Elf Minuten - Coelho Paulo 6 стр.


So vergingen sechs Monate: Maria lernte, wie das ›Copacabana‹ funktionierte. Da es der teuerste Nachtclub der Rue de Berne war, bestand die Kundschaft zum größten Teil aus Managern, die spät nach Hause kommen konnten, da sie »mit Klienten essen gingen«. Doch die zeitliche Grenze für diese »Abendessen«, die nicht überschritten werden durfte, war dreiundzwanzig Uhr.

Die meisten der Prostituierten, die dort arbeiteten, waren zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahre alt, blieben im Durchschnitt zwei Jahre im Haus und wurden dann von Neuankömmlingen abgelöst. Sie gingen danach zuerst ins ›Neon‹, später ins ›Xenium‹, und mit zunehmendem Alter nahm der Preis ab, und es gab keine festen Arbeitsstunden mehr. Fast alle endeten im ›Tropical Ecstacy‹, das auch Frauen über dreißig akzeptierte. Aber waren sie erst einmal dort angekommen, konnten sie gerade noch Kost und Logis bezahlen, indem sie ein oder zwei Studenten pro Tag bedienten.

Maria ging mit vielen Männern ins Bett. Alter und Kleidung spielten für sie keine Rolle. Entscheidend für ihr ›Ja‹ oder ›Nein‹ war, wie sie rochen. Sie hatte nichts gegen Zigaretten einzuwenden, aber sie haßte billiges Rasierwasser oder Freier, die nicht regelmäßig duschten oder deren Kleidung nach Alkohol stank. Das ›Copacabana‹ war ein ruhiges Lokal und die Schweiz womöglich das beste Land, um dort als Prostituierte zu arbeiten – vorausgesetzt, man hatte Arbeit und eine Aufenthaltsbewilligung und die Papiere waren in Ordnung und man bezahlte regelmäßig die Sozialversicherung. Milan wiederholte ständig, er wolle nicht, daß seine Kinder seinen Namen in der Sensationspresse sahen. Er konnte strenger sein als die Polizei, wenn es darum ging, die rechtliche Situation der Frauen, die er unter Vertrag hatte, zu prüfen.

Wenn man erst einmal das Hindernis der ersten oder der zweiten Nacht überwunden hatte, war es ein Beruf wie jeder andere auch. Ein Beruf, in dem man hart arbeitete, gegen die Konkurrenz ankämpfte, sich bemühte, einen Qualitätsstandard zu halten. Man »riß seine Stunden ab«, war etwas gestreßt, beklagte sich über den Arbeitsanfall und ruhte sich am Sonntag aus. Die meisten Prostituierten waren sehr gläubig, sie gingen zur Messe oder zu ihren Gebeten, ihren Treffen mit Gott.

Maria hingegen kämpfte auf den Seiten ihres Tagebuches, um ihre Seele nicht zu verlieren. Sie machte die überraschende Entdeckung, daß es jedem fünften Freier nicht darum ging, Liebe zu machen, sondern darum, zu reden. Sie zahlten anstandslos den Tabellenpreis, das Hotel, und wenn es an der Zeit war, sich auszuziehen, meinten sie, es sei nicht notwendig. Diese Freier wollten lieber über den Arbeitsstreß reden, die untreue Ehefrau, die Einsamkeit, weil sie niemanden hatten, mit dem sie reden konnten (und was einsam sein hieß, wußte Maria nur zu gut).

Anfangs fand sie das sehr merkwürdig. Bis sie eines Tages einen französischen Headhunter ins Hotel begleitete. Er schilderte seine Tätigkeit (die darin bestand, Kandidaten für hohe Managerposten zu finden), als sei es die allerinteressanteste Sache der Welt. Und doch sprach er voller Mitleid von den Menschen, die er vermittelte:

»Wissen Sie, wer der einsamste Mensch der Welt ist?« fragte er Maria. »Es ist der Manager mit einer erfolgreichen Karriere, der ein Riesengehalt verdient, das Vertrauen seiner Vorgesetzten und seiner Untergebenen genießt, eine Familie, Kinder hat, denen er bei den Schularbeiten hilft, und dem eines Tages jemand wie ich mit folgendem Vorschlag kommt: ›Wollen Sie den Job wechseln und das Doppelte verdienen?‹

Dieser Mann, der alles hat, um sich begehrt und glücklich zu fühlen, wird zum armseligsten Menschen der Welt. Warum? Weil er niemanden hat, mit dem er reden kann. Er überlegt, ob er meinen Vorschlag annehmen soll, kann aber weder mit seinen Arbeitskollegen darüber reden, denn die würden alles tun, um ihn zum Bleiben zu bewegen, noch mit seiner Frau, weil sie nur jahrelang seine erfolgreiche Karriere begleitet hat und viel von Sicherheit, aber nichts von Risiken versteht. Er kann mit niemandem reden und steht vor der großen Entscheidung seines Lebens. Können Sie sich vorstellen, was dieser Mann fühlt?«

Nein, nicht er war der einsamste Mensch auf der Welt, denn den einsamsten Menschen der Welt kannte Maria bestens: Das war sie selbst. Dennoch stimmte sie ihrem Freier in der Hoffnung auf ein gutes Trinkgeld zu – das dann auch kam. Und von da an merkte sie, daß sie herausfinden mußte, wie sie ihren Freiern etwas von dem enormen Druck abnehmen konnte, der auf ihnen zu lasten schien; und wie sie ihre Dienstleistungen und gleichzeitig ihre Verdienstmöglichkeiten verbessern konnte.

Als Maria begriffen hatte, daß es ebenso lukrativ, wenn nicht noch lukrativer sein konnte, seelische Bedürfnisse zu befriedigen, als körperliche, ging sie wieder in die Bibliothek, wälzte Bücher über Eheprobleme, Psychologie, Politik. Die Bibliothekarin war begeistert – weil das Mädchen, für das sie so große Sympathie hegte, es aufgegeben hatte, an Sex zu denken, und sich jetzt ernsthafteren Themen widmete. Sie las regelmäßig die Zeitung, besonders den Wirtschaftsteil – da der größte Teil ihrer Freier Manager war. Sie lieh Ratgeber aus – denn fast alle baten sie um Rat. Sie studierte Abhandlungen über den Menschen und seine Gefühle – denn alle litten aus irgendwelchen Gründen. Maria war eine respektable Hure, sie war anders als ihre Kolleginnen, und nach sechs Monaten in ihrem Beruf hatte sie eine hochkarätige, große und treue Kundschaft, was den Neid, die Eifersucht, aber auch die Bewunderung ihrer Kolleginnen weckte.

Was den Sex betraf, hatte er ihr selbst bisher keine Befriedigung verschafft. Für sie bedeutete Sex nur, die Beine breitzumachen, zu verlangen, daß der Freier ein Präservativ benutzte, etwas zu stöhnen, um das Trinkgeld zu erhöhen (bis zu fünfzig Franken, wie sie dank der Philippinin Nyah herausgefunden hatte), und nach dem Verkehr zu duschen, um mit dem Wasser ein wenig ihre Seele zu reinigen. Keine Varianten. Keine Küsse – der Kuß war für eine Prostituierte heiliger als alles andere. Nyah hatte ihr beigebracht, daß sie den Kuß für die Liebe ihres Lebens aufbewahren sollte, so wie im Märchen vom Dornröschen; den Kuß, der sie aus dem Schlaf wecken und in die Welt der Märchen zurückbringen würde, in eine Schweiz, die nur noch das Land der Schokolade, der Kühe und der Uhren war.

Auch kein Orgasmus, keine Lust, keine Erregung. In ihrem Bemühen, die Beste von allen zu werden, hatte sich Maria einige pornographische Filme angesehen in der Hoffnung, etwas davon für ihre Arbeit verwenden zu können. Sie hatte viele interessante Dinge gesehen, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, sie bei ihren Freiern anzuwenden – sie dauerten zu lange, und Milan hatte es gern, wenn die Frauen mindestens drei Freier pro Nacht bedienten.

Am Ende dieses ersten halben Jahres hatte Maria sechzigtausend Schweizer Franken auf ihr Bankkonto einbezahlt, konnte sich teurere Restaurants und auch einen Farbfernseher leisten (den sie allerdings nie benutzte), und sie überlegte sogar, in eine bessere Wohnung umzuziehen. Sie hätte jetzt Bücher kaufen können, ging aber weiter in die Bibliothek, die ihre Brücke zu einer realen, solideren und dauerhafteren Welt war. Sie unterhielt sich gern mit der Bibliothekarin, die sich freute, weil Maria offenbar eine Arbeit gefunden hatte und vielleicht auch eine Liebe, obwohl sie nie nachfragte, weil sie schüchtern und diskret war, wie es sich für eine Schweizerin gehörte (auch wenn ihre Landsleute im ›Copacabana‹ und im Bett genauso unverkrampft, fröhlich oder voller Komplexe waren wie jedes andere Volk der Welt).

Aus Marias Tagebuch, an einem lauen Sonntagnachmittag:

Alle Männer, die kleinen wie die großen, die arroganten oder schüchternen, die sympathischen oder abweisenden, haben eins gemeinsam: Sie haben Angst, wenn sie in den Nachtclub kommen. Die Erfahrenen verbergen ihre Angst, indem sie laut reden, während die Schüchternen sie nicht überspielen können und sich zuerst Mut antrinken müssen. Was aber nichts daran ändert, daß sie alle Angst haben vielleicht mit Ausnahme der ›speziellen Freier‹, die mir Milan noch immer nicht vorgestellt hat.

Wovor haben sie Angst? Eigentlich müßte ich diejenige sein, die Angst hat. Ich gehe mit ihnen in ein Hotel, bin ihnen körperlich unterlegen, trage keine Waffen bei mir. Die Männer sind wirklich merkwürdig, und ich meine nicht nur die, die ins ›Copacabana‹ kommen, sondern alle, die ich bislang kennengelernt habe. Sie schlagen, schreien, drohen – aber kommen um vor Angst vor einer Frau. Vielleicht nicht vor der, die sie geheiratet haben, aber es gibt immer eine, die sie fürchten und nach deren Pfeife sie tanzen. Und sei es die eigene Mutter.

Die Männer, die sie in Genf kennengelernt hatte, taten alles, um selbstsicher zu wirken, als hätten sie die ganze Welt im Griff und ihr eigenes Leben auch; aber dahinter verbarg sich die Angst vor der Ehefrau, die Panik, keine Erektion zustande zu bringen, nicht einmal bei einer einfachen Prostituierten, die sie bezahlten, Manns genug zu sein. Wenn sie in einen Laden gingen, sich Schuhe kauften, die sie dann doch drückten, würden sie mit der Quittung in der Hand wiederkommen und ihr Geld zurückverlangen. Doch wenn sie bei einer Prostituierten aus dem ›Copacabana‹, die sie bezahlt hatten, keine Erektion hatten, kamen sie nicht wieder, aus Angst, ihr Versagen habe sich unter den anderen Prostituierten schon herumgesprochen, und das wäre eine Schande.

›Eigentlich sollte ich mich schämen‹, notierte Maria. ›Tatsächlich aber tun sie es.‹

Maria versuchte peinliche Situationen immer zu vermeiden, und wenn einer angetrunken oder müde wirkte, konzentrierte sie sich auf Liebkosungen und Masturbation – was den Männern gefiel.

Man mußte vermeiden, daß sie sich schämten. Diese Männer, die bei ihrer Arbeit so mächtig und arrogant waren, die sich tagsüber mit Angestellten, Kunden, Lieferanten herumschlugen und mit Vorurteilen, Geheimnissen, Verstellung, Heuchelei, Angst, Unterdrückung umgehen konnten, ließen den Tag in einem Nachtclub ausklingen, und sie gaben gern dreihundertfünfzig Franken dafür aus, einmal eine Nacht lang nicht sie selbst sein zu müssen.

›Eine Nacht lang? Da übertreibst du aber, Maria! Tatsächlich sind es fünfundvierzig Minuten, minus die Zeit, die zum Ausziehen, ein paar Zärtlichkeiten, etwas Small talk und wieder Anziehen draufgeht, macht elf Minuten für den eigentlichen Sex.‹

Elf Minuten. Die Welt drehte sich um etwas, was nur elf Minuten dauerte!

Und wegen dieser elf Minuten von den vierundzwanzig Stunden eines Tages (einmal angenommen, daß alle mit ihren Ehepartnern täglich Sex hatten, was unwahrscheinlich war und nicht stimmte) heirateten sie, ernährten sie eine Familie, ertrugen das Kindergequengel, erfanden die wildesten Ausreden, wenn sie zu spät nach Hause kamen. Wegen dieser elf Minuten schauten sie zighunderte anderer Frauen an, mit denen sie gern am Genfersee entlangspaziert wären. Wegen dieser elf Minuten kauften sie teure Kleidung für sich und noch viel teurere für die Frauen, bezahlten sie Prostituierte, um das zu kompensieren, was ihnen fehlte, erhielten sie eine riesige Industrie für Kosmetik, Diäten, Gymnastik, Pornographie, Macht aufrecht – und wenn sie mit anderen Männern zusammen waren, sprachen sie überraschenderweise nie über Frauen, sondern nur über die Arbeit, über Geld oder Sport.

Da lief etwas ganz verkehrt in dieser Zivilisation – und nicht nur in bezug auf die Abholzung des Amazonaswaldes, die Ozonschicht, das Pandasterben, die Zigarette, krebserregende Nahrungsmittel, die Situation in den Gefängnissen, wie die Zeitungen behaupteten.

Es war genau in dem Bereich, in dem Maria tätig war: beim Sex.

Aber Maria war nicht hier, um die Menschheit zu retten; sondern um ihr Bankkonto wachsen zu lassen, weitere sechs Monate Einsamkeit zu ertragen, weil sie sich entschlossen hatte zu bleiben, um monatlich einen Betrag an ihre Mutter überweisen und sich alles leisten zu können, wovon sie immer geträumt hatte. Sie zog in eine sehr viel bessere Wohnung mit Zentralheizung um, und von ihrem Fenster aus sah sie auf eine Kirche, ein japanisches Restaurant, einen Supermarkt und ein sympathisches Cafe, in das sie immer ging, um Zeitung zu lesen. Nur noch ein halbes Jahr, das hatte sie sich geschworen, würde sie das ›Copacabana‹ ertragen: Darf ich Sie zu einem Drink einladen, tanzen, wie finden Sie Brasilien, Hotel, im voraus abkassieren, reden und die richtigen Stellen berühren – am Körper wie auch in der Seele (vor allem in der Seele), bei den intimsten Problemen helfen, eine Freundin sein. Und dies alles für eine halbe Stunde, in der elf Minuten für Beine auf, Beine zu, lustvolles Stöhnen draufgingen. Danke, hoffentlich sehen wir uns nächste Woche wieder, Sie sind wirklich ein toller Mann, ich werde mir den Rest der Geschichte bei unseren nächsten Treffen anhören, großzügiges Trinkgeld, das war doch nicht nötig, es war mir ein Vergnügen.

Und sich vor allem – oberstes Gebot – nie verlieben. Das war der vernünftigste Rat, den Vivian ihr gegeben hatte, bevor sie verschwand – möglicherweise, weil sie sich verliebt hatte.

Auch Maria waren erstaunlicherweise in nur zwei Monaten schon mehrfach Heiratsanträge gemacht worden, darunter drei wirklich ernstgemeinte: vom Direktor einer Buchhaltungsfirma, von dem Flugkapitän, mit dem sie in der ersten Nacht ins Hotel gegangen war, und vom Besitzer eines Spezialgeschäfts für Taschenmesser und Stichwaffen. Alle drei hatten ihr versprochen, »sie da herauszuholen« und ihr eine ordentliche Wohnung, eine Zukunft mit Kindern und Enkeln zu geben.

Und das alles nur für elf Minuten am Tag? Das konnte nicht sein! Jetzt, nach ihrer Erfahrung im ›Copacabana‹, wußte sie, daß sie nicht die einzige war, die sich einsam fühlte. Der Mensch kann eine Woche lang ohne Trinken auskommen, zwei Wochen, ohne zu essen, viele Jahre ohne ein Dach über dem Kopf – aber die Einsamkeit kann er nicht ertragen. Das war für alle die schlimmste Qual. Die Männer im ›Copacabana‹ und die vielen anderen, die ihre Begleitung suchten, litten wie sie selbst unter diesem zerstörerischen Gefühl – dem Gefühl, niemandem auf der Welt wichtig zu sein.

Um den Versuchungen der Liebe zu entgehen, ließ sie ihr Herz nur im Tagebuch sprechen. Ins ›Copacabana‹ traten nur ihr Körper und ihr Verstand, der immer aufnahmefähiger, immer schärfer wurde. Es gelang ihr, sich einzureden, daß eine höhere Instanz sie nach Genf und in die Rue de Berne geschickt habe, und jedes weitere Buch, das sie in der Bibliothek auslieh, bestätigte ihr aufs neue: Niemand hatte vernünftig über diese elf wichtigsten Minuten des Lebens geschrieben. Vielleicht war dies ihr Schicksal, so schwierig es ihr jetzt erscheinen mochte: ein Buch zu schreiben, ihre Geschichte, ihr Abenteuer zu erzählen.

Genau, Abenteuer. Obwohl es ein verbotenes Wort war, das niemand auszusprechen wagte, etwas, was die meisten lieber im Fernsehen sahen, in Filmen, die zu den unterschiedlichsten Stunden des Tages wieder und wieder gezeigt wurden, war es genau das, was sie suchte. Es paßte zu Wüsten, zu Reisen an unbekannte Orte, zu geheimnisvollen Männern, die auf einem Schiff mitten im Fluß ein Gespräch anfingen, zu Flugzeugen, Filmstudios, Indiostämmen, Gletschern, Afrika.

Ihr gefiel die Vorstellung, ein Buch zu schreiben, und sie überlegte sich sogar einen Titel: Elf Minuten.

Sie begann die Freier in drei Typen aufzuteilen: die ›Terminators‹ (nach einem Film, den sie sehr gern mochte), die schon mit einer Alkoholfahne hereinkamen, niemanden sahen und von allen gesehen werden wollten, die kaum tanzten und gleich ins Hotel gingen. Die ›Pretty Woman‹-Typen (auch wegen eines Films), die versuchten, elegant, höflich, zärtlich zu sein, als würde es von dieser Art Güte abhängen, daß die Welt wieder in die rechte Bahn kam, und die so taten, als wären sie rein zufällig hier vorbeigekommen; später im Hotel waren sie anfangs sanft und unsicher, aber am Ende fordernder als die Terminators. Schließlich die Männer Typ ›Der Pate‹ (nochmals wegen eines Films), die den Körper einer Frau wie eine Ware behandelten; sie waren die ehrlichsten, tanzten, unterhielten sich, gaben kein Trinkgeld, wußten, was sie kauften und was es wert war, ließen sich niemals vom Gerede der Frau einwickeln, die sie ausgesuc ht hatten; sie waren die einzigen, die, auf sehr subtile Weise, die Bedeutung des Wortes Abenteuer kannten.

Aus Marias Tagebuch, an einem Abend, an dem sie nicht arbeiten konnte, weil sie ihre Tage hatte:

Wenn ich heute jemandem mein Leben erzählen sollte, könnte ich es so drehen, daß man meinen könnte, ich sei eine unabhängige, mutige und glückliche Frau. Nichts davon ist wahr: Ich darf das einzige Wort nicht erwähnen, das viel wichtiger ist als die elf Minuten – Liebe.

Mein ganzes Leben lang habe ich unter Liebe eine Art selbstgewählter Sklaverei verstanden. Ich habe mich getäuscht: Freiheit gibt es nur dort, wo Liebe ist. Wer sich vollkommen hingibt, wer sich frei fühlt, liebt am meisten.

Und wer am meisten liebt, der fühlt sich frei.

Was auch immer ich erleben, tun, herausfinden kann, nichts hat einen Sinn ohne Liebe. Ich hoffe, daß diese Zeit schnell vorbeigeht, damit ich die Suche nach mir selbst wiederaufnehmen kann – die sich in einem Mann widerspiegelt, der mich versteht, der mir nicht weh tut.

Aber was sage ich da? In der Liebe kann keiner dem anderen weh tun; für seine Gefühle ist jeder selbst verantwortlich, und wir können nicht die anderen dafür verantwortlich machen.

Ich habe gelitten, als ich die Männer verlor, in die ich mich verliebt hatte. Heute bin ich überzeugt, daß man niemanden verlieren kann, ganz einfach weil man niemanden besitzt. Das ist die wahre Erfahrung von Freiheit: das Wichtigste auf der Welt zu haben, ohne es zu besitzen.

Weitere drei Monate vergingen, der Herbst kam und schließlich das im Kalender markierte Datum: neunzig Tage bis zur Rückreise. Es war alles so schnell und gleichzeitig so langsam gegangen, fand sie, und ihr wurde klar, daß die Zeit in zwei unterschiedlichen Dimensionen ablief, die von ihrer jeweiligen Stimmung abhingen. Doch wie auch immer, ihr Abenteuer war bald zu Ende. Sie könnte natürlich weitermachen, aber sie hatte das traurige Lächeln der unsichtbaren Frau nicht vergessen, die sie bei dem Spaziergang am See begleitet und gesagt hatte, daß die Dinge nicht so einfach waren, wie Maria dachte. Maria hatte versucht, einfach weiterzumachen, sich der Herausforderung von dieser Art Leben zu stellen. Allmählich hatte sie sich jedoch eingestehen müssen, daß irgendwann der Moment kommt, an dem man aufhören muß. In neunzig Tagen würde sie nach Brasilien zurückkehren, von dem verdienten Geld (viel mehr, als sie sich erhofft hatte) eine kleine Farm und ein paar Kühe kaufen (brasilianische, keine Schweizer); sie würde ihre Eltern einladen, bei ihr zu wohnen, sie würde zwei Angestellte einstellen und das Unternehmen zum Laufen bringen.

Obwohl sie fand, daß man nur in der Liebe wahre Freiheit erfahren und keiner einen anderen besitzen kann, lechzte sie insgeheim nach Rache – und dazu gehörte eine triumphale Rückkehr nach Brasilien. Nachdem sie ihre Farm eingerichtet hätte, wollte sie in die Stadt fahren, bei der Bank vorbeigehen, wo der Junge arbeitete, der sie wegen ihrer besten Freundin hatte sitzenlassen, und eine große Einzahlung – in Schweizer Franken – machen. Sie malte sich aus, wie er reagieren würde: »Hallo, wie geht's, erkennst du mich nicht?« Und sie würde gespielt angestrengt in ihrem Gedächtnis kramen und sich dann entschuldigen, es sei zu lange her, sie habe inzwischen auch ein ganzes Jahr in EUROPA (langsam aussprechen, damit seine Kollegen es hörten) verbracht. Besser gesagt, in der Schweiz (das klang exotischer und abenteuerlicher als Frankreich), wo die besten Banken der Welt angesiedelt sind. Wer er sei?

Sollte er doch sagen, sie seien zusammen zur Schule gegangen. Dann konnte sie immer noch die freundliche Dame spielen, die höflicherweise so tut, als könnte sie sich erinnern. Damit würde sie es ihm heimzahlen. Dann mußte sie ihre Farm in Schuß bringen. Und wenn alles so lief, wie sie es sich vorstellte, könnte sie sich dann auch dem widmen, was ihr im Leben am wichtigsten war: Sie würde ihre wahre Liebe finden, den Mann, der, ohne es zu wissen, all diese Jahre auf Maria gewartet hatte und dem sie nur noch nicht begegnet war.

Maria beschloß, sich das mit dem Buch Elf Minuten aus dem Kopf zu schlagen. Sie mußte sich jetzt auf die Farm konzentrieren, Pläne für die Zukunft machen, sonst bestünde die Gefahr, daß sie ihren Abreisetermin erneut hinausschob.

An jenem Nachmittag zog sie los, um sich mit ihrer besten ­einzigen – Freundin zu treffen, der Bibliothekarin. Sie erzählte ihr, daß sie sich für Landwirtschaft und Viehzucht interessiere, und wollte Fachliteratur ausleihen. Darauf gestand ihr die Bibliothekarin: »Wissen Sie, vor ein paar Monaten, als Sie immer herkamen, um Bücher über Sex auszuleihen, habe ich mir schon Sorgen um Sie gemacht. Schließlich lassen sich viele hübsche Mädchen vom schnellen Geld verführen und vergessen, daß sie eines Tages alt sein und keine Gelegenheit mehr haben werden, den Mann ihres Lebens zu treffen.«

»Meinen Sie Prostitution?«

»Das ist ein starkes Wort.«

»Wie gesagt, ich arbeite in einem Unternehmen für Fleischim­und – export. Aber angenommen, ich wollte mich prostituieren, wäre das denn so schlimm? Vorausgesetzt, ich höre rechtzeitig damit auf? Schließlich heißt jung sein doch auch Fehler machen.«

»Das sagen alle Süchtigen: Man muß nur wissen, wann man aufhören muß. Und keiner hört auf.«

»Sie müssen einmal sehr schön gewesen sein, sind in einem Land geboren, in dem sich gut leben läßt, das seine Einwohner achtet. Reicht das aus, um sich glücklich zu fühlen?«

»Ich bin stolz darauf, mein Leben soweit gemeistert zu haben.«

Sollte sie weiter von sich erzählen? Das Mädchen sollte doch etwas lernen vom Leben!

Назад Дальше