Elf Minuten - Coelho Paulo 7 стр.


»Ich habe eine glückliche Kind heit verlebt und in Bern die besten Schulen besucht. Dann bin ich zum Arbeiten nach Genf gekommen. Ich habe einen Mann kennengelernt, mich in ihn verliebt, ihn geheiratet. Ich habe alles für ihn getan, und er hat alles für mich getan. Die Zeit verging, und dann kam die Rente. Als er endlich Zeit hatte, um das zu machen, was er wollte, wurden seine Augen traurig vielleicht weil er sein ganzes Leben nie an sich selbst gedacht hatte. Wir haben nie ernsthaft gestritten, wir hatten keine großen Gefühle, er hat mich nie betrogen, und er hat mich nie schlecht behandelt. Wir haben ein normales Leben geführt, so normal, daß er sich ohne Arbeit nutzlos, bedeutungslos gefühlt hat und ein Jahr darauf an Krebs gestorben ist.«

So war es gewesen, aber die junge Frau könnte davon negativ beeinflußt werden.

»Wie auch immer, ein Leben ohne Überraschungen ist allemal besser«, schloß sie. »Vielleicht wäre mein Mann sonst noch früher gestorben.«

Mit den Büchern unter dem Arm verließ Maria die Bibliothek, entschlossen, alles über die Führung landwirtschaftlicher Betriebe zu lernen. Da sie den Nachmittag frei hatte, beschloß sie, einen Spaziergang zu machen, und entdeckte in der Altstadt neben einem normalen blauen Straßenschild eine kleine Plakette mit einer Sonne und der Inschrift ›Chemin de Saint-Jacques‹ – Jakobsweg. Was war das bloß? Da es auf der anderen Straßenseite ein Cafe gab und sie gelernt hatte zu fragen, wenn sie etwas nicht wußte, ging sie hinein und erkundigte sich.

»Keine Ahnung«, sagte das Mädchen hinter dem Tresen. Es war ein elegantes Lokal, und der Kaffee kostete dreimal soviel wie sonstwo. Aber da sie jetzt Geld und nichts weiter zu tun hatte, bestellte Maria einen Kaffee und vertiefte sich in ihre Fachbücher. Voller Begeisterung öffnete sie eines der Bücher, konnte sich aber nicht auf ihre Lektüre konzentrieren – sie war so langweilig. Wieviel interessanter wäre es doch, mit einem ihrer Freier über das Thema zu sprechen sie wußten am besten, wie man Geld nutzbringend einsetzte. Sie zahlte den Kaffee, dankte der Bedienung und hinterließ ein gutes Trinkgeld (sie hatte, was das betraf, einen Aberglauben entwickelt: wer viel gibt, bekommt auch viel zurück). Sie stand auf, ging zur Tür und hörte, ohne sich der Bedeutung des Augenblicks bewußt zu sein, die Worte, die ihre Zukunft, ihre Farm, ihre Vorstellung vom Glück, ihre weibliche Seele, ihre Einstellung als Mensch, ihren Platz in der Welt verändern sollten. »Moment mal!«

Sie schaute überrascht zur Seite. Dies hier war ein respektables Cafe, nicht das ›Copacabana‹, wo Männer Frauen anbaggern, die Frauen sich aber nichts gefallen lassen müssen.

Sie wollte so tun, als hätte sie nichts gehört, doch dann war ihre Neugier stärker, und sie blickte sich um und sah eine merkwürdige Szene. Auf dem Boden kniete ein etwa dreißigjähriger, langhaariger Mann (oder sollte sie besser sagen »ein junger Mann um die Dreißig«? Warum fühlte sie sich oft schon so alt?). Um sich herum hatte er Stifte ausgebreitet, und er zeichnete einen Herrn, der an einem Tisch saß, vor sich ein Glas Pastis. Beim Eintreten hatte sie die beiden nicht bemerkt.

»Geh noch nicht! Ich zeichne nur schnell dieses Porträt. Und dann würde ich gern dich porträtieren.«

Maria antwortete – und dadurch, daß sie antwortete, stellte sie die Verbindung zum Universum her, die ihr bislang gefehlt hatte: »Ich habe kein Interesse.«

»Du strahlst ein Licht aus. Laß mich wenigstens eine Skizze machen.«

Was hieß da Skizze? ›Licht‹? Andererseits war sie geschmeichelt: ein seriöser Maler wollte sie porträtieren! Sie begann zu spekulieren: Was, wenn er wirklich berühmt ist und das Bild mit mir in Paris oder Salvador de Bahia ausgestellt wird? Märchenhaft!

Was machte dieser Mann mit all dem Kram um sich herum in diesem teuren, vornehmen Cafe?

Als hätte die Bedienung ihre Gedanken erraten, sagte sie leise: »Er ist ein sehr bekannter Maler.«

Ihr Instinkt hatte sie also nicht getäuscht. Maria versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren.

»Er kommt öfter her, immer in Begleitung von wichtigen Leuten. Er sagt, ihm gefällt das Ambiente hier, es inspiriert ihn; er macht ein großes Bild mit wichtigen Genfer Persönlichkeiten, im Auftrag der Stadtverwaltung.«

Maria blickte den Mann an, der gerade gemalt wurde. Wieder las die Kellnerin ihre Gedanken.

»Er ist Chemiker und hat eine revolutionäre Entdeckung gemacht. Er hat dafür den Nobelpreis bekommen.«

»Geh nicht«, wiederholte der Maler. »Ich bin in fünf Minuten fertig. Bestell, was du magst, es geht auf meine Rechnung.«

Wie hypnotisiert, setzte sich Maria an die Bar; da sie normalerweise nichts trank, bestellte sie einfach dasselbe wie der Nobelpreisträger, einen Pastis. Sie sah dem Mann bei der Arbeit zu. ›Ich bin keine stadtbekannte Persönlichkeit, deshalb wird er an etwas anderem interessiert sein‹, dachte Maria, die innerlich sofort abblockte: ›Er ist nicht mein Typ!‹ Das war immer ihre Rettung, wenn sie in Gefahr stand, sich zu verlieben. Innerlich gefestigt, konnte sie nun gefahrlos noch ein paar Minuten bleiben – wer weiß, vielleicht hatte die Kellnerin ja recht und dieser Mann konnte ihr die Tore zu einer unbekannten Welt öffnen. Hatte sie nicht von einer Karriere als Model geträumt?

Sie beobachtete, wie flink er seine Arbeit beendete – offenbar handelte es sich um ein sehr großes Bild, doch es war nach einem komplizierten System zusammengefaltet, und so konnte sie die anderen darauf abgebildeten Gesichter nicht sehen. Und wenn dies nun eine ganz besondere Gelegenheit wäre? Der Mann (sie beschloß, ihn für sich »Mann« und nicht »Junger Mann« zu nennen, weil sie sich sonst älter fühlen müßte) schien nicht der Typ Mann zu sein, der auf diese Tour eine Nacht mit ihr herausschinden wollte. Maria schwor sich, sich auf keine neuen Bekanntschaften einzulassen, die ihre schönen Zukunftspläne beeinträchtigen könnten.

»Danke, Sie können sich jetzt wieder bewegen«, sagte der Maler kurz darauf zu dem Chemiker, der aus einem Traum zu erwachen schien.

Und zu Maria knapp und energisch: »Und du, setz dich dort hinten in die Ecke! Das Licht ist großartig.«

Und dann war es, als wäre alles bereits vom Schicksal in die Wege geleitet, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, als hätte sie diesen Mann schon ein Leben lang gekannt oder diesen Augenblick im Traum erlebt und wüßte, was zu tun sei: Maria nahm ihr Glas Pastis, ihre Tasche, ihre Bücher über Landwirtschaft und ging zu dem ihr zugewiesenen Platz am Fenster. Der Maler brachte die Stifte, Farbtiegelchen, eine Packung Zigaretten und kniete vor ihr nieder.

»Bleib genau so sitzen und beweg dich nicht!«

»Das ist zuviel verlangt. Mein Leben ist immer in Bewegung.«

Sie versuchte, natürlich zu bleiben, obwohl der Blick dieses Mannes sie verunsicherte. Sie zeigte durch die Fensterscheibe hinaus auf die Straße und auf das Schild.

»Was ist der Jakobsweg?«

»Eine Pilgerstraße. Im Mittelalter kamen Menschen von überall her durch diese kleine Gasse; sie waren auf dem Weg nach Spanien, zu einer Stadt namens Santiago de Compostela.«

Er entfaltete einen Teil der Leinwand, legte sich die Stifte zurecht. Maria wußte immer noch nicht, was sie tun sollte.

»Das heißt, wenn ich diesem Weg immer weiter folge, gelange ich nach Spanien?«

»Nach zwei oder drei Monaten. Darf ich dich um einen Gefallen bitten? Sag einfach mal einen Moment lang gar nichts! Es wird nicht länger als zehn Minuten dauern. Und nimm das Paket vom Tisch!«

»Es sind Bücher!« entgegnete sie leicht irritiert wegen seines resoluten Tons. Er sollte merken, daß er eine gebildete Frau vor sich hatte, die ihre Zeit in Bibliotheken verbrachte, nicht in Boutiquen. Aber er nahm selbst das Paket und stellte es einfach auf den Boden.

Sie hatte ihn nicht beeindrucken können, hatte es auch nicht ernsthaft versucht, sie war schließlich »außerdienstlich« hier und sparte sich ihre Verführungskünste für später und für Männer auf, die für ihre Dienste gut zahlten. Warum sollte sie mit diesem Maler anbandeln, der womöglich nicht einmal genug Geld hatte, sie zu einem Kaffee einzuladen? Ein Mann in seinem Alter sollte das Haar nicht lang tragen, das wirkt lächerlich, fand sie. Wie kam sie bloß darauf, daß er kein Geld hatte? Das Mädchen an der Bar hatte gesagt, er sei bekannt – oder war es der Chemiker, der berühmt war? Sie musterte ihn eingehend. Nach ihrer Erfahrung hatten Männer, die sich wie er nachlässig kleideten, oft mehr Geld als Herren in Anzug und Krawatte. Die Kleidung des Malers ließ jedoch keine Rückschlüsse zu.

›Wieso denke ich über diesen Mann nach? Was interessiert mich das Bild?‹

Zehn Minuten waren kein zu hoher Preis für die Chance, durch ein Bild unsterblich zu werden. Sie sah, daß er sie neben den preisgekrönten Chemiker malte, und fragte sich, ob er am Ende doch eine Form von Bezahlung fordern würde.

»Dreh den Kopf zum Fenster!«

Wieder gehorchte sie widerspruchslos – was absolut nicht ihre Art war. Sie sah den Leuten nach, die draußen vorbeigingen, blickte zur Plakette mit der Sonne hoch, überlegte, daß diese Gasse nicht nur die Jahrhunderte, sondern all den Fortschritt, die großen Veränderungen in der Welt und in den Menschen überdauert hatte. Vielleicht war das ja ein gutes Omen, und das Bild würde auch in fünfhundert Jahren noch in einem Museum hängen…

Der Mann begann zu zeichnen, und je länger er zeichnete, desto mehr verlor Maria ihre anfängliche Begeisterung, desto kleiner und unbedeutender fühlte sie sich. Als sie das Cafe betreten hatte, war sie eine selbstbewußte Frau gewesen, fähig, eine schwierige Entscheidung zu treffen eine Arbeit aufzugeben, die Geld einbrachte –, um sich einer noch schwierigeren Herausforderung zu stellen: in ihrem Heimatland eine Farm zu führen. Jetzt fühlte sie sich völlig verunsichert, und das war ein Gefühl, das sie sich als Prostituierte nicht leisten konnte.

Sie entdeckte schließlich den Grund für ihr Unbehagen: Zum ersten Mal seit vielen Monaten betrachtete sie jemand nicht wie ein Objekt und auch nicht als Frau, sondern als eine Herausforderung – etwas, was er nicht verstehen konnte. Dabei war sie sicher leicht zu durchschauen: ›Sieht er wohl meine Seele, meine Ängste, meine Zerbrechlichkeit, meine Unfähigkeit, mit einer Welt klarzukommen, die ich im Griff zu haben vorgebe, über die ich aber nichts weiß?‹

Lächerlich. Sie machte sich etwas vor.

»Ich würde gern…«

»Schscht«, sagte der Mann. »Ich sehe dein Licht.«

Das hatte noch niemand zu ihr gesagt. »Ich sehe deine harten Brüste«, »ich sehe deine wohlgeformten Schenkel«, »ich sehe diese exotische Schönheit aus den Tropen« oder allerhöchstem »ich sehe, daß du aus diesem Leben herauswillst, warum erlaubst du mir nicht, dir ein Apartment einzurichten« – ja, diese Art von Bemerkungen war sie gewohnt, aber »dein Licht«? Meinte er vielleicht das Abendlicht?

»Dein inneres Licht«, sagte er, als hätte er gemerkt, daß sie nichts verstanden hatte.

Inneres Licht. Na, da lag er aber gründlich daneben, dieser naive Maler, der trotz seiner dreißig Jahre noch nichts vom Leben wußte. Es war eben doch so: Frauen reiften schneller als Männer, und Maria – die zwar viel über das Leben nachdachte, dabei aber unbeschwert und nüchtern blieb, sagte sich, daß sie bestimmt kein besonderes ›Licht‹ besaß, wie der Maler behauptete. Vielleicht meinte er ihre besondere Ausstrahlung. Sie war ein Mensch wie viele andere, die unter ihrer Einsamkeit litten und ihr Leben vor sich zu rechtfertigen suchten. Sie gab vor, stark zu sein, wenn sie schwach war, gab vor schwach zu sein, wenn sie sich stark fühlte; sie hatte jegliche Form von Leidenschaft von sich ferngehalten – und all das nur, um ihre Arbeit einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Aber jetzt, kurz vor dem Ziel, hatte sie Pläne für die Zukunft und Gewissensbisse wegen der Vergangenheit – so jemand hat kein ›besonderes Leuchten‹. Vielleic ht wollte der Maler sie damit nur zum Schweigen und Stillsitzen bringen und dazu, sich vor ihm zum Narren zu machen.

›Inneres Licht‹. Er hätte etwas anderes sagen können, wie zum Beispiel, ›du hast ein schönes Profil‹.

Wie gelangt Licht in ein Haus? Wenn die Fenster geöffnet sind. Wie gelangt Licht in einen Menschen? Wenn das Tor der Liebe geöffnet ist. Und ihres war definitiv nicht geöffnet. Er mußte ein schlechter Maler sein, er verstand überhaupt nichts.

»Das war's, ich bin fertig«, sagte er und begann sein Material einzusammeln.

Maria rührte sich nicht. Sie hätte sich gern das Bild angesehen, wollte aber nicht aufdringlich sein. Die Neugier siegte. Er hatte nur ihr Gesicht gezeichnet; er hatte sie gut getroffen. Doch hätte sie nicht gewußt, daß sie Modell gesessen hatte, hätte sie es für das Porträt einer sehr starken Persönlichkeit gehalten, die von einem ›Licht‹ erfüllt war, wie sie es an sich nie gesehen hatte.

»Ich heiße Ralf, Ralf Hart. Wenn du willst, spendiere ich dir noch einen Drink.«

»Nein, danke.«

Offenbar verlief die Begegnung genauso traurig, wie sie es vorhergesehen hatte: Ein Mann versucht, eine Frau zu verführen.

»Bitte noch zwei Pastis«, bestellte er trotzdem.

Hatte sie etwas Besseres vor? Etwa ein langweiliges Buch über Landwirtschaft zu lesen? Zum x-ten Mal am See spazierenzugehen? Oder mit jemandem zu reden, der in ihr ein Licht sah, von dem sie nichts wußte, und zwar genau an dem Tag, den sie in ihrem Kalender als Beginn der Endphase ihrer ›Erfahrung‹ angekreuzt hatte.

»Was machst du?«

Das war die Frage, die sie jedesmal, wenn sie mit jemandem ins Gespräch kam (was mit Schweizern aufgrund ihrer sprichwörtlichen Diskretion selten passierte), am liebsten überhörte. Was sollte sie darauf erwidern?

»Ich arbeite in einem Nachtclub.«

Jetzt war's heraus. Ein Zentnergewicht fiel von ihr ab und sie war zufrieden mit sich, weil sie gelernt hatte, zu fragen (›wer sind die Kurden?‹, ›was ist der Jakobsweg?‹) und zu antworten (›ich arbeite in einem Nachtclub!‹), ohne sich darum zu scheren, was die anderen von ihr denken mochten.

Maria spürte, daß er weiterfragen wollte, und genoß ihren kleinen Sieg; der Maler, der ihr ein paar Minuten zuvor noch Befehle erteilt hatte und genau zu wissen schien, was er wollte, war nun ein Mann wie jeder andere, voller Fragen angesichts einer Frau, die er nicht kannte.

»Und diese Bücher?«

Sie zeigte sie ihm. Landwirtschaft. Der Mann blickte noch fragender.

»Bist du Sexarbeiterin?«

Er hatte es gewagt. Etwa, weil sie sich wie eine Prostituierte kleidete? Sie mußte unbedingt Zeit gewinnen. Das, was jetzt begann, schien ein interessantes Spiel zu werden, ein Spiel, bei dem sie nichts zu verlieren hatte.

»Warum denken Männer nur an das eine?«

Er legte die Bücher auf den Tisch zurück.

»Sex und Landwirtschaft. Beides langweilig.«

Wie bitte? Plötzlich fühlte sie sich herausgefordert. Wie konnte er so schlecht über ihren Beruf reden? Er wußte wohl nicht, was genau sie machte, hatte nur eine vage Ahnung, aber sie durfte ihm keine Antwort schuldig bleiben.

Malerei; etwas Statisches, eine unterbrochene Bewegung, ein Foto, das dem Original nie genau entspricht. Ein toter Gegenstand, für den sich niemand mehr interessiert außer den Malern selbst – gebildeten Wichtigtuern, die nicht mit der Zeit gegangen sind. Hast du schon einmal von Joan Miro gehört? Ich nicht, oder vielmehr erst vor kurzem, in einem Restaurant, und ich kann nicht sagen, daß dies mein Leben entscheidend verändert hätte.«

Sie wußte nicht, ob sie zu weit gegangen war – denn die Drinks kamen, und das Gespräch wurde unterbrochen. Beide schwiegen minutenlang. Maria dachte, daß es Zeit war zu gehen, und vielleicht hatte Ralf Hart dasselbe gedacht. Aber die zwei vollen Gläser mit diesem gräßlichen Getränk lieferten einen Vorwand, weiter zusammenzubleiben.

»Warum das Buch über Landwirtschaft?«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich war schon in der Rue de Berne. Als du gesagt hast, was du machst, habe ich mich erinnert, daß ich dich schon einmal gesehen habe: in diesem teuren Nachtclub. Dennoch ist es mir beim Zeichnen vorhin nicht eingefallen: Dein Licht war zu stark.«

Maria hatte das Gefühl, daß der Boden unter ihren Füßen sich auftat. Zum ersten Mal schämte sie sich für ihre Tätigkeit, obwohl sie nicht den geringsten Grund dafür hatte. Sie arbeitete, um sich und ihre Familie zu ernähren. Aber er sollte sich dafür schämen, daß er in die Rue de Berne ging! Von einem Augenblick auf den anderen war der ganze Zauber verflogen.

Monate in der Schweiz. Ich weiß, wie diskret die Schweizer sind, weil sie in einem kleinen Land leben, in dem jeder jeden kennt. Darum kümmert sich auch keiner um das, was der andere macht. Deine Bemerkung war unangebracht und sehr unhöflich, aber falls es deine Absicht war, mich zu erniedrigen, um dich besser zu fühlen, dann verlierst du nur deine Zeit. Vielen Dank für den Pastis, er schmeckt grauenhaft. Trotzdem werde ich ihn austrinken und danach noch eine Zigarette rauchen. Du aber kannst sofort gehen, denn für berühmte Maler schickt es sich nicht, mit einer Hure am selben Tisch zu sitzen. Denn genau das bin ich, weißt du? Eine Hure. Ohne das geringste Schuldgefühl, von Kopf bis Fuß eine Hure. Und darin liegt meine Tugend: daß ich weder mir noch dir etwas vormache. Denn es lohnt sich nicht, und du hast es auch nicht verdient, daß ich dich belüge. Glaubst du, der berühmte Chemiker am anderen Ende des Cafes hat nicht gesehen, was ich bin?« Ihre Stimme wurde lauter. »Eine Hure! Und weißt du, was? Das gibt mir ein Gefühl von Freiheit – zu wissen, daß ich dieses verdammte Land in genau neunzig Tagen verlassen werde, mit vo llem Portemonnaie, sehr viel weltgewandter als bei meiner Ankunft und durchaus in der Lage, einen guten Wein auszuwählen, mit einem Koffer voller Fotos von mir im Schnee und als jemand, der die Männer kennt.«

Das Mädchen am Tresen spitzte erschrocken die Ohren. Der Chemiker verzog keine Miene. Aber vielleicht lag es auch am Alkohol, oder daran, daß sie bald schon wieder in ihrer brasilianischen Kleinstadt sein würde. Vielleicht genoß sie es auch einfach, sagen zu können, wie sie ihr Geld verdiente, und über die schockierten Reaktionen, die kritischen Blicke, das empörte Kopfschütteln zu lachen.

»Du hast richtig gehört? Eine Hure, nichts anderes und das ist meine Tugend!«

Er sagte nichts. Rührte sich nicht. Und Maria redete selbstbewußt weiter: »Du bist ein Maler, der nichts von seinen Modellen versteht. Vielleicht ist der Chemiker, der da verschlafen in der Ecke sitzt, ja in Wahrheit ein Eisenbahner. Und alle anderen Personen auf deinem Bild sind auch nicht, was sie zu sein vorgeben. Sonst hättest du nie sage n können, daß du in mir ein ›besonderes, inneres Licht‹ siehst – ausgerechnet in mir, einer HURE!«

Die letzten Worte hatte sie laut und sehr langsam ausgesprochen. Der Chemiker fuhr zusammen, die Kellnerin brachte die Rechnung.

»Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß du eine Prostituierte bist, sondern mit der Frau, die du bist.« Ralf übersah die Rechnung und sagte ebenfalls langsam, aber mit leiser Stimme: »Du hast ein Leuchten. Es kommt von deinem starken Willen, deiner Kraft, wie sie nur Menschen haben, die bereit sind, zur Verwirklichung ihrer Ziele große Opfer zu bringen. Deine Augen – dieses Licht zeigt sich in deinen Augen.«

Maria fühlte sich entwaffnet; er hatte sich nicht provozieren lassen. Sie wollte glauben, daß er sie verführen wollte, nichts weiter. Sie durfte nicht denken – zumindest nicht in den nächsten neunzig Tagen –, daß es interessante Männer auf der Welt gab.

»Siehst du diesen Pastis da vor dir?« fuhr er fort. »Du siehst nur einen Pastis. Ich hingegen, der ich in das hineinschauen muß, was ich male, sehe die Pflanze, aus der er gemacht ist, die Stürme, denen die Pflanze getrotzt hat, die Hand, die die Aniskörner geerntet hat, deren Reise bis hierher, rieche den Duft des Anises und sehe seine Farbe, ehe er dem Alkohol hinzugefügt wurde. Wenn ich eines Tages diese Szene male, ist das alles auch in dem Bild enthalten, obwohl du dann meinst, nur ein gewöhnliches Glas Pastis vor dir zu haben. Ebenso wie ich vorhin, als du auf die Gasse hinausgesehen und an den Jakobsweg gedacht hast – denn ich weiß, woran du dachtest –, auch deine Kindheit, Jugend, deine zerronnenen Träume, deine Pläne gemalt habe und deine Kraft – die hat mich am meisten verwirrt. Als du das Bild gesehen hast…«

Maria schwieg. Innerlich öffnete sie einen Spaltbreit ihr Visier, obwohl sie wußte, wie schwierig es werden würde, es später wieder zu schließen.

»Ich habe dieses Licht gesehen… auch wenn dort nur eine Frau war, die dir ähnlich sah.«

Wieder dieses peinliche Schweigen. Maria schaute auf die Uhr. »Ich muß bald gehen. Warum hast du gesagt, daß Sex langweilig ist?«

»Das solltest du besser wissen als ich.«

»Ich weiß es, weil es mein Arbeitsgebiet ist. Und weil ich jeden Tag das gleiche mache. Aber du mit deinen dreißig Jahren…«

»Neunundzwanzig…«

»…jung, gutaussehend, berühmt, der noch an diesen Dingen interessiert sein und es nicht nötig haben sollte, in die Rue de Berne zu gehen.«

»Ich hatte es aber nötig. Ich bin mit einigen deiner Kolleginnen ins Bett gegangen. Allerdings nicht, weil ich Probleme habe, eine Frau zu finden. Das Problem liegt woanders.«

Maria spürte ein Quentchen Eifersucht und war entsetzt. Sie merkte, daß sie jetzt wirklich gehen mußte.

»Es war mein letzter Versuch. Jetzt habe ich aufgegeben«, sagte Ralf, während er das auf dem Boden verstreute Material zusammensammelte.

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