Ohne mich nach ihnen umzusehen, schritt ich nach dem mir bezeichneten Hause und trat in die Türe.
Es war ganz auf bulgarische Weise gebaut und bestand nur aus einem Raum, der aber durch Weidengeflecht in mehrere Abteilungen geschieden war. In dem vorderen Gelaß fand ich eine Art von Stuhl, auf den ich mich setzte.
Die beiden Genannten hatten nicht gewagt, mir zu widerstreben; sie traten daher fast unmittelbar hinter mir ein. Und durch das Mauerloch, welches als Fenster diente, bemerkte ich, daß sich draußen noch immer die Bewohner des Ortes zusammenhielten, jedoch in respektvoller Entfernung von meinen Begleitern.
Der Kiaja und sein Untergebener befanden sich sichtlich in einer nicht beneidenswerten Lage. Beide hatten Angst, und das mußte ich benützen.
»Bekdschi, bleibst du auch jetzt noch bei dem, was du mir vorhin gesagt hast?« fragte ich.
»Ja,« antwortete er.
»Trotzdem du mich belogen hast?«
»Ich habe nicht gelogen!«
»Du hast gelogen, und zwar nur deshalb, weil es der Kiaja so haben wollte.«
Das Ortsoberhaupt fuhr erschrocken auf:
»Effendi!«
»Was? Was willst du sagen?«
»Ich habe ja zu diesem Mann kein Wort gesagt!«
»Nein, aber gewinkt hast du ihm!«
»Nein!«
»Ich sage euch, daß ihr beide lügt. Kennt ihr das Sprichwort von dem Juden, welcher ertrank, weil er sich in den Brunnen schlafen gelegt hatte?«
»Ja.«
»Wie jenem Juden wird es auch euch ergehen. Ihr begebt euch in eine Gefahr, welche wie das Wasser des Brunnens über euch zusammenfließen und euch ersticken wird. Ich aber will euer Unglück nicht; ich will euch warnen. Ich rede hier mit euch, damit eure Untergebenen und Freunde nicht erfahren sollen, daß ihr dennoch die Unwahrheit gesagt habt. Ihr seht, daß ich mild und freundlich mit euch bin. Nun aber verlange ich auch, von euch die Wahrheit zu hören!«
»Wir haben sie bereits gesagt,« beteuerte hierauf der Kiaja.
»Es sind also während dieser Nacht nicht Fremde durch diesen Ort geritten?«
»Nein.«
»Drei Reiter?«
»Nein.«
»Auf zwei Schimmeln und einem dunklen Pferd?«
»Nein.«
»Sie haben nicht mit euch gesprochen?«
»Wie können sie mit uns gesprochen haben, wenn sie gar nicht hier gewesen sind! Wir haben keinen Fremden gesehen.«
»Gut! Ich habe es gut mit euch gemeint, ihr aber meint es desto schlimmer mit euch selbst. Da ihr mich belügt, so werde ich euch nach Edreneh schaffen lassen, und zwar zum Wehli[2] selbst. Ich habe deshalb die drei Kawassen mitgebracht. Man wird euch dort schnell den Prozeß machen. Nehmt Abschied von den Eurigen!«
Ich sah, daß beide heftig erschraken.
»Effendi, du scherzest!« sagte der Ortsvorsteher.
»Was fällt dir ein?« antwortete ich, von meinem Sitz aufstehend. »Ich habe euch weiter nichts zu sagen und werde jetzt die Kawassen rufen.«
»Aber wir sind unschuldig!«
»Man wird euch beweisen, daß ihr schuldig seid. Dann aber seid ihr verloren. Ich hatte die Absicht, euch zu retten. Ihr aber wollt es nicht. Nun möget ihr auch die Folgen eures Starrsinnes tragen!«
Ich schritt der Türe zu, als ob ich die Polizisten rufen wollte; da aber trat der Kiaja mir schnell in den Weg und fragte:
»Effendi, ists wahr, daß du uns retten wolltest?«
»Ja.«
»Auch jetzt noch?«
»Hm! Ich weiß es nicht. Ihr habt geleugnet!«
»Aber wenn wir nun gestehen?«
»Dann ists vielleicht noch Zeit.«
»Du wirst nachsichtig sein und uns nicht gefangen nehmen?«
»Ihr habt nicht zu fragen, sondern zu antworten. Versteht ihr mich? Was ich dann beschließe, das werdet ihr erfahren. Grausam aber bin ich nicht.«
Sie blickten einander an. Der Nachtwächter erhob wie in stummer Bitte ein wenig die Hand.
»Und hier wird niemand erfahren, was wir dir erzählen, Effendi?« fragte der Kiaja.
»Wohl schwerlich.«
»Nun gut, so sollst du die Wahrheit hören. Gehe nicht hinaus; bleibe hier und sage uns, was du wissen willst. Wir werden dir nun antworten.«
Ich nahm meinen vorigen Platz wieder ein und wendete mich an den Nachtwächter:
»Also es sind Fremde in der Nacht durch das Dorf gekommen?«
»Ja.«
»Wer?«
»Nach Mitternacht ein Ochsenwagen. Später aber diejenigen, nach denen du zu forschen scheinst.«
»Drei Reiter?«
»Ja.«
»Auf was für Pferden?«
»Auf zwei Schimmeln und einem Braunen.«
»Sprachen sie mit dir?«
»Ja. Ich stand mitten auf der Straße, und da redeten sie mich an.«
»Sprachen alle drei mit dir?«
»Nein, sondern nur der eine.«
»Was sagte er?«
»Er bat mich, zu verschweigen, daß ich diese drei Reiter gesehen habe, wenn ich gefragt werden sollte. Er gab mir ein Bakschisch.«
»Wie viel?«
»Zwei Piaster.«
»Ah, das ist viel, sehr viel!« lachte ich. »Und für diese zwei Piaster hast du gegen das Gebot des Propheten gesündigt und mir Lügen gesagt?«
»Effendi, nicht diese Piaster allein haben die Schuld.«
»Was noch?«
»Sie fragten mich, wie unser Kiaja heiße, und als ich den Namen sagte, begehrten sie, zu ihm geführt zu werden.«
»Kanntest du sie oder einen von ihnen?«
»Nein.«
»Aber sie scheinen den Kiaja gekannt zu haben, da sie wünschten, mit ihm zu sprechen. Hast du ihren Wunsch erfüllt und sie zu ihm geführt?«
»Ja.«
Infolgedessen wendete ich mich an den Ortsvorsteher, welcher sich offenbar in weit größerer Sorge befand, als sein Untergebener. Der unsichere Blick, welchen ich an ihm beobachtete, ließ leicht erraten, daß er kein gutes Gewissen hatte.
»Behauptest du immer noch, daß niemand durch das Dorf gekommen sei?« fragte ich ihn.
»Effendi, ich hatte Angst,« antwortete er.
»Wer Angst fühlt, hat Unrecht getan! Du selbst gibst dir da ein schlechtes Zeugnis.«
»Herr, ich bin mir keines Unrechtes bewußt!«
»Wozu und woher also die Angst? Sehe ich aus wie ein Mann, vor dem man sich unschuldigerweise zu ängstigen braucht?«
»O, vor dir hatte ich keine Furcht.«
»Vor wem denn?«
»Vor Manach el Barscha.«
»Ah, so kennst du ihn?«
»Ja.«
»Wo hast du ihn kennen gelernt?«
»In Mastanly und Ismilan.«
»Wie oder wo bist du da mit ihm zusammengetroffen?«
»Er ist Einnehmer der Kopfsteuer in Uskub und war nach Seres gekommen, um sich mit den dortigen Einwohnern zu besprechen. Er besuchte von da aus den berühmten Jahrmarkt zu Menlik.«
»Wann war das?«
»Vor zwei Jahren. Dann hatte er in Ismilan und Mastanly zu tun, und an beiden Orten hatte ich ihn gesehen.«
»Hast du auch mit ihm gesprochen?«
»Nein. Aber ich hörte kürzlich von ihm, daß er höhere Steuern erhoben hat, als er durfte, und daß er deshalb geflohen sei. Er ist in die Berge gegangen.«
»In die Berge gehen« heißt, wie bereits bemerkt, unter die Räuber gehen. Darum sagte ich jetzt in strengem Tone:
»So hattest du, sobald er zu dir kam, die Verpflichtung, ihn festzuhalten!«
»O Effendi, das durfte ich nicht wagen!«
»Warum nicht?«
»Es wäre mein Tod gewesen. Es wohnen so viele Männer in den Bergen; in allen Schluchten stecken sie, und ihre Verbündeten zählen nach Hunderten. Sie kennen sich alle und rächen einander. Hätte ich ihn gefangen genommen, so wären seine Freunde gekommen und hätten mich getötet!«
»Du bist ein Feigling und fürchtest dich, deine Pflicht zu tun. Du solltest keinen Augenblick länger Vorstand bleiben dürfen!«
»O Herr, du irrst! Es ist mir nicht um mich zu tun; aber sie hätten unser ganzes Dörfchen dem Erdboden gleich gemacht.«
Da öffnete sich die Türe, und der Kopf des kleinen Hadschi erschien in der Oeffnung.
»Sihdi,« sagte er, »ich habe ein Wort mit dir zu sprechen.«
Er sprach das, um von dem Kiaja und Nachtwächter vielleicht nicht verstanden zu werden, in arabischer Sprache, und zwar in dem westsaharischen Dialekt seiner Heimat.
»Was ist es?« fragte ich.
»Komm her; mach geschwind!« antwortete er, ohne sich weiter zu erklären.
Ich ging also zu ihm hin. Er hatte mir jedenfalls etwas nicht Unwichtiges mitzuteilen.
»Nun rede!« flüsterte ich ihm zu.
»Sihdi,« erklärte er leise, so daß die beiden ihn nicht zu verstehen vermochten. »Einer von den Einwohnern gab mir einen verstohlenen Wink und entfernte sich hinter das Haus. Ich folgte ihm so unauffällig wie möglich, und da sagte er, daß er uns etwas mitteilen wolle, wenn wir ihm zehn Piaster bezahlen möchten.«
»Wo befindet er sich jetzt?«
»Noch hinter dem Hause.«
»Er hat dir weiter nichts gesagt?«
»Nein, kein Wort.«
»Ich werde zu ihm gehen. Bleibe einstweilen hier, damit diese zwei Männer sich nicht gegen uns verständigen können.«
Zehn Piaster, ungefähr zwei Mark, das war gar nicht zu viel, um etwas Wichtiges zu erfahren. Ich ging nicht vorn auf die Dorfstraße hinaus, sondern ich verließ den Raum direkt durch den schmalen hinteren Ausgang. Da sah ich eine viereckige Umzäunung, innerhalb deren sich mehrere Pferde befanden. In der Nähe stand ein Mann, der augenscheinlich auf mich wartete. Als er mich sah, kam er schnell auf mich zu und sagte leise:
»Willst du bezahlen, Effendi?«
»Ja.«
»So gib her!«
»Hier!«
Ich zog die kleine Summe hervor. Er steckte sie ein und raunte mir dann zu:
»Sie sind dagewesen!«
»Ich weiß es.«
»Er hat ihnen ein Pferd vertauscht.«
»Welches?«
»Einen Schimmel. Sie wollten drei Schimmel haben und ließen das andere da. Siehe, dort in der Ecke steht es.«
Ich blickte hin. Die Farbe des Pferdes stimmte mit dem, was man mir gesagt hatte.
»Ist das alles, was du mir sagen wolltest?« fragte ich.
»Nein, es kam kurz nach Mittag einer, der sich nach ihnen erkundigt hat.«
»Bei wem?«
»Bei mir. Darum weiß ich es. Ich stand am Wege, als er kam, und er fragte nach drei Reitern, von denen zwei auf weißen Pferden geritten wären. Ich wußte nichts und wies ihn zum Wächter; dieser aber führte ihn dann zu dem Kiaja.«
»Hielt er sich lange auf?«
»Nein. Er schien es sehr eilig zu haben.«
»Kannst du ihn beschreiben?«
»Ja. Er ritt einen alten Falben, der bereits sehr schwitzte. Auf dem Kopf hatte er ein rotes Fez, und da er sich in ein langes, graues Binisch[3] gehüllt hatte, konnte ich nur noch seine roten Kundurra[4] sehen.«
»Hatte er einen Bart?«
»Er war außer einem kleinen, hellen Byjik[5] vollständig bartlos, wie ich bemerkt habe.«
»Wohin ritt er?«
»Nach Mastanly zu. Aber die Hauptsache hast du noch gar nicht gehört. Nämlich der Kiaja hat in Ismilan eine Schwester, deren Mann der Bruder der Schuta ist.«
Das war allerdings so wichtig, daß ich vor Ueberraschung einen Schritt zurückwich.
Auf der Balkanhalbinsel hat dem Räuberunwesen niemals gesteuert werden können; ja, grad in den gegenwärtigen Tagen berichten die Zeitungen fast ununterbrochen von Aufständen, Ueberfällen, Mordbrennereien und anderen Ereignissen, welche auf die Haltlosigkeit der dortigen Zustände zurückzuführen sind. Da oben nun, in den Bergen des Schar Dagh, zwischen Prisrendi und Kakandelen, machte ein Skipetar von sich reden, der mit den Unzufriedenen, die er um sich versammelt hatte, bis hinüber zum Kurbecska-Planinagebirge und bis herab in die Täler des Babuna streifte. Man erzählte sich, daß er sogar in den Schluchten des Perin-Dagh gesehen worden sei und in der Einsamkeit des Despoto-Planina seine Anhänger habe.
Seinen eigentlichen Namen wußte niemand. El Aßfar, Sayrik, Schut, so wurde er genannt, je nach der Sprache, deren man sich bediente. Diese drei Wörter bedeuten »der Gelbe«. Vielleicht hat er diese Färbung infolge einer Gelbsucht erhalten. Schuta ist das serbische Femininum von Schut und bedeutet die >Gelbe<.
Also diese Schuta, die Frau dieses Skipetaren, war eine Verwandte meines Kiaja. Das gab mir natürlich sehr zu denken. Doch konnte es mir nicht einfallen, ihm wissen zu lassen, was ich schloß und folgerte.
»Hast du noch etwas zu sagen?« fragte ich den Mann.
»Nein. Bist du nicht zufrieden?«
»O doch. Aber wie kommt es, daß du deinen Vorgesetzten gegen mich verrätst?«
»Effendi, er ist kein guter Mensch. Keiner hat ihn lieb, und alle leiden unter seiner Ungerechtigkeit.«
»Weiß noch jemand, daß du mit mir sprichst?«
»Nein. Ich bitte dich, es keinem zu sagen.«
»Ich werde schweigen.«
Nach dieser Versicherung wollte ich abbrechen, da aber fiel mir ein, daß ich beinahe etwas sehr Notwendiges unterlassen hätte.
»Bist du in Ismilan bekannt?« fragte ich.
»Ja.«
»So kennst du auch wohl den Schwager des Kiaja, von dem du behauptest, daß seine Schwester das Weib des Skipetaren sei?«
»Ja, ich kenne ihn.«
»Was ist er?«
»Er ist Silahdschi[6] und hat zugleich ein Kahwehane[7], wo seine Waffen zum Verkaufe aushängen.«
»Wo wohnt er?«
»In der Gasse, die nach dem Dorf Tschatak führt.«
»Ich danke dir! Aber nun schweige auch du, so wie ich verschwiegen sein werde.«
Jetzt nun ging ich nach dem Innern des Hauses zurück. Den Mienen des Kiaja und des Nachtwächters sah ich es nicht an, ob sie errieten, daß meine Entfernung eine ihnen feindliche Ursache gehabt habe. Halef zog sich augenblicklich zurück.
»Nun,« fuhr ich in dem unterbrochenen Gespräche fort, »möchte ich gern wissen, was dieser frühere Steuereinnehmer von Uskub bei dir gewollt hat.«
»Er erkundigte sich nach dem Wege,« antwortete der Kiaja.
»Wohin?«
»Nach Sofala.«
Sofala lag grad gegen Süden, während ich überzeugt war, daß die drei Flüchtigen nach West geritten seien. Dieser brave Kiaja wollte mich also von der richtigen Bahn ablenken. Ich ließ ihm natürlich nicht merken, daß ich seinen Worten keinen Glauben schenkte, und fragte:
»Nicht wahr, Manach el Barscha kam von Edreneh?«
»Ja.«
»So ist er von dort aus über Samanka, Tschingerli und Orta-kiöj grad nach West geritten und nun hier ganz plötzlich nach Süd umgebogen. Wenn er nach Sofala wollte, konnte er doch sofort über Tatar, Ada, Schahandscha, Demotika und Mandra südlich reiten. Warum hat er infolge dieses Winkels, dieser Ecke einen Umweg von mehr als sechszehn Reitstunden vor sich gelegt?«
»Ich habe ihn nicht gefragt.«
»Und ich kann es nicht begreifen.«
»Er darf sich nicht sehen lassen. Man will ihn fangen. Vielleicht hat er die Zabtie[8] irre leiten wollen.«
»Das ist möglich.«
»Du suchst ihn auch? Du willst ihn fangen?«
»Ja.«
»So mußt du der Richtung folgen, die ich dir angegeben habe.«
»Es ist sehr gut, daß du mir das gesagt hast. Wohnt in dieser südlichen Richtung kein Verwandter oder Bekannter von dir, an den ich mich nötigenfalls wenden könnte?«
»Nein.«
»Aber Verwandte hast du doch?«
»Nein.«
»Keine Eltern?«
»Nein.«
»Keinen Bruder, keine Schwester?«
»Auch nicht.«
Das war eine Lüge. Und der Wächter, welcher jedenfalls die Verhältnisse seines Dorfobersten kannte, machte keine Miene, mir die Wahrheit zu verraten. Diese beiden Menschen sahen mich für einen sehr hohen Herrn an; dennoch täuschten sie mich. Ich, der ich doch nur ein Fremder war, ganz allein auf mich selbst angewiesen, hatte natürlich nicht die mindeste Macht gegen sie in den Händen. List war es allein, die ich anwenden konnte, und diese bestand hier auch nur darin, daß ich mir den Anschein gab, als ob ich den Worten des Kiaja Glauben schenke. Ich zog mein Notizbuch aus der Tasche, blätterte darin, so tuend, als ob ich etwas suche, machte dann eine Miene, wie wenn ich das Gesuchte gefunden hätte, und sagte: