Winnetou 4 - Karl May 5 стр.


»Welchen Sander meinst du? Den Mörder von Winnetous Vater und Schwester?«

»Ja. Der Mann, der bei uns war, ist sein Sohn.«

»Unmöglich, unmöglich!«

»Gewiß, gewiß!«

»Beweise es!«

»Das ist eigentlich gar nicht nötig. Du müßtest es ebenso schnell und leicht erraten haben wie ich.«

»Wirklich? Bis jetzt erkenne ich nur das Eine, daß du ihn für einen Lügner hältst, weil er sich Enters anstatt Sander nennt.«

»Wie falsch von dir, wie falsch! Wüchsen meine Folgerungen nur aus diesem einen Punkt heraus, so wäre ich ein außerordentlich schlechter Fährtenleser, ein Greenhorn, ein Hans Tapps, und hätte mich meiner Logik wegen rot und blau zu schämen. Ich bitte dich aber, daran zu denken, daß er sich extra einen Vorleser engagierte, um sich sofort Notizen machen zu können. Wie lange ist es wohl her, daß er dies tat?«

»Eine ganz beträchtliche Reihe von Jahren. Das sagte er ja selbst.«

»Schön! Und wozu hat er sich diese Notizen gemacht?«

»Aus rein literarischen Gründen, zu Buchhändlerzwecken. Auch das sagte er selbst.«

»Ganz richtig! Und hier liegt die Lüge, bei welcher die Fährte beginnt, die zu seinem richtigen, wirklichen Namen führt. Er selbst hat zugegeben, daß er Großhändler in allerlei Schlachtvieh war, und du weißt sehr genau, wann er aufgehört hat, dies zu sein. Oder nicht?«

»Doch! Dieses Geschäft wurde erst im vorigen Jahr verkauft. Das hat er gestern beim Arzt gesagt.«

»Und dennoch schon vor so langen Jahren bereits rein ,buchändlerische Notizen? Glaubst du das?«

»Nein! Jetzt nicht mehr! Du, jetzt fange auch ich an, klarzusehen. Vielleicht ist es gar nicht einmal wahr, daß er jetzt Buchhändler ist!«

»Fällt ihm gar nicht ein! Aber mit diesem Gedanken hast du dich neben mich auf die richtige Fährte gestellt! Ueberlege folgendes: Kaum hat er bei einem Bekannten von meinem ,Winnetou gehört, so engagiert er sich einen besonderen Mann zum Uebersetzen und Vorlesen dieser Erzählung. Ist etwa anzunehmen, daß er bei diesem Bekannten dem Vorlesen aller drei Bände beigewohnt hat?«

»Gewiß nicht.«

»Das ist auch meine Meinung. Er hat nur Einiges oder gar nur Weniges gehört. Wenn er sich sofort hierauf einen besonderen Privatübersetzer engagierte, um das ganze Werk unter vier Augen kennenzulernen, so muß dieses Einige oder dieses Wenige von außerordentlicher Wichtigkeit für ihn gewesen sein, muß irgendeinen Punkt seines tiefsten Seelenlebens gepackt und ergriffen haben. Oder glaubst du daß diese Wichtigkeit vielleicht doch schon eine ,rein literarische, eine buchändlerische gewesen ist?«

»Nein.«

»Oder eine geschäftliche?«

»Ebensowenig. Sie war, wie du ganz richtig vermutest, eine psychologische, eine seelische.«

»Das heißt mit andern Worten, daß sie sich auf sein Innenleben, auf sein Privatleben, auf sein Familienleben, also auch auf seine Familienverhältnisse bezog. Er machte während der Vorlesungen Notizen. Warum und wozu? Doch nicht etwa nur, um nichts zu vergessen. Was Einen so tief in der Seele packt, das merkt man sich gewiß, auch ohne Notizen zu machen. Er hat zugegeben, daß diese Notizen ihm als ,notwendig erschienen seien und ihm auf seinen Nachforschungen im Westen jahrelang als Führer gedient haben «

»Etwa nach dem verschollenen Vater?« fiel da das Herzle ein.

Da nickte ich ihr zu und antwortete:

»Du, das war fein, sehr fein! Ja allerdings, nach dem verschollenen Vater! Ich wollte noch einige andere Folgerungen und Schlüsse herbeiziehen, um mich dir begreiflich zu machen; da du mir aber gleich mit diesem Hauptergebnisse kommst, so ist das, wenigstens für einstweilen, nicht mehr nötig. Ich habe nur noch auf die Dringlichkeit zu zeigen, mit welcher er die Lage der beiden Orte zu erfahren versuchte, die er, wie er sich ausdrückte, ,noch nicht aufzufinden vermochte. Ich meine selbstverständlich den Nugget-tsil und das Dunkle Wasser.«

»Muß sich diese Dringlichkeit nur auf Sander beziehen?«

»Ja.«

»Nicht auf irgendeine andere Person? Und auch nicht auf die Nuggets?«

»Nein. Von Personen käme nur ich allein in Betracht, denn alle Andern sind unwichtig oder gar tot, und anzunehmen, daß er grad meinetwegen so jahrelang den Westen durchforscht habe, wäre lächerlich. Er hat ja durch seinen heutigen Besuch bewiesen, daß er sehr wohl weiß, wie schnell und wie leicht ich zu finden bin. Und was die Nuggets betrifft, so hat er ja gelesen, daß sie für immer verloren sind und von keinem Menschen mehr gefunden werden können. Also: Von den Ereignissen am Nugget-tsil und am Dunklen Wasser kommen nur zwei Personen in Betracht, nämlich Sander und ich; alle Andern sind unendlich nebensächlich, sind verschwun den; ich aber habe auszuscheiden; folglich bleibt nur noch Sander. Und nun, paß auf, Herzle, kommt noch ein Hauptgrund, auf den ich mich stütze! Dieser sogenannte Mr. Enters will meinen ,Winnetou kaufen. Wozu? Etwa um ihn übersetzen, drucken und verbreiten zu lassen?«

»Nein, sondern um zu verhindern, daß die Erzählung da drüben in englischer Sprache erscheint. Da hattest du Recht. Das hörte man den Worten dieses Mannes an, besonders auch dem Schreck, den er nicht verbergen konnte, als er gegen alle seine Erwartung hörte, daß er die Bücher nicht bekommt. Man soll da drüben die Vergangenheit und die Taten seines Vaters nicht kennenlernen.«

»Ja. Zwar wollte ich das erst folgern, und du kommst meinem logischen Schluß vor; aber es ist das für mich eine Tatsache, an der ich nicht im geringsten zweifle. Er hat geglaubt, mich mit einer Tasche voll Dollars übertölpeln zu können, obwohl er aus dem ,Winnetou wissen mußte, daß ich auf solchen Köder nicht gehe. Dieser sein Besuch bei mir und sein Antrag waren eigentlich eine Beleidigung, die ich anders hätte beantworten sollen, als ich sie beantwortet habe.«

»So zürnst du mir nun wohl?«

»Zürnen? Wofür?«

»Dafür, daß ich dich veranlaßt habe, ihn nicht ganz endgültig abzuweisen und ihm noch eine Zusammenkunft zu gewähren.«

»O nein! Ich lasse mich selbst von dir nicht dazu bestimmen, irgendein höheres, vielleicht gar ethisches Gut für niedriges Geld zu verkaufen, und du, du würdest ganz gewiß die allerletzte sein, mir so etwas zuzumuten. Ich bin auf das Wiedersehen am Niagara eingegangen, weil es sehr triftige Gründe dafür gibt, die beiden Brüder Enters oder Sander von nun an nicht wieder aus dem Auge zu lassen. Du weißt ja, daß es eine Gewohnheit jedes erfahrenen Westmannes ist, gefährliche Leute sich niemals in den Rücken kommen zu lassen.«

»Gefährlich?« fragte sie. »Allerdings.«

»Wieso? Ich halte diesen Enters, obwohl er ein Sander zu sein scheint, doch für einen guten Menschen.«

»Ich auch. Aber kann nicht selbst die personifizierte Güte einmal obstinat werden? Liegt in der Niedergeschlagenheit und, ich möchte fast sagen, in dem krankhaften Tiefsinn dieses Mannes nicht etwas Explodierbares, vor dem man sich zu hüten hat? Und kennen wir seinen Bruder? Du weißt, Geschwister brauchen nicht von gleichem Charakter und gleichem Temperament zu sein. Ich bin überzeugt, daß wir ihn in Niagara kennenlernen werden, und dann wird es sich ja finden, wie wir uns zu beiden zu stellen haben, um sie nicht zu zwingen, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Der Doktor sprach gestern von einem Dämon in ihnen. Dieser Dämon hat uns hier aufgefunden, hat uns entdeckt. Es ist der Sandersche Zwang zum Morde. Du siehst, unsere Reise beginnt, sehr interessant, ja hochinteressant zu werden, noch ehe wir die ersten Schritte tun.«

»Siehst du Gefahr voraus?«

»O nein! Ich sehe nur, daß wir hinüber müssen, um den Mount Winnetou und Tatellah-Satah, den ,Bewahrer der großen Medizin, kennenzulernen. Er schreibt mir, daß ich Winnetou ,retten soll. Habe ich das zu tun, so gibt es für mich keine Gefahr. Etwa für dich?«

»Für mich ebensowenig. Ich gehe fröhlich mit!«

»Dann vorwärts also, und wohlauf zur glücklichen Fahrt!«

Zweites Kapitel. Nach der Teufelskanzel

Und nun waren wir bei den Niagarafällen. Wir wohnten im Clifton-House, unweit der kanadischen Mündung der Hängebrücke. Man hat von diesem Hotel aus einen geradezu unvergleichlichen Blick auf das grandiose Schauspiel der stürzenden Wassermassen. Die besten Zimmer liegen in der ersten Etage und sind den Fällen zugewendet. Sie münden alle auf eine lange, vielleicht acht Schritte breite Plattform, die ein gemeinschaftliches Säulendach überragt. Wer vom Korridor aus seinen Raum betritt, ihn quer durchschreitet und sich durch die gegenüberliegende Tür hinaus auf die Plattform begibt, der hat beide Fälle, den geraden und den hufeisenförmigen, genau in eindrucksfähigster Perspektive vor seinen Augen.

Wenn dieses Hotel in Deutschland läge, so würde man die Gemeinschaftlichkeit dieses Altanes für alle Bewohner dieser Zimmerreihe als einen Uebelstand empfinden, der durch Zwischenwände schleunigst zu beseitigen sei. Da drüben aber hat jeder Gast eine zwar unsichtbare, aber so hohe und so starke Mauer um sich gezogen, daß gar keine hölzernen Scheidewände nötig sind, um jedermann gegen Zudringlichkeiten und Indiskretionen zu sichern. Dennoch freute ich mich darüber, daß, als wir kamen, grad die den Fällen nächstgelegene Ecke dieser Zimmerreihe freigeworden war, so daß wir also anstatt zwei nur einen einzigen Nachbar haben konnten. Und dieser Eine war ein Paar, und dieses Paar hieß Hariman F. Enters und Sebulon L. Enters.

Es hatte mir geahnt, daß die Brüder nicht warten, sondern sich hier einquartieren würden, um bei unserer Ankunft sofort anwesend zu sein. Aber daß unsere beiderseitigen Zimmer aneinander stießen, das war ein Umstand, den man mit einer Ahnung wohl kaum hätte erreichen können. Ich muß gestehen, daß es mir keineswegs unlieb war, grad diese Beiden neben mir zu haben.

Ein jeder neu eingetretene Gast des Clifton-Hotels hat sich sofort in der am Parlour liegenden Office einzutragen. Das ist die einzige Auskunft, die man von ihm verlangt. Ich schrieb uns als »Mr. Burton und Frau« in das Buch. Dieses Pseudonym war deshalb notwendig, weil man mich verpflichtet hatte, den eigentlichen Grund, der mich hinüberführte, geheimzuhalten. Ich war also gezwungen, auf meinen wirklichen Namen, den man da drüben sehr wohl kennt, für jetzt zu verzichten.

Unsere Wohnung bestand aus drei Räumen, die, wie bereits gesagt, eine Ecke ausfüllten. Das Zimmer meiner Frau lag nach dem Hufeisenfalle, war größer als das meinige, hatte aber keinen Balkon. Das meinige hatte die Aussicht nach dem Vereinigten-Staaten-Katarakt, war kleiner, öffnete sich dafür aber nach der großen Plattform, auf der ich mich so häuslich einrichten konnte, wie es mir nur immer beliebte. Zwischen diesen beiden Zimmern lag der Garderobe- und Toilettenraum, der sie in amerikanisch praktischer Weise vereinigte. Als uns dieses Logis angewiesen und gezeigt wurde, fragte ich den Kellner, der dies tat, wer neben uns wohne.

»Zwei Brüder«, antwortete er. »Sie sind Yankees und heißen Enters. Aber sie wohnen eigentlich nur halb in unserem Haus. Sie schlafen nur hier; sie speisen anderswo. Sie gehen früh fort und kommen erst abends wieder, wenn es keine Tafel mehr gibt.«

Er machte dabei ein so eigenartiges Gesicht, daß ich mich erkundigte:

»Warum tun sie das?«

Er zuckte die Achsel und antwortete:

»Unser Clifton-House ist ein Hotel ersten Ranges. Wer diesem Rang nicht angehört, der wird wohl hier schlafen, nicht aber auch hier speisen und mit den anderen Gästen verkehren können. Er versucht es vielleicht einmal, fühlt sich dabei aber derart schnell erkannt und abgestoßen, daß er den Versuch gewiß nicht wiederholt.«

Das war sehr aufrichtig gesprochen! Wenigstens sechzig Prozent der dortigen Kellner sind Deutsche oder Oesterreicher. Dieser aber war ein kanadischer Engländer; daher dieser ebenso selbständige wie selbstbewußte Ton. Als er mich dabei schon mehr taxierend als forschend betrachtete, so sagte ich ihm, daß ich zu der Klasse gehöre, in der man den Betrag der Trinkgelder teilt. Die eine Hälfte gibt man sofort bei der Ankunft, um zu zeigen, daß man gern zufriedengestellt sein will, und die andere Hälfte entrichtet man dann bei der Abreise, oder man zahlt sie auch nicht, um zu zeigen, ob man zufriedengestellt worden ist oder nicht. Bei diesen Worten drückte ich ihm die erste Hälfte in die Hand. Er betrachtete die Note sehr ungeniert, um zu sehen, wieviel sie betrug; dann aber machte er eine Verbeugung, wie kein Deutscher und kein Oesterreicher sie hochachtungstiefer hätte machen können, und sprach:

»Zu jedem Befehl bereit! Werde das auch der Chambermaid anempfehlen! Sind diese beiden Enters vielleicht unbequem, Mr. Burton? Wir quartieren sie sofort aus!«

»Bitte, sie zu lassen; sie genieren uns nicht.«

Er verneigte sich ebenso tief wie vorher und ging dann, vor lauter Respekt und Wohlwollen strahlend, ab. Als sich uns hierauf, damit wir sie kennenlernen sollten, die »Chambermaid« vorstellte, sahen wir ihr an, daß sie von der Teilung des Trinkgeldes bereits unterrichtet war, und ermöglichten ihr einen ebenso wirkungsvollen Abgang wie dem Kellner. Das taten wir natürlich nicht, um mit unserem Geld zu prahlen, und noch viel weniger erzähle ich es hier aus diesem oder einem ähnlichen Grund. Ich habe ja bereits gesagt, daß ich keineswegs reich bin, sondern nur so grad mein Auskommen habe. Aber die Wirkungen dieser Art und Weise, den Bediensteten nicht erst dann, wenn es zu spät ist, zu zeigen, daß man Einsicht und Dankbarkeit besitzt, stellten sich sehr bald ein, und aus ihnen mag man erkennen, warum ich so tat.

Wir waren am Nachmittag angekommen und machten gleich noch an diesem Tag die zwei bekannten Fahrten, welche jeder Besucher der Niagarafälle unbedingt gemacht haben muß. Es ist das eine Bahn und eine Dampfbootfahrt. Das Gleis der Bahn geht hart am kanadischen Ufer des Niagara hinab und dann drüben am Vereinigten-Staaten-Ufer wieder herauf. Tief, tief unten kocht und brodelt der Strom; die Felsen steigen vollständig senkrecht in die Höhe, und die Schienen der Bahn liegen oft höchstens zwei Meter von der Kante des Abgrundes entfernt. An diesem letzteren rast man mit der Schnelligkeit des Fluges dahin, und man hat, da man nur den geöffneten Schlund und das jenseitige Ufer sieht, vom Anfang bis zum Ende dieser Fahrt das Gefühl, als ob man direkt in die Luft hinausfahre um dann in die Tiefe hinabzuschmettern. Die Bootsfahrt macht man auf der wohlbekannten und beliebten Maid of the Mist, welche kühn bis in die nächste Nähe der Fälle steuert und am geeigneten Ort diejenigen Touristen landet, welche daheim von sich rühmen wollen, daß sie sogar »hinter dem Wasser« gewesen seien.

Später aßen wir bei den Klängen eines ausgezeichnet spielenden doppelten Streichquartetts das Abendbrot in dem großen, im Parterre des Hotels liegenden Speisesaal und zogen uns dann in unsere Wohnung oder, richtiger gesagt, auf meinen freien Altan zurück, welcher uns den unbeschreiblichen Genuß gewährte, die Fälle von dem geheimnisvollsten Schimmer des Mondes besucht und verklärt zu sehen. Hierbei war es ungefähr elf Uhr geworden, als das Zimmermädchen eiligst herbeigehuscht kam und uns meldete:

»Die Enters sind da.«

»Wo?« fragte das Herzle.

»Noch unten in der Office. Sie pflegen allabendlich, wenn sie kommen, im Buch nachzuschlagen, und dann gehen sie auf ihr Zimmer.«

»Zu welchem Zweck schlagen sie nach?«

»Um zu sehen, ob ein deutsches Ehepaar hier angekommen ist, ein Mr. May mit seiner Frau. Erst fragten sie. jetzt aber schlagen sie nach, weil sie fühlen, Nebeljungfrau daß man sie hier für überflüssig hält. Auch ich spreche nicht mit ihnen.

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