerüche gewöhnen muß. Dieser Mann zumindest benutzt ein blumiges Aftershave. Sie tanzen eng. Noch ein Fruchtcocktail, die Zeit vergeht, hatte Milan nicht gesagt, maximal fünfundvierzig Minuten? Sie schaut auf die Uhr, der Freier fragt, ob sie jemanden erwarte, sie sagt, in einer Stunde kämen ein paar Freunde, er lädt sie ein, mit ihm ins Hotel zu kommen. Dreihundertfünfzig Franken, Dusche nach dem Sex (der Mann meinte verwundert, das habe er noch nie erlebt). Sie ist nicht Maria, jemand anderes ist in ihrem Körper, der nichts fühlt, nur mechanisch eine Art Ritual durchführt. Milan hatte ihr alles beigebracht, nur nicht, wie man sich von einem Freier verabschiedet, sie dankt, er weiß auch nicht recht, was er tun soll, ist müde.

Sie kämpft mit sich, möchte nach Hause, aber sie muß in den Nachtclub zurück und die fünfzig Franken abgeben. Noch ein Mann, noch ein Cocktail, noch mehr Fragen zu Brasilien, noch eine Dusche (diesmal ohne Kommentare dazu). Wieder kehrt sie in die Bar zurück, Milan nimmt seine Kommission in Empfang, sagt, daß sie gehen kann, heute sei wenig los. Sie nimmt kein Taxi, geht die Rue de Berne entlang, an den anderen Nachtclubs vorbei, blickt in die Schaufenster mit den Uhren, geht bis zur Kirche an der Ecke vor (die auch heute wieder geschlossen ist, immer geschlossen…). Niemand erwidert ihren Blick wie immer.

Sie geht wie in einer Art Trance durch die Kälte. Fühlt die Temperatur nicht, weint nicht, denkt nicht an das Geld, das sie verdient hat. Gewisse Menschen sind dazu geboren, das Leben allein zu bewältigen, das ist weder gut noch schlecht, c'est la vie. Maria ist einer dieser Menschen.

Sie zwingt sich, über diese erste Nacht nachzudenken. Heute hat sie angefangen, fühlt sich aber bereits als Professionelle, die das ihr Leben lang gemacht hat. Sie empfindet eine gewisse Zärtlichkeit sich selbst gegenüber, ist zufrieden, weil sie nicht weggelaufen ist. Jetzt muß sie entscheiden, ob sie weitermachen will. Wenn sie weitermacht, wird sie die Beste sein – bisher war sie nirgendwo die Beste.

Sie lernt sehr schnell: Nur die Stärksten überleben. Um stark zu sein, muß man die Beste sein, daran gibt es nichts zu deuteln.

Aus Marias Tagebuch eine Woche später:

Ich bin kein Körper mit einer Seele, ich bin eine Seele, die einen sichtbaren Teil besitzt, der Körper heißt. In all diesen Tagen war die Seele, anders als ich es mir vorgestellt hatte, immer ganz da. Sie sprach nicht mit mir, kritisierte mich nicht, hatte kein Mitleid mit mir: sie hat mich nur beobachtet.

Inzwischen weiß ich auch, warum: Es liegt daran, daß ich schon so lange die Liebe aus meinen Gedanken verbannt hatte. Nun entzieht sie sich mir, beleidigt, als würde sie von mir nicht genügend gewürdigt, als fühle sie sich nicht willkommen. Aber wenn ich nicht an die Liebe denke, bin ich nichts.

Als ich nach dieser ersten Nacht ins ›Copacabana‹ zurückkam, wurde ich schon viel respektvoller behandelt offenbar probieren es viele Mädchen einmal und bringen es dann nicht fertig, weiterzumachen. Wer weitermacht, wird zu einer Art Verbündeten, Mitstreiterin, weil sie versteht, welche Gründe – oder vielmehr, welche nicht vorhandenen Gründe ­einen dazu bewogen haben, diese Art Leben zu wählen.

Alle träumen davon, daß jemand kommt und sie als die wahre Frau entdeckt, als sinnliche Gefährtin und Freundin. Und alle gehen bei jeder neuen Begegnung von vornherein davon aus, daß der Traum nicht in Erfüllung gehen wird.

Ich muß über die Liebe schreiben. Ich muß nachdenken und noch mal nachdenken, schreiben, über die Liebe schreiben ­sonst erträgt meine Seele das nicht.

Obwohl die Liebe für sie so wichtig war, vergaß Maria den Rat nie, den man ihr in der ersten Nacht gegeben hatte, und lebte die Liebe nur auf den Seiten ihres Tagebuches aus. Ansonsten setzte sie alles daran, die Beste zu sein, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen, nicht allzuviel nachzudenken und einen guten Grund für das zu finden, was sie tat.

Das war am schwierigsten: Was war der wahre Grund?

Sie tat es, weil sie mußte. Aber das stimmte nicht ganz schließlich mußten alle Geld verdienen, und nicht alle entschieden sich dafür, am Rand der Gesellschaft zu leben. Sie tat es, weil sie eine neue Erfahrung machen wollte. Auch das stimmte nicht ganz; die Welt war voller neuer Erfahrungen – wie beispielsweise Skilaufen oder mit einem Schiff auf dem Genfer See spazierenfahren; diese Erfahrungen hatten sie bislang nur nicht interessiert. Sie tat es, weil sie nichts zu verlieren hatte, weil ihr Leben eine tägliche, ständige Frustration war.

Nein, keine dieser Antworten stimmte, besser nicht weiter darüber nachdenken und im Leben das mitnehmen, was kommt. Sie hatte viel mit den anderen Prostituierten gemein und auch mit allen anderen Frauen, die sie in ihrem Leben bisher kennengelernt hatte: Heiraten, ein sicheres Leben haben – das war der größte Traum. Diejenigen, die nicht davon träumten, hatten entweder einen Mann (fast ein Drittel ihrer Kolleginnen war verheiratet) oder gerade eine Scheidung hinter sich. Um sich selbst zu verstehen, versuchte Maria vorsichtig zu ergründen, warum die anderen diesen Beruf ergriffen hatten.

Sie erfuhr nichts Neues. Maria listete die Antworten auf. Die Kolleginnen erzählten, daß sie a) ihren Mann finanziell unterstützen mußten. Und was, wenn der Mann eifersüchtig wurde? Wenn einer seiner Freunde im ›Copacabana‹ auftauchte? wollte Maria weiterfragen, traute sich aber nicht. b) der Mutter ein Haus kaufen wollten, ein Grund, der sich edel anhö rte, aber eher eine Ausrede war; c) Geld zusammensparen mußten, um das Rückflugticket zu kaufen (eine unter den Kolumbianerinnen, Thailänderinnen, Peruanerinnen, Philippininnen und Brasilianerinnen weitverbreitete Begründung, wenngleich sie meist ein Vielfaches des nötigen Betrages verdient und wieder ausgegeben hatten, aus Angst, sich ihren Traum zu erfüllen); d) es zu ihrem eigenen Vergnügen taten (das paßte nicht gut ins Bild); e) sonst nichts geschafft hatten (eine äußerst fadenscheinige Begründung, denn in der Schweiz gab es viele andere Jobs, wie Putzfrau, Köchin, Aupair).

Am Ende fand sie keinen guten Grund und ließ davon ab, die Welt um sich herum erklären zu wollen.

Milan hatte recht gehabt: Kein Freier zahlte eintausend Schweizer Franken für ein paar Stunden mit ihr.

Andererseits zahlten alle anstandslos die dreihundertfünfzig Franken, die sie verlangte, als kennten sie den Tarif im voraus und fragten nur nach, um sie zu erniedrigen oder um unangenehme Überraschungen zu vermeiden.

Eines der Mädchen meinte: »Die Prostitution ist ein Gewerbe, bei dem es genau umgekehrt zugeht wie bei allen anderen Gewerben: Wer anfängt, verdient mehr, wer Erfahrung hat, verdient weniger. Tu immer so, als wärst du noch Anfängerin.«

Sie wußte immer noch nicht, was es mit den ›speziellen Freiern‹ auf sich hatte. Nur in der ersten Nacht war kurz davon die Rede gewesen, und weder Milan noch die Frauen kamen je darauf zurück. Nach und nach lernte sie die wichtigsten Tricks ihres Gewerbes, wie zum Beispiel daß man nie nach dem Privatleben des Freiers fragen, immer lächeln und überhaupt möglichst wenig reden sollte und keinerlei Treffen außerhalb des Nachtclubs vereinbaren. Der wichtigste Ratschlag kam von einer Philippinin namens Nyah: »Du mußt auch stöhnen, wenn er einen Orgasmus hat. Dann wird dir der Freier treu bleiben.«

»Aber wozu? Sie bezahlen doch dafür, daß sie befriedigt werden.«

»Da irrst du dich. Ein Mann beweist nicht durch eine Erektion, daß er ein Mann ist. Er ist ein Mann, wenn er einer Frau Lust verschaffen kann. Wenn er einer Prostituierten Lust verschaffen kann, dann wird er sich für den Besten von allen halten.«

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