Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend - Remarque Erich Maria 6 стр.


Sie kam von da an fast jeden Sonntag in den Garten, und wenn es regnete, kam sie in die Kapelle. Ich hatte von der Oberin die Erlaubnis, nach der Messe Orgel zu üben, wenn ich wollte. Ich tat es bei schlechtem Wetter. Ich übte nicht wirklich, dafür spielte ich zu schlecht; ich tat nur dasselbe wie mit dem Klavier: ich spielte für mich, irgendwelche lauen Phantasien, so gut es ging, etwas Stimmung und Träumerei und Sehnsucht nach Ungewissem, nach Zukunft, nach Erfüllung und nach mir selbst, und man brauchte nicht besonders gut zu spielen, um das zu können. Isabelle kam manchmal mit mir und hörte zu. Sie saß dann im Halbdunkel unten, der Regen klatschte an die bunten Scheiben, und die Orgeltöne gingen über ihr dunkles Haupt dahin – ich wußte nicht, was sie dachte, und es war sonderbar und etwas sentimental, aber dahinter stand dann plötzlich die Frage nach dem Warum, der Schrei, die Angst und das Verstummen. Ich fühlte das alles, und ich fühlte auch etwas von der unfaßbaren Einsamkeit der Kreatur, wenn wir in der leeren Kirche mit der Dämmerung und den Orgellauten waren, nur wir beide, als wären wir die einzigen Menschen, zusammengehalten vom halben Licht, den Akkorden und dem Regen, und trotzdem für immer getrennt, ohne jede Brücke, ohne Verständnis, ohne Worte, nur mit dem merkwürdigen Glühen der kleinen Wachfeuer an den Grenzen des Lebens in uns, die wir sahen und mißverstanden, sie in ihrer, ich in meiner Weise, wie taubstumme Blinde, ohne taub und stumm und blind zu sein, und deshalb viel ärmer und beziehungsloser. Was war es, das in ihr machte, daß sie zu mir kam? Ich wußte es nicht und würde es nie wissen – es war begraben unter Schutt und einem Bergrutsch -, aber ich verstand auch nicht, warum diese sonderbare Beziehung mich trotzdem so verwirrte, ich wußte doch, was mit ihr war und daß sie mich nicht meinte, und trotzdem machte es mich sehnsüchtig nach etwas, das ich nicht kannte, und bestürzte mich und machte mich manchmal glücklich und unglücklich ohne Grund und ohne Sinn.

Eine kleine Schwester kommt auf mich zu.»Die Oberin möchte gern mit Ihnen sprechen.«

Ich stehe auf und folge ihr. Mir ist nicht ganz wohl zumute. Vielleicht hat eine der Schwestern spioniert und die Oberin will mir sagen, ich solle nur mit Kranken über sechzig sprechen, oder sie will mir sogar kündigen, obschon der Oberarzt erklärt hat, es sei gut, wenn Isabelle Gesellschaft habe.

Die Oberin empfängt mich in ihrem Besuchszimmer. Es riecht nach Bohnerwachs, Tugend und Seife. Kein Hauch vom Frühling ist hineingedrungen. Die Oberin, eine hagere, energische Frau, empfängt mich freundlich; sie hält mich für einen tadellosen Christen, der Gott liebt und an die Kirche glaubt.»Es ist bald Mai«, sagt sie und sieht mir gerade in die Augen.

»Ja«, erwidere ich und mustere die blütenweißen Gardinen und den kahlen, glänzenden Fußboden.

»Wir haben daran gedacht, ob wir nicht eine Mai-Andacht abhalten könnten.«

Ich schweige erleichtert.»In den Kirchen der Stadt ist im Mai jeden Abend um acht Uhr eine Andacht«, erklärt die Oberin.

Ich nicke. Ich kenne die Mai-Andachten. Weihrauch quillt in die Dämmerung, die Monstranz funkelt, und nach der Andacht treiben sich die jungen Leuten noch einige Zeit umher auf den Plätzen mit den alten Bäumen, wo die Maikäfer summen. Ich gehe zwar nie hin, aber ich weiß das noch aus der Zeit, bevor ich Soldat wurde. Damals begannen meine ersten Erlebnisse mit jungen Mädchen. Alles war sehr aufregend und heimlich und harmlos. Aber ich denke nicht daran, jetzt jeden Abend dieses Monats um acht Uhr hier anzutreten und Orgel zu spielen.

»Wir möchten wenigstens sonntags abends eine Andacht haben«, sagt die Oberin.»Eine festliche, mit Orgelmusik und Te Deum. Eine stille wird ohnehin für die Schwestern jeden Abend gehalten.«

Ich überlege. Sonntags abends ist es langweilig in der Stadt, und die Andacht dauert nur eine knappe Stunde.

»Wir können nur wenig zahlen«, erklärt die Oberin.»Soviel wie für die Messe. Das ist jetzt wohl nicht mehr viel, wie?«

»Nein«, sage ich.»Es ist nicht mehr viel. Wir haben draußen eine Inflation.«

»Ich weiß.«Sie steht unentschlossen.»Der Instanzenweg der Kirche ist leider dafür nicht eingerichtet. Sie denkt in Jahrhunderten. Wir müssen das hinnehmen. Man tut es ja schließlich für Gott und nicht für Geld. Oder nicht?«

»Man kann es für beides tun«, erwidere ich.»Das ist dann ein besonders glücklicher Zustand.«

Sie seufzt.»Wir sind gebunden an die Beschlüsse der Kirchenbehörden. Die werden einmal im Jahr gefaßt, und nicht öfter.«

»Auch für die Gehälter der Herren Pastoren, Domkapitulare und das des Herrn Bischofs?«frage ich.

»Das weiß ich nicht«, sagt sie und errötet etwas.»Aber ich glaube schon.«

Ich habe inzwischen meinen Entschluß gefaßt.»Heute abend habe ich keine Zeit«, erkläre ich.»Wir haben eine wichtige geschäftliche Sitzung.«

»Heute ist ja noch April. Aber nächsten Sonntag – oder, wenn Sie sonntags nicht können, vielleicht einmal in der Woche. Es wäre doch schön, ab und zu eine richtige Mai-Andacht zu haben. Die Muttergottes wird es Ihnen sicher lohnen.«

»Das bestimmt. Da ist nur die Schwierigkeit mit dem Abendessen. Acht Uhr liegt gerade so dazwischen. Hinterher ist es zu spät und vorher ist es eine Hetze.«

»Oh, was das betrifft – Sie könnten natürlich hier essen, wenn Sie wollen. Hochwürden ißt ja auch immer hier. Vielleicht ist das ein Ausweg.«

Es ist genau der Ausweg, den ich wollte. Das Essen hier ist fast so gut wie bei Eduard, und wenn ich mit dem Priester zusammen esse, gibt es bestimmt eine Flasche Wein dazu. Da Eduard sonntags das Abonnement gesperrt hat, ist das sogar ein hervorragender Ausweg.

»Gut«, sage ich.»Ich werde es versuchen. Über das Geld brauchen wir weiter nicht zu reden.«

Die Oberin atmet auf.»Gott wird es Ihnen lohnen.«

Ich gehe zurück. Die Wege im Garten sind leer. Ich warte noch eine Zeitlang auf das gelbe Segel aus Shantungseide. Dann läuten die Glocken aus der Stadt zu Mittag, und ich weiß, daß jetzt der Schlaf für Isabelle kommt und dann der Arzt, und vor vier Uhr ist nichts zu machen. Ich gehe durch das große Tor den Hügel hinunter. Unten liegt die Stadt mit ihren grün patinierten Türmen und den rauchenden Schornsteinen. Zu beiden Seiten der Kastanienallee breiten sich die Felder aus, in denen an den Wochentagen die ungefährlichen Irren arbeiten. Die Anstalt ist zum Teil öffentlich, zum Teil privat. Die Privatpatienten brauchen natürlich nicht zu arbeiten. Hinter den Feldern beginnt der Wald mit Bächen, Teichen und Lichtungen. Ich habe dort als Junge Fische, Molche und Schmetterlinge gefangen. Es ist erst zehn Jahre her; aber es scheint in einem anderen Leben gewesen zu sein, in einer verschollenen Zeit, in der das Dasein ruhig ablief und sich organisch entwickelte und in der alles zueinander gehörte, von der Kindheit an. Der Krieg hat das verändert; wir leben seit 1914 Fetzen aus einem und dann Fetzen aus einem zweiten und dritten Leben; sie gehören nicht zusammen und wir können sie auch nicht zusammenbringen. Deshalb ist es nicht einmal zu schwierig, Isabelle mit ihren verschiedenen Leben zu verstehen. Nur ist sie fast besser dran als wir; sie vergißt, wenn sie in einem ist, alle anderen. Bei uns aber gehen sie durcheinander – die Kindheit, die abgerissen wurde durch den Krieg, die Zeit des Hungers und die desSchwindels, die der Schützengräben und die der Lebensgier -, von allen ist etwas geblieben und macht unruhig. Man kann es nicht einfach beiseite schieben. Es taucht immer überraschend wieder auf und steht sich dann unversöhnlich gegenüber: der Himmel der Kindheit und die Kenntnis des Tötens, die verlorene Jugend und der Zynismus zu frühen Wissens.

IV

Wir sitzen im Büro und warten auf Riesenfeld. Als Abendessen haben wir eine Erbsensuppe zu uns genommen, die so dick war, daß der Schöpflöffel aufrecht darin stehenblieb – dazu haben wir das Fleisch gegessen, das hineingekocht worden ist – Schweinepfoten, Schweineohren und für jeden ein sehr fettes Stück Schweinebauch. Das Fett brauchen wir, um unsere Mägen gegen den Alkohol zu imprägnieren – wir dürfen heute auf keinen Fall früher betrunken werden als Riesenfeld. Die alte Frau Kroll hat deshalb selbst für uns gekocht und uns zum Nachtisch noch eine Portion fetten Holländer Käse aufgedrängt. Die Zukunft der Firma steht auf dem Spiel. Wir müssen Riesenfeld eine Ladung Granit entreißen, selbst wenn wir dafür auf den Knien vor ihm nach Hause rutschen müssen. Marmor, Muschelkalk und Sandstein haben wir noch – aber Granit, der Kaviar der Trauer, fehlt uns bitter.

Heinrich Kroll ist aus dem Weg geräumt worden. Der Sargtischler Wilke hat uns den Gefallen getan. Wir haben ihm zwei Flaschen Korn gegeben, und er hat Heinrich vor dem Abendessen zu einem Skat mit freiem Schnaps eingeladen. Heinrich ist daraufhereingefallen; er kann nicht widerstehen, wenn er etwas umsonst bekommt, und trinkt dann, so rasch er kann; außerdem hält er sich, wie jeder nationale Mann, für einen sehr widerstandsfähigen Zecher. In Wirklichkeit kann er nicht viel vertragen, und der Rausch holt ihn plötzlich. Ein paar Minuten vorher ist er noch bereit, die sozialdemokratische Partei allein aus dem Reichstag zu prügeln – und gleich darauf schnarcht er mit offenem Munde und ist nicht einmal durch das Kommando: Sprung auf, marsch, marsch! mehr zu erwecken, besonders wenn er, wie wir das arrangiert haben, vor dem Essen auf leeren Magen den Schnaps getrunken hat. Er schläft jetzt unschädlich in Wilkes Werkstatt in einem Sarg aus Eichenholz, weich auf Sägespäne gebettet. In sein Bett haben wir ihn, aus äußerster Vorsicht, da er darüber erwachen könnte, nicht gebracht. Wilke aber sitzt eine Etage tiefer im Atelier unseres Bildhauers Kurt Bach und spielt mit ihm Domino, ein Spiel, das beide lieben, weil es soviel freie Zeit zum Denken gibt. Dazu trinken sie die eineinviertel Flaschen Schnaps, die nach Heinrichs Niederlage übriggeblieben sind und die Wilke als Honorar beansprucht hat.

Die Ladung Granit, die wir Riesenfeld entreißen wollen, können wir ihm natürlich nicht im voraus bezahlen. Soviel Geld haben wir nie zusammen, und es wäre auch Irrsinn, es auf der Bank halten zu wollen – es zerflösse wie Schnee im Juni. Wir wollen Riesenfeld deshalb einen Wechsel geben, der in drei Monaten fällig ist. Das heißt, wir wollen fast umsonst kaufen.

Natürlich kann Riesenfeld dabei nicht der Leidtragende sein. Dieser Hai im Meere menschlicher Tränen will verdienen wie jeder ehrliche Geschäftsmann. Er muß deshalb den Wechsel am Tage, an dem er ihn von uns erhält, seiner oder unserer Bank geben und ihn diskontieren lassen. Die Bank stellt dann fest, daß sowohl Riesenfeld als auch wir gut für den Betrag sind, auf den er lautet, zieht ein paar Prozente für die Diskontierung ab und zahlt ihn aus. Wir geben Riesenfeld die Prozente für die Diskontierung sofort zurück. Er hat damit sein volles Geld für die Ladung erhalten, als hätten wir es ihm vorausgezahlt. Aber auch die Bank verliert nichts. Sie gibt den Wechsel sofort an die Reichsbank weiter, die ihn ihr ebenso auszahlt, wie sie vorher Riesenfeld. Erst bei der Reichsbank bleibt er liegen, bis er fällig ist und zur Einlösung präsentiert wird. Was er dann noch wert ist, läßt sich denken.

Wir kennen alles dieses erst seit 1922. Bis dahin hatten wir gearbeitet wie Heinrich Kroll und waren darüber fast bankrott gegangen. Als wir beinahe das gesamte Lager ausverkauft hatten und zu unserm Erstaunen nichts dafür besaßen als ein wertloses Bankkonto und ein paar Koffer mit Geldscheinen, die nicht einmal gut genug waren, um unsere Bude damit zu tapezieren, versuchten wir zuerst, so rasch wir konnten, zu verkaufen und wieder einzukaufen – aber die Inflation überholte uns dabei mühelos. Es dauerte zu lange, bis wir die Denkmäler bezahlt bekamen – in der Zwischenzeit fiel das Geld so rasch, daß selbst der beste Verkauf zum Verlust wurde. Erst als wir anfingen, mit Wechseln zu zahlen, konnten wir uns halten. Wir verdienen auch jetzt noch nichts Rechtes; aber wir können wenigstens leben. Da jedes Unternehmen Deutschlands sich auf diese Weise finanziert, muß die Reichsbank natürlich immer weiter ungedecktes Geld drucken, und der Kurs fällt dadurch immer schneller. Der Regierung ist das scheinbar auch recht; sie verliert auf diese Weise alle ihre Landesschulden. Wer dabei kaputtgeht, sind die Leute, die nicht auf Wechsel kaufen können, Leute, die etwas Besitz haben und ihn verkaufen müssen, kleine Ladenbesitzer, Arbeiter, Rentner, die ihre Sparkasseneinlagen und ihre Bankguthaben dahinschmelzen sehen, und Angestellte und Beamte, die ihr Leben von Gehältern fristen müssen, die ihnen nicht mehr erlauben, auch nur ein Paar neue Schuhe zu kaufen. Wer verdient, sind die Schieber, die Wechselkönige, die Ausländer, die für ein paar Dollars, Kronen oder Zlotys kaufen können, was sie wollen, und die großen Unternehmer, Fabrikanten und Börsenspekulanten, die ihre Aktien und ihren Besitz ins Ungemessene vergrößern. Für sie ist alles beinahe umsonst. Es ist der große Ausverkauf des Sparers, des ehrlichen Einkommens und der Anständigkeit. Die Geier flattern von allen Seiten, und nur wer Schulden machen kann, ist fein heraus. Sie verschwinden von selbst.

Riesenfeld war es, der uns alles dies im letzten Augenblick beigebracht und uns zu winzigen Mitschmarotzern an der großen Pleite gemacht hat. Er akzeptierte von uns den ersten Dreimonatswechsel, obwohl zumindest wir damals nicht gut für die Summe waren, die daraufstand. Aber die Odenwälder Werke waren gut, und das genügte. Wir waren natürlich dankbar. Wir versuchten ihn zu unterhalten wie einen indischen Radscha, wenn er nach Werdenbrück kam – das heißt, soweit ein indischer Radscha eben in Werdenbrück unterhalten werden kann. Kurt Bach, unser Bildhauer, machte ein farbiges Porträt von ihm, das wir ihm feierlich in einem stilgemäßen echten Goldrahmen überreichten. Leider freute es ihn nicht. Er sieht darauf aus wie ein Pfarramtskandidat, und gerade das will er nicht. Er will aussehen wie ein dunkler Verführer und nimmt auch an, daß er so wirke – ein bemerkenswertes Beispiel von Selbsttäuschung, wenn man einen Spitzbauch und kurze, krumme Beine hat. Aber wer lebt nicht von Selbsttäuschung? Hege ich mit meinen harmlosen Durchschnittsfähigkeiten nicht auch noch, besonders abends, den Traum, ein besserer Mensch zu werden, mit Talent genug, einen Verleger zu finden? Wer wirft da den ersten Stein nach Riesenfelds O-Beinen, besonders wenn sie, in diesen Zeiten, in echt englischem Kammgarnstoff stecken?

»Was machen wir nur mit ihm, Georg?«sage ich.»Wir haben keine einzige Attraktion! Mit einfachem Saufen ist Riesenfeld nicht zufrieden. Er hat zuviel Phantasie dafür und einen zu ruhelosen Charakter. Er will etwas sehen und hören und, wenn möglich, anfassen. Unsere Auswahl an Damen aber ist trostlos. Die paar hübschen, die wir kennen, haben keine Lust, sich einen ganzen Abend Riesenfeld in seiner Rolle als Don Juan von 1923 anzuhören. Hilfsbereitschaft und Verständnis findet man leider nur bei häßlichen und ältlichen Vögeln.«

Georg grinst.»Ich weiß nicht einmal, ob unser Bargeld für heute abend reicht. Als ich gestern den Zaster holte, habe ich mich im Dollarkurs geirrt; ich dachte, es wäre noch der von vormittags. Als der von zwölf Uhr rauskam, war es zu spät. Die Bank schließt sonnabends mittags.«

»Dafür hat sich heute nichts geändert.«

»In der Roten Mühle schon, mein Sohn. Dort ist man sonntags dem Dollarkurs schon um zwei Tage voraus. Weiß Gott, was eine Flasche Wein da heute abend kosten wird!«

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