»Was ist denn hier geschehen?« fragte ich.
»Hascha! Geri tschek! Jaschmak-üm, jaschmak-üm Gott behüte! Geh fort! Mein Schleier! Mein Schleier!«
Sie rief um Hilfe und jagte mich doch wieder fort, weil sie keinen Gesichtsschleier hatte. Als ich mich genauer umblickte, sah ich die Fetzen desselben an den Dornen hängen.
»Burada; al mendil-im hier; nimm mein Taschentuch!« rief ich ihr zu.
Ich zog es hervor, beschwerte es mit einigen kleinen Steinchen und warf es ihr zu.
»Tschewir, büs bütün, tamam bütün drehe dich hinum, ganz und gar, vollständig!«
Ich gehorchte ihrem Befehle.
»Tekrar etrafynda wieder herum!« kommandierte sie nach einem Weilchen.
Als ich mich ihr nun zudrehte, hatte sie ihr Gesicht mit meinem Taschentuche verhüllt, sehr unnötigerweise, denn ich hatte ihr dunkelrotes Gesicht mit den Backentaschenwangen doch bereits genau genug gesehen.
Wäre sie ein Mann gewesen und beim verflossenen Leipziger Turnfeste erschienen, so hätte sie bei der bekannten »dicken Riege« schon durch ihr bloßes Erscheinen jede Konkurrenz und Rivalität aus dem Felde geschlagen. Da sie aber eine Dame war und ich mich gern für »genteel« halten lasse, so sei von einer näheren Personalbeschreibung hiermit abgesehen.
Der Orientale mißt die Schönheit seines Weibes nach dem Lehrsatze: Radius mal Radius mal Pi, multipliziert mit dem Quadrate des ganzen Durchmessers, gibt, in Millimetern ausgedrückt, die Kubikwurzel des Schönheitsgrades. Nach diesem Theorem enthielt die von Dornen eingefaßte Vertiefung einen Schatz von ungeheurem Werte.
Tschileka war in einen kurzärmeligen blauen Mantel gekleidet, welcher aber durch die Dornen ein wenig gelitten hatte. Diese kurzen Aermel erlaubten, ein Paar sehr lange, fuchsfeuerrote Handschuhe zu sehen, welche von ausgezeichneter Arbeit waren, da sie sich ohne das leiseste Fältchen an Hand und Arm anschlossen.
Es war ihr, ich weiß nicht wie, gelungen, ein Loch in das Taschentuch zu konstruieren. Durch dieses Monocle betrachtete sie mich eine Weile. Dann sagte sie unter einem mächtigen, donnerartig grollenden Seufzer:
»Fremdling, willst du mich retten?«
»Ja,« antwortete ich galant.
»Kannst du mich tragen?«
Ich erschrak auf das tiefste; doch suchte ich mich zu fassen und erkundigte mich:
»Muß dies denn sein?«
»Ja.«
»Kannst du nicht gehen?«
»Nein.«
»Bist du verletzt?«
»Ja.«
»Wo?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du mußt es doch fühlen!«
»Ich fühle es überall.«
»Hast du versucht, aufzustehen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Es geht nicht.«
»Versuche es getrost. Ich werde dir helfen.«
Nur drei Fuß bis hinab zu den Teppichen betrug die Tiefe. Ich sprang hinab und wollte ihr meine Hand bieten. Da aber schrie sie laut auf:
»Müssibet, müssibet Unglück, Unglück! Rühre mich nicht an! Ich bin nicht verhüllt!«
»Wo denn nicht?«
»Hier an den Armen.«
»Du hast doch Handschuhe an!«
»Handschuhe? Fremdling, bist du blind? Das ist doch nur el Pane, die rote Farbe des Krapp!«
Wahrhaftig! Diese Tschileka, zu deutsch »Erdbeere«, welche hier mitten unter Brom- und Himbeeren saß, hatte keine Handschuhe an. Ihre Arme waren vom Krapp so hochrot gefärbt. Ja, nun begriff ich, warum diese Handschuhe so faltenlos gesessen hatten!
Aber noch etwas anderes begriff ich auch: Frau Erdbeere war eine Bäckerin. Sie hatte krapprote Arme; sie war also wohl auch Färberin. Ich hatte die Frau des Bojadschy Boschak vor mir, den ich besuchen wollte, die gute Frau, welche ihre Tochter beschützte, wenn diese mit dem Freier sprach.
O gute Erdbeere! Derjenige, dessen Liebe du unter deinen mütterlichen Fittich nimmst, hat dich vor kaum einer Viertelstunde für einen Frosch, für eine Kröte und deine hilfeflehende Stimme für den Ruf einer mit klebrigen Warzen bedeckten Unke gehalten! Hat die Liebe nicht mehr Instinkt? Vermag sie nicht, die Nähe der Beschützerin zu ahnen ?
»Aber, wie soll ich dich aufrichten, wenn du mir nicht erlaubst, dich anzurühren?« fragte ich sie.
»Fasse mich von hinten an!«
Ich schlug einen Halbkreis, mit dessen Hilfe ich hinter ihren Rücken gelangte, und legte ihr die Hände unter.
»Chajyr, chajyr! Sen tschapuk kydschylelanyr nein, nein! Ich bin kitzlich!« kreischte sie so laut auf, daß ich vor Schreck mehrere Ellen weit zurückprallte.
»Aber wo soll ich dich anfassen?« fragte ich.
»Ich weiß es nicht.«
»So müssen wir es anders versuchen.«
»Aber wie?«
»Dort liegt ein Strick. Diejenigen, welche diese Waren hierherbrachten, haben ihn vergessen. Ich werde dich mit dem Strick aufziehen.«
»Doch nicht am Halse?«
»Nein, sondern an der Hüfte.«
»Versuche es!«
Ich holte den Strick, schlang ihn um den Leib der Erdbeere, drehte mich so, daß wir uns Rücken an Rücken befanden, zog den Strick, indem ich mich bückte, über meine Achsel und kommandierte dann:
»Gözet! Bir iki ütsch passe auf! Eins zwei drei!«
Bei drei richtete ich mich langsam auf. Der Strick spannte sich an, und ich begann zu ziehen. Es ging nicht.
»Sür, sür, sür schieb, schieb, schieb mit!« rief ich keuchend.
»Mümkinsiz, mümkinsiz; kajar-im unmöglich, unmöglich; ich rutsche aus!« keuchte sie noch mehr als ich.
Ich zog ihr den Strick wieder weg und holte Atem. War das ein ungeschicktes Weib! Allerdings war die Teppichlage, auf welche diese Mammut-Erdbeere zum Fall gekommen war, von einer gewissen Glattheit; überdies bildete dieselbe eine schiefe Ebene. Eine solche Last, die an sich keine Beweglichkeit besitzt, ist da nicht leicht empor zu bringen, und ich gestehe, daß mir beim Anblick der stacheligen Ranken ein sehr verbrecherischer Gedanke kam, den ich aber sofort von mir wies.
»Hast du denn jetzt nicht wenigstens bemerkt, ob du verletzt bist?« fragte ich.
»Ich bin verletzt,« antwortete sie.
»Wo denn?«
»Ich weiß es nicht überall. O Allah! Was werden die Leute sagen, wenn sie erfahren, daß ich mit dir ganz allein hier gewesen bin?«
»Habe keine Sorge! Man wird nichts erfahren.«
»Du sagst nichts?«
»Nein. Ich bin übrigens hier fremd.«
»Fremd? So bist du nicht aus dieser Gegend?«
»Nein.«
»Woher denn?«
»Weit her aus dem Abendlande.«
»So bist du kein Moslem?«
»Nein. Ich bin ein Christ.«
»Nicht wahr, die Frauen der Christen brauchen sich nicht zu verhüllen?« fragte sie.
»Nein.«
»Nun, so brauche auch ich keinen Schleier. Ich werde durch die Augen eines Christen, der tausend Frauen sieht, nicht beleidigt. Gib mir deine Hände!«
Ich gab sie ihr. Sie faßte an. Ich zog, und da stand sie aufrecht vor mir, zwar ein wenig schnaufend, aber doch glücklich auf die Füße gebracht.
War es eine Schande für mich, daß sie meinte, sich vor mir nicht genieren zu dürfen? Oder war es eine Ehre?
»Wie lange steckst du bereits hier?« fragte ich.
»O, eine lange, lange Zeit.«
»Wie aber kamst du herein?«
»Der Esel wurde scheu. Die Dornen stachelten ihn an die Beine.«
»Du saßest auf ihm?«
»Ja.«
Armer, armer Maulesel! Jetzt bedauerte ich es, ihn in seinem Schmaus gestört zu haben. Er hatte den Zucker mehr als reichlich verdient.
»Warum aber bist du mit ihm in diese Dornen geritten?« erkundigte ich mich.
»Ich wollte wollte «
Sie wurde noch röter, als sie so bereits war, und schwieg. Ich warf einen Blick umher. Das war ja ein kleines Magazin hier unten.
»Wem gehören diese Sachen?« fragte ich.
»Ich ich ich weiß es nicht!«
»Und doch hast du gewußt, daß sie sich hier befinden?«
»Nein.«
»Ich bin verschwiegen und zudem fremd. Vor mir brauchst du keine Angst zu haben. Aber wie gut, daß ich dich nicht vorher bemerkte, als noch ein zweiter bei mir war!«
»Du warst nicht allein?«
»Nein. Ein junger Mann aus Kabatsch war bei mir.«
»Wo ist er jetzt?«
»Nach Hause.«
»Kennst du seinen Namen?«
»Ja. Es ist der Sahaf Ali.«
»Dieser, ah dieser! Nein, der darf nicht wissen, was du hier gesehen hast. Du kennst ihn gut?«
»Ich sah ihn heute zum erstenmal, aber er hat mir sehr gut gefallen.«
»Und wie hast du mich gefunden?«
»Ich sah dein Gebäck am Boden liegen und dann fand ich den Maulesel. Er war in den Sträuchern hängen geblieben. Ich band ihn an und folgte deiner Spur. So kam ich hierher.«
»Dieser Esel ist ein sehr dummes Geschöpf. Nun muß ich das Gebäck von der Erde auflesen und kann mich doch nur sehr schwer bücken. Wirst du mir helfen?«
»Gern!«
»So komm!«
»Wird es gehen? Wirst du hier emporsteigen können?«
»Nein. Aber du wirst mich ziehen oder schieben.«
»Ich denke, du bist kitzlich!«
»Nun nicht mehr, da du ein Christ bist.«
Hm! Diese Dame besaß wirklich höchst eigentümliche Nerven! Ich stieg jetzt auf dem Teppichlager herum, um es mir genauer zu betrachten. Dann fragte ich:
»Gehört dieser Ort noch zu Koschikawak oder bereits nach Dschnibaschlü?«
»Nach Dschnibaschlü.«
»Was für ein Mann ist euer Kiaja?«
»Ich bin nicht seine Freundin,« antwortete sie aufrichtig.
Jetzt wußte ich genug. Der Zufall hatte mir hier einen Trumpf in die Hand gespielt, den ich zugunsten des Buchhändlers auszuspielen entschlossen war.
»Gehst du mit?« fragte sie.
»Ja.«
»So komm! Führe mich!«
Ich geleitete sie von den Teppichen herab bis dahin, wo die Dornen begannen.
»Aber mein Gewand wird hängen bleiben!« sagte sie.
»Ich werde dir Platz machen. Ich schlage die Dornen mit meinem Messer ab.«
»Nein, nein!« sagte sie ängstlich. »Das darfst du nicht!«
»Warum nicht?«
»Es ist verboten!«
»Wer hat es verboten?«
»Eben dieser böse Kiaja.«
Ich durchschaute sie. Dieser Platz war ein sehr passendes Versteck für das gesetzwidrige Treiben ihres Mannes. Man hielt das Gestrüpp für undurchdringlich; aber es mußte doch eine Stelle geben, wo es leicht passierbar war. Bahnte ich einen breiten Weg hindurch, so war die Grube der Entdeckung ausgesetzt. Das wollte sie verhüten.
»Wohin willst du mit dem Gebäck?« fragte ich sie.
»Nach Göldschik; da aber ging der Esel durch.«
Ah, sie hatte gewußt, daß, vielleicht während der letzten Nacht, diese Waren hier untergebracht worden waren, und sie war durch die Neugierde, dieselben zu sehen, von dem Wege abgetrieben worden. Sie hatte den Esel zu weit in die Dornen gedrängt, und dieser war durchgegangen, unglücklicherweise mitten durch das Gestrüpp und über die Vertiefung hinweg.
»Woher kommst du heute?« fragte sie mich.
»Von Koschikawak.«
»Und wohin willst du?«
»Nach Dschnibaschlü und Kabatsch.«
»Was willst du in Kabatsch?«
»Ich will Ali, den Sahaf besuchen.«
»Wirklich? Sag, Fremdling, willst du mir wohl da einen Gefallen erweisen?«
»Sehr gern.«
»Ich will dir etwas für ihn mitgeben.«
»Schön!«
»Aber ich habe es nicht hier. Du müßtest mit nach meiner Wohnung gehen.«
Das war mir eben recht. Dennoch bemerkte ich:
»Ich denke, du willst nach Göldschik reiten!«
»Nun nicht. Dem Esel ist heute nicht mehr zu trauen. Aber ich muß dir sagen, daß mein Mann nicht wissen darf, daß ich dir eine Botschaft für Ali gebe.«
»Ich werde schweigen. Wer ist dein Mann?«
»Er heißt Boschak und ist Bojadschy und Etmektschi. Ich werde ihm gar nicht mitteilen, daß wir beide hier gewesen sind, und du wirst niemals zu einem Menschen davon sprechen!«
Diese Frau setzte meine Verschwiegenheit als etwas ganz Selbstverständliches voraus. Dann fuhr sie fort:
»Ich werde meinem Manne nur erzählen, daß mir der Esel durchgegangen ist und mich abgeworfen hat. Du hast ihn eingefangen und mich auf dem Wege gefunden. Nachher bin ich von dir heimgeleitet worden.«
»Was soll ich dem Sahaf bringen?«
»Das sage ich dir später. Jetzt wollen wir fort von hier.«
Es war kein leichtes Stück Arbeit, diese eigenartige Erdbeere die Böschung hinauf und dann durch das dichte Dorngestrüpp zu schaffen. Es gelang aber doch.
»Jetzt wirst du den Gang, den wir getreten haben, wieder zumachen«, befahl sie peremptorisch. »Kein Mensch darf wissen, daß man durch die Dornen dringen kann!«
»Du bist eine vorsichtige Herrin. Du hast recht.«
Nach diesen Worten machte ich mich an die mühsame Arbeit, wobei mir mancher Dorn in die Haut drang.
»So ist es gut!« sagte sie, nachdem ich die Aufgabe zu ihrer Zufriedenheit gelöst hatte. »Du bist sehr geschickt in solchen Dingen. Ich danke dir! Jetzt wirst du mir erlauben, mich auf dein Pferd zu setzen.«
»Willst du nicht lieber gehen?«
»Warum?«
»Mein Pferd hat noch nie ein Weib getragen.«
»O, ich tue ihm nichts!«
»Das glaube ich! Aber sieh dir diesen Sattel an. Er ist nicht für die zarten Glieder eines weiblichen Wesens gemacht. Er ist so eng, daß du gar nicht Platz in ihm finden würdest.«
»So nimm ihn herab. Ich setze mich auf den bloßen Rücken des Tieres. Da finde ich Platz.«
»Das würde viel Zeit erfordern. Ich müßte das Pferd führen, und zudem könnten wir ja dein Gebäck nicht auflesen, welches dein Maulesel auf dem Boden verstreut hat. Es ist gar nicht weit bis dahin, wo ich ihn angebunden habe.«
»Du hast ihn festgebunden? Das ist gut! Ich werde also, da du es für besser hältst, zu Fuße gehen, obgleich mir diese Bewegung schaden kann. Ich pflege, wenn ich gehe, den Atem zu verlieren, und dann muß ich stets lange warten, bis er wieder kommt. Das Gehen verursacht mir immer ein großes Herzklopfen, und dann bekomme ich schlimmen Husten und Niesen, so daß ich dem Tode nahe bin.«
Ich nahm meinen Rappen am Zügel. Sie stützte sich auf meinen Arm, und wir setzten uns in Bewegung. Wir hatten kaum dreißig Schritte getan, so begann sie zu pusten und zu schnaufen. Sie blieb stehen, holte tief Atem und sagte:
»Siehst du, jetzt geht es los. Ich muß mich noch besser auf dich stützen. Wir wollen langsamer gehen.«
Wir schritten nun mit der halben Geschwindigkeit eines Leichenzuges weiter. Als wir die Stelle erreichten, an welcher die erste Semmel lag, sagte sie:
»Hier liegt eine Frandschela. Hebe sie auf!«
Ich tat es. Eine kurze Strecke weiter wiederholte sie:
»Hier liegt abermals eine Frandschela. Hebe sie auf!«
Ich gehorchte abermals.
Nach kurzer Zeit hatte ich einen ganzen Arm voll Bäckerwaren zu tragen, das Pferd zu führen und auch die gute Dame zu stützen. Nach einer weiteren Strecke blieb sie halten, zog ihren Arm aus dem meinigen, schlug die Hände zusammen und rief:
»O Allah! Hier liegt ein ganzer Haufe Buttergebackenes! Dieser Maulesel muß eine Menge Ratten im Kopfe haben, daß es ihm einfällt, diese kostbare Speise auf die Erde zu werfen. Hebe sie auf!«
»Gern, sehr gern! Aber sage mir vorher, wohin ich diese Saj jaghyla tun soll. Ich habe keinen Platz mehr für sie.«
»Tue sie in deinen Mantel!«
»Allah l Allah! Siehst du nicht, welche Farbe mein Mantel hat?«
»Er ist weiß. Er ist so weiß wie der Schnee des Gebirges. Ich vermute, daß er neu ist.«
»Allerdings. Er ist neu, und ich habe volle zweihundert Piaster dafür bezahlt!«