Keiner von beiden ahnte, daß wir Deutsche seien, noch weniger aber, daß wir dasselbe Reiseziel hatten wie sie. Sie fragten nicht nach unserer Adresse; sie schwiegen darüber, ob sie ein Wiedersehen wünschten oder nicht. Aber als ich ihnen meine Hände reichte, wurden diese von ihnen länger festgehalten, als eigentlich gebräuchlich ist. Dann trat Athabaska so nahe an meine Frau heran, wie möglich war, ohne ihre Gestalt zu berühren, legte beide Hände an ihren Kopf, zog ihn noch naher an sich und drückte seine Lippen auf ihr Haar.
»Athabaska segnet Euch!« sagte er.
Algongka folgte diesem Beispiel und sprach dabei dieselben Worte, die aus dem Herzen kamen. Das hörte man den beiden Männern an, und das ersah man auch aus der Schnelligkeit, mit der sie dann in ihrer Wohnung verschwanden.
Diese Wohnung lag so ziemlich in der Mitte der Zirnmerreihe, die unsere aber, deren Tür wir offengelassen hatten, am Ende derselben. Wir mußten also, um nach der letzteren zu kommen, an dem neben uns liegenden Raum der Gebrüder Enters vorüber. Als wir uns diesem näherten, sahen wir, daß er erleuchtet war. Zwar stand die Tür nicht offen wie die unsere, aber die Klappen der Jalousie waren geöffnet, und es drang nicht nur das Licht heraus, sondern auch der laute Klang zweier Stimmen, die grad in diesem Augenblick sich in Erregung zu befinden schienen. Die Brüder waren schon heute zurückgekehrt. Sie schritten, sich zankend, in ihrer Stube auf und ab. Wir gingen selbstverständlich nicht vorüber, sondern wir blieben an ihrer Tür stehen und hörten, daß Hariman soeben sprach: » also wiederhole ich: Schrei nicht so! Wir wohnen bekanntlich nicht allein in diesem Hotel!«
»Der Teufel hole es, dieses Clifton-House! Kein Mensch hält uns für voll! Uebrigens bezahlen wir dieses Zimmer, und ich kann also hier schreien, so laut es mir beliebt! Der Alte kann es nicht mehr hören; er ist fort. Sein Name ist ausgestrichen. May aber steht noch immer nicht da. Das paßt mir schlecht! Wie lange soll man da warten! jetzt, wo wir heut wieder hörten, wie sehr es mit der Devils pulpit eilt! Kommen wir auch nur einen halben Tag zu spät, so verlieren wir Summen, deren Höhe sich jetzt gar nicht bestimmen läßt!«
Der so sprach, war Sebulon. Harirnan antwortete:
»Das befürchte ich allerdings auch. Aber können wir fortgehen, ohne die Ankunft dieses für uns hochwichtigen deutschen Ehepaares abgewartet zu haben?«
»Warum nicht? Wenigstens einer von uns beiden kann fort, um Kiktahan Schonka festzuhalten, bis der Andere ihm folgt! Aber das ist es doch gar nicht, was mich so erregt, sondern mich ärgert deine sogenannte Ehrlichkeit, die mir in unseren Verhältnissen so wahnsinnig vorkommt, daß es mir geradezu unmöglich ist, sie zu begreifen! Ja, wir wollen und müssen den Nugget-tsil und das ,Dunkle oder meinetwegen auch ,Finstere Wasser kennenlernen, und dieser Deutsche ist der einzige, der imstande ist, uns diese Orte zu zeigen. Aber das ist noch lange kein Grund, ihm so, wie du willst, mit ganz besonderer Liebe zugetan zu sein!«
»Wer hat hiervon gesprochen? Ich nicht! Ich habe nur Ehrlichkeit verlangt, keine besondere Liebe!«
»Pshaw! Ehrlichkeit gegen den Mörder unseres Vaters!«
»Das ist er nicht! Vater war selbst daran schuld, daß er in dieser Weise zugrunde ging! Und er holt uns nach, uns alle, uns alle! Nur wir Beiden sind noch übrig. Und wenn wir nicht ehrlich sind, geht es mit uns in doppelter Eile zu Ende! Ich hoffe und hoffe noch immer auf Rettung! Die aber ist nur dann möglich, wenn das Geschehene Verzeihung findet. Und auch hier ist der Deutsche der einzige, der sie gewähren kann; die Andern sind ja tot! Siehst du das nicht ein?«
Sebulon antwortete nicht gleich. Es wurde für kurze Zeit still. Wir hörten ein Räuspern, welches aber schon mehr wie Schluchzen klang. Von wem kam das? Von Hariman? Von Sebulon? Dann sagte der Letztere, aber mehr klagend als erregt:
»Es ist fürchterlich, geradezu fürchterlich, wie das innerlich schreit und lockt, wie es treibt und schiebt, wie es drängt und drängt, immer weiter, immer weiter! Ich wollte, ich wäre schon tot!«
»Ich auch, ich auch!«
Wieder trat eine Pause ein, nach welcher wir Sebulon sagen hörten:
»Es rechnet in mir, es rechnet! Unaufhörlich! Bei Tag und bei Nacht! Wenn wir den Schatz, der mit dem Vater in das Wasser ging, doch heben könnten! Und wieviel würde Kiktahan Schonka zahlen, wenn wir ihm den Deutschen an das Messer lieferten! Wie viele, viele Beutel voller Nuggets, vielleicht eine ganze Bonanza, ein ganzes Placer! »
»Um Gottes willen!« rief Hariman erschrocken aus. »Diesen Gedanken laß ja fallen!«
»Kann ich? Der Gedanke kann wohl mich fallen lassen, aber nicht ich ihn! Er kommt; er kommt! Und wenn er kommt, ist er da, viel starker und viel mächtiger als ich mit dem bißchen Kraft, das ich noch besitze! Und jetzt jetzt überkommt mich ganz plötzlich eine Angst, eine Angst! Was das nur ist? Steht vielleicht jemand da draußen vor der Tür, um uns zu belauschen ?!«
Da nahm ich meine Frau am Arm und zog sie schleunigst in mein Zimmer, welches gleich daneben lag, hinein. Wir nahmen uns gar nicht Zeit, die offenstehende Tür zuzumachen, sondern wir huschten durch den ganzen Raum hindurch bis in das Kabinett, wo wir stehen blieben und lauschten. Wie gut war es, daß wir die Tür offengelassen hatten! Die Brüder kamen heraus. Sie standen an unserer Tür.
»Es ist Niemand da«, sagte Hariman. »Du hast dich getäuscht.«
»Wahrscheinlich«, antwortete Sebulon. »Es war auch nur in mir. Gehört habe ich nichts, gar nichts. Aber diese Tür! War sie nicht schon offen, als wir kamen?«
»Ja. Der Alte ist fort, und man hat sie offengelassen, um zu lüften.«
»Ich gehe doch einmal hinein!«
»Unsinn! Wäre ein Horcher da drin, so hätte er die Tür hinter sich zugemacht; das ist doch gewiß!«
»Wenigstens wahrscheinlich.«
Er kam aber doch herein, ging einige Schritte vorwärts und stieß dabei an einen Stuhl.
»Mach keinen Lärm!« warnte Hariman.
Da wendete sich der Andere zurück und ging hinaus. Sein Bruder schob die beiden Flügel der Jalousietür heran, daß sie nun zu war, und dann verschwanden sie wieder in ihrer Stube. Wir aber gingen in das Zimmer meiner Frau, wo wir, weil es nach der anderen Seite lag, Licht machen konnten, ohne daß die Enters es bemerkten.
Das Herzle war sehr erregt.
»Dich an das Messer liefern!« sagte sie. »Denke dir! Wer ist dieser Kiktahan Schonka, von dem sie sprachen?«
»Wahrscheinlich ein Siouxhäuptling. Ich kenne ihn nicht, habe nie von ihm gehört. Du bist besorgt, liebes Kind? Hast keine Veranlassung dazu, gar keine!«
»So? Man will dich an das Messer liefern! Dich also abschlachten! Das nennst du keine Veranlassung?«
»Da ich es weiß, wird es nicht geschehen. Auch ist es noch gar nicht etwa eine beschlossene Sache, sondern nur erst ein Gedanke, mit dem der arme Teufel kämpft. Und drittens: Selbst wenn es Ernst wäre, würde man doch sicher nicht eher etwas gegen mich unternehmen, als bis man sich an dem See befindet, in welchem Sander damals ertrunken ist. Bis dahin bin ich meines Lebens vollständig sicher. Es ist das Alles gar nicht so schlimm, wie es klingt.«
»Auch das mit der Teufelskanzel? Schreckliches Wort!«
»Schrecklich finde ich es nicht, sondern höchstens romantisch. ,Teufelskanzeln gibt es in diesem Land ebenso viele, wie es drüben bei uns in Deutschland Orte mit dem Namen Breitenbach, Ebersbach oder Langenberg gibt. Wo die Devils pulpit liegt, welche hier gemeint war, werde ich morgen früh im Prospect-House erfahren.«
»Was ist das für ein Haus?«
»Ein Hotel, in dem ich heute Nacht schlafe.«
»Schlafen? Du?« fragte sie überrascht.
»Was ist das für ein Haus?«
»Ein Hotel, in dem ich heute Nacht schlafe.«
»Schlafen? Du?« fragte sie überrascht.
»Ja! Schlafen! Ich!« nickte ich.
»In einem andern Hotel?«
»In einem anderen Hotel!«
»Ich erstaune!«
»Ich aber nicht! Und in einer guten, glücklichen Ehe kommt es bekanntlich nur darauf an, ob der Mann erstaunt ist oder nicht! Ich glaube kaum, daß ich dir alle möglichen Gründe erst vorzulegen und mühsam zu erklären habe. Ich gehe jetzt nach dem Prospect-House, esse Etwas, lasse mir ein Zimmer geben und schicke zwei oder drei Zeilen hierher an Mr. Hariman F. Enters, um ihm zu sagen, daß ich in Niagara-Falls angekommen bin und im Fremdenbuch des CliftonHouse gelesen habe, daß er da wohne. Hierauf sei ich aus guten Gründen nach dem Prospect-House gegangen, wo ich morgen früh von acht bis zehn Uhr für ihn und seinen Bruder zu sprechen bin, später aber nicht, weil ich mich dann mit meiner Frau zu beschäftigen habe, die noch nicht mit angekommen ist. Bist du einverstanden?«
»Hm, das muß ich wohl sein!« lächelte sie. »Die Gründe brauchst du mir natürlich nicht einzeln aufzuzählen. Meine Erlaubnis zum Umzug sei dir hiermit erteilt. Aber geht das denn? So spät in der Nacht?«
»Hier geht Alles!«
»Auch ohne Koffer? Soll ich dir nicht wenigstens ein Paket machen? Du wirst ungeheuer ärmlich aussehen, wenn du so ohne Alles und mit vollständig leeren Händen im Hotel erscheinst!«
»Das wird nur imponieren, weiter nichts! Ich habe nur noch die Bitte, die eigentlich überflüssig ist, an dich: Laß dich ja nicht etwa sehen!«
»Allerdings sehr überflüssig!« gab sie zu. »Darf ich dich ein Stück begleiten? Vielleicht nur bis hinunter vor die Tür?«
»Danke! Du hast unsichtbar zu bleiben! Wir trennen uns hier oben!«
Unten im Parlour war man noch wach; aber niemand achtete auf mich. Ich ging hinaus, spazierte über die Brücke nach der andern Seite des Ortes, wo ich eine Viertelstunde später im Prospect-House ein Zimmer besaß, ein Billett an Mr. Hariman F. Enters schickte, zu Abend speiste und mich dann, mit meinem Tagewerk zufrieden, zur Ruhe niederlegte. Ich hatte mich natürlich auch hier als Mr. Burton eingetragen.
Als ich am andern Morgen halb acht in den Saloon trat, um Kaffee zu trinken, saßen die beiden Enters schon da. Hariman beeilte sich, mir Sebulon vorzustellen, und teilte mir mit, daß sie zunächst sehr erfreut gewesen seien, zu hören, daß ich angekommen sei, dann aber hier ganz enttäuscht, weil kein Mensch im Hotel von einer Mrs. May und einem Mr. May etwas gewußt habe.
»Ich reise pseudonym, unter dem Namen Burton.«
»Well!« nickte Hariman. »Der Leser wegen, die Euch nicht in Ruhe lassen würden, Sir, wenn sie Eure Anwesenheit erführen.«
»Allerdings.«
»Und Mrs. Burton? Man sieht sie nicht.«
»Sie ist noch nicht mit hier. Ihr werdet sie später sehen. Vielleicht morgen oder übermorgen. Ich war natürlich zuerst im Clifton-House. Da aber standen eure Namen im Buch. Darum wendete ich mich hierher. Ich hoffe, das ist euch recht?«
»Gewiß, gewiß! Was aber Mrs. Burton betrifft, die wir sehr gern gleich heut begrüßt hätten, so müssen wir, wenn sie noch nicht da ist, leider darauf verzichten, ihr morgen oder übermorgen zu begegnen. Wir reisen nämlich heut schon ab.«
»So? Dann ist es ja genauso, wie ich Euch vorausgesagt habe: Auch die jetzige Unterredung hat keinen Erfolg.«
»Das kann man nicht behaupten. Wir hoffen ganz im Gegenteil, mit Euch zum Abschluß zu kommen, Mr. Burton.«
»Welcher Umstand ist es, der euch diese Hoffnung gibt?«
»Eure Klugheit, Eure Einsicht. Aber sprechen wir später hiervon! Ich sehe, hier ist nicht der Ort dazu.«
Da hatte er allerdings Recht. Der Saloon war voller Kaffee-, Tee- und Kakaotrinker, und man hatte sich also zu hüten, etwas Diskretes zu besprechen. Ich beeilte mich darum, mein Frühstück zu beenden, und dann machten wir einen kurzen Spaziergang längs des Stromes, um uns auf einer der am Ufer stehenden Bänke niederzulassen. Da konnten wir alles Mögliche besprechen, ohne daß uns irgend jemand hörte. Hariman war noch so, wie ich ihn im ersten Kapitel beschrieben habe. Sebulon besaß dieselben »traurigen« Augen, schien aber ein mehr verbissener und dabei unzuverlässiger Charakter zu sein. Was mich selbst betrifft, so war ich entschlossen, nicht viel, wie man sich auszudrücken pflegt, »Federlesens« mit ihnen beiden zu machen, sondern mich so kurz wie möglich zu fassen. Als wir uns niedergesetzt hatten, begann Hariman sofort:
»Ich habe Euch gesagt, daß wir auf Eure Einsicht und auf Eure Klugheit rechnen, Sir. Dürfen wir mit dem Geschäftlichen beginnen?«
»Ja«, antwortete ich. »Doch muß ich mich bei euch erkundigen, mit wem ihr überhaupt zu sprechen habt, mit dem Westmann oder mit dem Schriftsteller?«
»Mit dem ersteren vielleicht später, zunächst aber nur mit dem letzteren.«
»Well! Sie stehen euch beide zur Verfügung; jeder für sich aber höchstens nur eine Viertelstunde. Meine Zeit ist mir nämlich nur sehr sparsam zugemessen.«
Ich zog meine Uhr, zeigte ihnen das Zifferblatt und fügte hinzu:
»Es ist, wie ihr seht, jetzt genau acht Uhr. Ihr könnt also bis Viertel auf neun mit dem Schriftsteller und bis halb neun mit dem Westmann reden; dann ist unsere Zusammenkunft zu Ende.«
»Aber«, warf Sebulon ein, »Ihr habt uns doch geschrieben, daß Ihr zwei volle Stunden für uns haben werdet!«
»Allerdings! Ich hatte da anderthalb Stunden für den ,Freund gerechnet. Da ihr aber nur mit dem Schriftsteller und nur vielleicht auch mit dem ,Westmann reden wollt, auf den ,Freund aber gar nicht reflektiert, so bleibt es eben bei der halben Stunde.«
»Wir hoffen aber, daß wir Freunde werden. In diesem Fall dürfen wir auf zwei Stunden rechnen?«
»Sogar auf noch mehr. Also, beginnen wir! Von der ersten Viertelstunde sind bereits drei Minuten vorüber «
»Ihr habt eine eigentümliche Art, Geschäfte zu besprechen!« rief Sebulon ärgerlich.
»Nur dann, wenn ich schon abgelehnt habe und dennoch gezwungen werde, von Neuem Zeit für die erledigte Angelegenheit zu opfern. Also bitte !«
Da nahm Hariman das Wort:
»Es handelt sich also um Eure drei Bände ,Winnetou, die wir Euch abkaufen wollen «
»Um sie drucken zu lassen?« fiel ich ihm in die Rede.
»Kauft man etwa Bücher, um «
»Bitte, keine Verstecke! Kurze Antwort! Ja oder nein! Wollt ihr sie übersetzen und drucken lassen?«
Sie schauten einander verlegen an. Keiner antwortete. Da fuhr ich fort:
»Da ihr schweigt, will ich an eurer Stelle antworten: Ihr wollt sie nicht drucken, sondern verschwinden lassen, und zwar aus Rücksicht auf euern eigentlichen Namen und auf euern toten Vater.«
Da sprangen Beide zu gleicher Zeit von der Bank auf und warfen mir Ausrufungen und Fragen zu, denen ich mit einer energischen Armbewegung ein Ende machte, indem ich rief:
»Still, still! Ich bitte, zu schweigen! Den Schriftsteller könntet ihr vielleicht täuschen, den Westmann aber nicht. Euer Name ist Sander. Ihr seid die Söhne jenes Sander, der mich leider zwang, von ihm so viel nicht Angenehmes zu erzählen. Ich hoffe, daß ich von euch Besseres berichten kann als von ihm!«
Sie standen zunächst unbeweglich, wie Bildsäulen aus Holz. Dann setzten sie sich wieder nieder, Einer nach dem Andern, als ob ihnen die Kraft fehle, stehen zu bleiben. Sie sahen vor sich nieder und sagten nichts.
»Nun?« fragte ich.
Da wendete sich Hariman an Sebulon:
»Ich sagte es dir voraus; du aber glaubtest es nicht. Ihm darf man nicht in dieser Weise kommen! Soll ich reden?«
Sebulon nickte. Da drehte Hariman sich wieder mir zu und fragte: