Und jetzt sollte mir dieser brave Götze gefährlich werden? Vielleicht weil ich ein Tao-dse und kein Mandschu war!
Was die Lung-yin, die »Drachenmänner«, betrifft, so hatte ich über dieselben bereits sehr viel gehört und gelesen. Chinesische Seeräuberdschunken hat es zu allen Zeiten gegeben und giebt es auch noch heute. Diese Räuber auf offener See sind ein mutiges Volk, noch verwegener aber sind die Flußpiraten, welche in denjenigen fließenden Gewässern Chinas, an denen bedeutende Städte liegen, ihr verbrecherisches Wesen treiben. Sie vollführen ihre blitzesschnellen Ueberfälle sowohl bei Tage als bei Nacht, mitten in einer Bevölkerung, die nach Millionen zählt, und haben Verbindungen von den untersten Schichten bis hinauf in die höchsten Mandarinenkreise. Sie bilden weitverzweigte und dennoch enggeschlossene Huis[71], die nach sehr strengen Gesetzen regiert werden, fürchterliche Parasiten im Volkskörper, Raubstaaten im Staate, der sich ihrer nicht erwehren kann. Wenn in einer Stadt von der Bevölkerung Pekings, Nankings oder Cantons täglich eine Anzahl von Menschen spurlos verschwindet, so erregt das keinerlei öffentliche Aufmerksamkeit; wagen sich jedoch die Piraten, was allerdings auch nicht selten geschieht, an einen Ausländer, so treten die Konsuln ein, und es beginnt eine Untersuchung, welche gewöhnlich den Erfolg hat, daß die Verbrecher straflos entrinnen. Hierzu giebt es Gründe, unter denen jedenfalls einige sind, welche gewisse Mandarinen nicht gern besprechen möchten.
Endlich schlief ich ein; aber noch im Traume verfolgten mich die Gedanken weiter. Mein Zopf nahm die Gestalt einer Boa constrictor an und schlang sich um meinen Leib, um mich zu erwürgen; der gute Frick Turnerstick saß als oberster Götze in einer Pagode, spie mir Feuer entgegen und schrie: »Reiß aus, Charlung, sonst werdang ich dich fresseng!« Ich floh; aber die Pagode verwandelte sich in einen riesigen Drachen, welcher mich einholte, mich erfaßte, mit mir in die Lüfte stieg und mich dann herunterwarf in einen Haufen von Wassermelonen und Nüssen, die alle lebendig wurden und von mir verspeist sein wollten. Ich that ihnen diesen Gefallen, und als ich die letzte verschluckt hatte, erschien der chinesische Kriegsgott, schnitt mir ein zorniges Gesicht, faßte mich beim Arme, schüttelte mich drohend und rief.
»Alle Wetter, Charley, wacht doch endlich einmal auf, wenn Ihr nicht tot seid! Oder soll ich Euch etwa den Arm auszerren?«
Ich schlug die Augen auf und sah mich sehr angenehm enttäuscht: der Furcht erweckende Kriegsgott hatte sich in meinen guten Frick Turnerstick verwandelt.
»Was giebt es, Kaptn?,« fragte ich ihn.
»Was es giebt? Hm, Tag giebt es bereits seit zwei Stunden, und Ihr liegt noch da, ächzt, stöhnt und wimmert, daß es einen Stein erbarmen möchte. Was für ein Unglück ist Euch denn widerfahren, he?«
»Mir träumte, Ihr säßet als Götze in einer Pagode und wolltet mich verschlingen.«
»Ich Euch? Könnte mir allerdings nur dann einfallen, wenn ich ein Götze wäre! Aber macht Euch reisefertig. Das Frühstück steht für Euch bereit; ich bin schon fertig damit, und dann kann es fortgehen.«
Ich war bald an Deck, um meinen Thee zu trinken. Unterdessen suchte sich der Kapitän unter den Lohnbooten eines aus und winkte es herbei. Der Führer desselben gehorchte dem Winke und legte am Fallreep an.
»Kommang heraufing!« rief Turnerstick hinab.
Die Handbewegung, welche diese Worte begleitete, war so deutlich, daß sie der Mann verstehen mußte. Er kam herauf.
»Wir wolleng nach Canton. Wolling stu uns fahreng?«
»Canton? Kuang-tscheu-fu?« fragte der Angeredete. »Tsche!«
»Tsche! Horribles Chinesisch! Was meint der Mensch, Charley?«
»Wißt Ihr nicht mehr, daß Tsche »ja« heißt?«
»Ah so! Hm, das hatte ich beinahe aus der Acht gelassen. Aber Ihr seht doch ein, daß ich ein ganz famoses Chinesisch spreche, denn der Mann hat mich Wort für Wort verstanden, sonst hätte er nicht ja geantwortet. Wollen wir ihn mieten, Charley?«
»Habe nichts dagegen, Kaptn. Macht die Sache mit ihm ab!«
Der Kapitän folgte dieser Aufforderung:
»Wir fahren zwei Manning. Was verlang stu für deng Taging?«
Der Gefragte nickte lächelnd mit dem Kopfe. Turnerstick trat ihm näher und erklärte:
»Wie viel du haben willingst?«
Er hatte denselben Erfolg wie vorher und wandte sich zu mir:
»Dieser Mensch versteht nicht einmal seine Muttersprache. Versucht Ihr einmal Euer Heil, Charley!«
»Ganz wie Ihr wollt, Kaptn. Vorher muß ich Euch aber doch fragen, ob wir mit dem Boote dieses Mannes wirklich den weiten Weg bis Canton zurücklegen wollen. Von hier bis Wam-poa braucht ein Dampfer beinahe einen vollen Tag, und von dort aus haben wir noch volle zwölf englische Meilen bis Canton.«
»Weiß das alles auch, Charley; aber ich will Land und Leute kennenlernen; versteht Ihr mich? Daher nehme ich einen solchen Bambuskahn, um beliebig hüben oder drüben anlegen zu können, so oft es mir einfällt, an das Land zu gehen. Wie weit es bis Canton ist und wann wir dort ankommen, das ist mir sehr egal, denn wir haben Zeit. Der Steuermann hat seine Instruktion und wird mich vertreten, so lange ich abwesend bin. Uebrigens können wir uns ja von einem Dampfer ins Schlepptau nehmen lassen, wenn wir rasch vorwärts kommen wollen. Verstanden, Charley?«
»Vollständig. Aber wenn wir wirklich Land und Leute miteinander kennen lernen wollen, so möchte ich am liebsten gleich hier in Hongkong anfangen, das uns doch am nächsten liegt.«
»Habt recht, vollständig recht. Und so mag uns dieser Mann zunächst da hinüberfahren.«
Ich mietete den Chinesen für drei Tschuns, also ungefähr eine Mark täglich; dann stiegen wir ein und ließen uns in die Stadt fahren.
Hongkong wurde von den Engländern als Ort ihrer Niederlassung mit jenem praktischen Scharfblick gewählt, welcher dem britischen Inselvolke so sehr zu eigen ist. Die Insel, auf deren Nordseite es liegt, ist sehr gebirgig und hat ungefähr achtzehn bis zwanzig englische Meilen im Umfange. Die Lage dieser Insel gewährt dem geräumigen Hafen den Vorteil zweier Eingänge, die sich gegenüberliegen, so daß also beinahe bei jedem Winde gefahrlos eingelaufen werden kann. Das Wasser des Hafens ist so tief, daß Schiffe von fünfzehn Fuß Tiefgang in ganz geringer Entfernung vom Lande ankern können. Ein weicher, zäher Lehmboden giebt ausgezeichneten Ankergrund bis dicht an die Küste, und die hohen Berge, welche das Hafenbassin umgeben, gewähren guten Schutz gegen die hier so häufigen Herbst und Winterstürme.
Wir spazierten miteinander durch die Straßen der chinesischen Stadt. Sie waren meist schmutzig, stinkend und kloakenhaft. Wir fanden enge, dunkle Gassen und Gäßchen, in denen sich eine nicht sehr appetitlich aussehende Bevölkerung hin und her drängte, kleine Bambushäuschen, deren unteres, offenes Stockwerk meist als Verkaufslokal dient, dahinter ein paar finstere Gemächer und eine schmale Treppe, die nach oben führt, wo die etwas vorspringenden Schlafgemächer sind. Die Läden sind nach ihrer ganzen Breite hin offen und gestatten einen Blick in das innere Familienleben.
Hier sieht man einen Schuster jene Seidenzeugschuhe verfertigen, deren Sohlen aus einem sehr starken Filze bestehen; dort giebt es einen Lackierer, welcher Täßchen fertigt, deren mehrfacher Lacküberzug ein ganzes Jahr zu trocknen hat. Daneben ist der Laden eines Geldwechslers, der mit seinem Suan-pan (***** Rechenmaschine.), so schlau umzugehen versteht, daß es großer Aufmerksamkeit bedarf, nicht von ihm betrogen zu werden. Ihm gegenüber arbeitet ein Schneider, grad so auf seinen untergeschlagenen Beinen hockend wie unsere einheimischen »Tailleurs«; dieses Genus besitzt ja überhaupt in allen Erdteilen eine unleugbare Familien-Aehnlichkeit. In seiner Nähe giebt es eine Garküche, deren Speisezettel nach den zur Schau liegenden Früchten, Gemüsen und Fleischsorten ein sehr reichhaltiger sein muß, und in der Nähe dieses verführerischen Ortes treibt sich eine ganze Menge jener geflügelten, pfiffigen Spitzbuben herum, welche in der alten Welt allüberall und seit einiger Zeit auch bereits in der neuen Welt zu finden sind. Der Türke nennt sie Muhassil-Baschi (***** Oberzolleinnehmer.), der Chinese ruft sie Kia-niao-eul[72]