Tom zupfte an einem Knopf und sah möglichst einfältig aus. Er wurde rot und senkte die Augen. Mr. Walters Herz sank mit. Er sagte sich, es sei gar nicht möglich, von diesem Jungen Antwort auf die einfachste Frage zu bekommen und den gerade mußte der Richter fragen! Doch fühlte er sich veranlaßt, zu Hilfe zu kommen und sagte: Antworte dem Herrn, Thomas, fürchte dich nicht!
Tom wurde immer röter.
Nun, ich weiß, mir wirst du es sagen, mischte sich hier die Dame ein. Die Namen der zwei ersten Jünger waren
David und Goliath!
Decken wir den Schleier der Nächstenliebe über das, was nun folgte!
Fünftes Kapitel
Ungefähr um halb zehn Uhr begann die kleine Glocke der Kirche zu läuten, und sogleich begann das Volk zur Morgenpredigt herbeizuströmen. Die Sonntagsschulkinder zerstreuten sich durchs ganze Haus und nahmen Plätze bei ihren Eltern ein, um unter Aufsicht zu sein. Tante Polly kam, und Tom, Sid und Mary saßen bei ihr. Tom wurde zunächst der Kanzel plaziert, um so weit wie möglich vom offenen Fenster und dem Sommer draußen entfernt zu sein.
Das Volk füllte die Kirche. Der alte, gichtbrüchige Postmeister, der bessere Tage gesehen hatte, der Mayor und seine Frau denn es gab einen Mayor, neben vielen anderen unnützen Dingen, der Ortsrichter, die Witwe Douglas, zart, klein und lebhaft, eine edle, gutherzige Seele und immer obenauf (ihr Haus war das einzige steinerne im Dorf, und das gastfreieste und bei Festlichkeiten verschwenderischste, das St. Petersburg aufweisen konnte); Lawyer Riverson; dann die Schönheit des Dorfes, gefolgt von einem Haufen elegant gekleideter, mit allerhand Firlefanz behangener junger Herzensbrecher; dann all die jungen Ladendiener des Dorfes, alle gleichzeitig, denn sie hatten im Vestibül gestanden, Süßholz raspelnd eine öltriefende, einfältige Schutztruppe bis das letzte Mädchen Spießruten gelaufen war. Und zuletzt von allen kam der Musterknabe, Willie Mufferson, seine Mutter so sorgsam an der Hand führend, als wäre sie aus Glas. Er brachte seine Mutter stets zur Kirche und war der Liebling aller alten Damen. Das junge Volk haßte ihn er war zu gut; und dann war er ihnen gar zu oft als Muster vorgehalten worden. Sein weißes Taschentuch hing ihm aus der Tasche so war es damals am Sonntag Mode. Tom hatte kein Taschentuch und verachtete jeden Jungen, der eins hatte. Da die Versammlung jetzt so ziemlich vollzählig war, läutete die Glocke nochmals, zur Mahnung für Nachzügler und Müßige, und dann senkte sich eine große Stille auf die Kirche, nur unterbrochen durch das Kichern und Wispern auf dem Chor. Der Chor kicherte und wisperte immer und überall während des ganzen Gottesdienstes. Es hat einmal einen Kirchenchor gegeben, der nicht schlecht erzogen war, aber ich weiß nicht mehr wo. Es ist schon eine ganze Reihe von Jahren her, und ich kann mich wahrhaftig nicht mehr an die Einzelheiten erinnern aber ich glaube, es war in einem fremden Lande.
Der Geistliche gab das Lied an und las es nach einer ganz besonderen, in dieser Gegend sehr beliebten Manier in singendem Ton herunter. Seine Stimme begann mit schwachem Flüstern, wuchs beständig an, bis sie einen Punkt erreichte, wo sie unter Herausstoßung des letzten Wortes plötzlich abbrach und wie ein Springbrunnen herunterplumpste.
Er galt als wundervoller Vorleser. Bei allen kirchlichen Versammlungen wurde er aufgefordert, Verse vorzutragen, und wenn er damit fertig war, hoben die Ladies ihre Hände und ließen sie wieder in den Schoß fallen und verdrehten die Augen und schüttelten die Köpfe, als wollten sie sagen: Worte können hier nichts sagen, es ist zu wundervoll, zu wundervoll für diese Erde!
Nach dem Liede begann der Reverend Mr. Sprague eine Art Tagesbericht, indem er sich über Nachrichten von Meetings und Versammlungen und tausenderlei Dinge verbreitete, bis alle Weltlust aus dem heiligen Hause gewichen zu sein schien eine seltsame Mode, die überall in Amerika zu finden ist, sogar in den großen Städten und bis in unser Zeitalter des Zeitungs-Überflusses hinein.
Und jetzt kam die Predigt. Es war eine gute, leutselige Predigt und ging bis ins einzelne. Sie beschäftigte sich mit der Kirche und mit den Kindern der Kirche; mit den anderen Kirchen des Dorfes; mit dem Dorfe selbst; mit dem Lande; mit dem Staat; mit den Behörden der einzelnen Staaten; mit den Vereinigten Staaten; mit dem Kongreß; mit dem Präsidenten; mit den Staatsdienern; mit den armen, sturmumtosten Seefahrern; mit den unter dem Joch ihrer Monarchen seufzenden Millionen Europas und des Orients; mit den Glücklichen und Reichen, die nicht Augen haben, zu sehen und Ohren, zu hören; mit den armen Seelen auf fernen Inseln; und schloß mit der Bitte, daß seine Worte auf guten Boden fallen und dereinst hundertfältige Frucht tragen möchten. Amen.
Darauf folgte Kleiderrascheln, und die Versammlung setzte sich. Der Knabe, dessen Geschichte dieses Buch enthält, hatte keine Freude an dieser Predigt, er hörte sie einfach an und vielleicht auch das nicht. Doch merkte er sich einzelne Details daraus, ganz unbewußt, denn, wie gesagt, er achtete kaum darauf, aber er kannte den Sermon des Geistlichen schon längst und bemerkte es sofort, wenn mal irgend ein neuer Passus eingeschoben war, und das empfand er dann unangenehm; er hielt Beisätze und Abweichungen von dem Althergebrachten für unnobel und unrecht.
Während der Predigt setzt sich eine Fliege auf den Sitz des Kirchenstuhls vor ihm und marterte ihn durch das fortwährende Aneinanderreiben ihrer Beine. Dann umarmte sie ihren eigenen Kopf und drückte ihn so stark, daß die Glieder am Kopfe angewachsen zu sein schienen, fesselte ihre Flügel mit den Hinterbeinen und preßte sie an den Körper, wie einen Überrock und verrichtete ihre ganze Toilette mit einer Ruhe, als fühle sie sich vollkommen sicher. Und so war es auch. Denn als sich Toms Hand ihr näherte, um sie zu erwischen, blieb sie ruhig sitzen. Tom dachte, wenn sich ihm diese Beschäftigung bei Beginn der Predigt geboten hätte, würde es ein angenehmer Zeitvertreib für seinen Geist gewesen sein. Aber beim Schlußsatz begann seine Hand sich zu krümmen und sich vorwärts zu bewegen; und im Augenblick, da das Amen gesprochen wurde, war die Fliege eine Kriegsgefangene. Seine Tante sah es und veranlaßte ihre Befreiung.
Der Geistliche gab seinen Text an und behandelte den ersten Teil mit so gründlicher Langweile, daß manch ein Kopf zu nicken begann; ein anderer Teil wieder war so voll Feuer und Schwefel und setzte der Versammlung so zu, daß sie ganz geknickt und so klein und nichtig erschien, daß es kaum der Erwähnung wert ist.
Tom zählte die Seiten der Predigt, und nach dem Gottesdienst wußte er stets ganz genau, wie viel es gewesen waren, aber über die Predigt selbst wußte er selten etwas anzugeben. Diesmal indessen gab er doch für eine kleine Weile Obacht. Der Geistliche gab eine lange und rührende Schilderung vom Wiedersehen irdischer Schafe im Paradiese, wenn Löwe und Lamm beieinander liegen würden und ein kleines Kind sie am Gängelbande führen könnte. Aber Pathos, Eifer, Moral alles war verloren an dem kleinen Burschen; er dachte bloß an die Herrlichkeit dieses Heldendarstellers unter den unsichtbaren Wesen; und er stellte sich vor, wie schön es sein müsse, dieses Kind darzustellen wenn der Löwe ein zahmer Löwe sein würde.
Bei der Schlußbetrachtung geriet er dann wieder in tiefe Leiden. Er erinnerte sich plötzlich eines Schatzes, den er besaß und zog ihn hervor. Es war ein großes, schwarzes Ungeheuer, mit schrecklichen Kinnbacken Kneifzangen, sagte Tom. Es befand sich in einer Zündholzschachtel. Das erste, was das Tier tat, war, ihn in den Finger zu beißen. Ein tüchtiger Nasenstüber folgte, und das Tier flog in einen Kirchenstuhl, wo es liegen blieb der verwundete Finger wanderte in Toms Mund. Das Tier lag auf dem Rücken, hilflos mit den Beinen strampelnd, unfähig, aufzustehen. Tom sah es und griff danach, aber es befand sich außerhalb seines Bereiches. Irgend jemand wollte sich auf den Stuhl niederlassen, sah das Tier ebenfalls und warf es kurzerhand herunter.
Bei der Schlußbetrachtung geriet er dann wieder in tiefe Leiden. Er erinnerte sich plötzlich eines Schatzes, den er besaß und zog ihn hervor. Es war ein großes, schwarzes Ungeheuer, mit schrecklichen Kinnbacken Kneifzangen, sagte Tom. Es befand sich in einer Zündholzschachtel. Das erste, was das Tier tat, war, ihn in den Finger zu beißen. Ein tüchtiger Nasenstüber folgte, und das Tier flog in einen Kirchenstuhl, wo es liegen blieb der verwundete Finger wanderte in Toms Mund. Das Tier lag auf dem Rücken, hilflos mit den Beinen strampelnd, unfähig, aufzustehen. Tom sah es und griff danach, aber es befand sich außerhalb seines Bereiches. Irgend jemand wollte sich auf den Stuhl niederlassen, sah das Tier ebenfalls und warf es kurzerhand herunter.
Plötzlich kam ein herrenloser Pudel des Weges, trübselig, faul infolge der Sommerhitze, gelangweilt durch die Gefangenschaft, und sich nach einem Abenteuer umsehend. Er entdeckte das Tier. Sein Schwanz richtete sich empor und begann zu wedeln. Er betrachtete seinen Fund, ging um ihn herum, beschnüffelte ihn aus sicherer Entfernung, ging wieder im Kreis herum, kam näher und beschnüffelte ihn dreister, hob dann die Lefzen, schnappte nach ihm, ohne ihn zu fassen, wiederholte diese Prozedur mehrmals, begann zu spielen, legte sich, das Tier zwischen den Pfoten, und setzte seine Untersuchungen fort, wurde bald müde, gleichgültig und vergaß schließlich sein Spielzeug. Sein Kopf sank herab, und sein Kinn drückte immer mehr auf den Feind, welcher ihn plötzlich gepackt hielt. Es ertönte ein scharfes Geheul, des Pudels Kopf schnellte in die Höhe, und das Tier flog ein paar Meter weit fort und lag nun wieder hilflos auf dem Rücken. Die nächstsitzenden Zuschauer stießen sich mit geheimem Vergnügen an, einzelne Gesichter verschwanden hinter Fächern und Taschentüchern, und Tom war ganz glücklich. Der Hund machte ein böses Gesicht und war wohl auch so gestimmt. Er war im Herzen gekränkt und brütete Rache. So ging er wieder zu dem Tier und machte einen neuen, heftigen Angriff, indem er von verschiedenen Punkten eines Kreises aus, dessen Mittelpunkt sein Opfer bildete, auf dieses zusprang, mit den Vorderpfoten dicht vor seinen Augen fuchtelte, mit den Zähnen nach ihm schnappte und den Kopf dicht vor ihm schüttelte, daß die Ohren flogen. Nach einer Weile wurde es ihm wieder langweilig. Er begann ein Spiel mit einer Fliege, aber das bot keinen rechten Ersatz. Darauf lief er ein paarmal im Kreis herum, die Schnauze dicht an der Erde und bekam auch das satt. Er gähnte, seufzte, vergaß das Tier völlig und setzte sich gerade darauf. Wieder ein durchdringender Schrei, und der Pudel sprang hilfesuchend auf einen Stuhl. Das Geschrei dauerte fort, und der Pudel tanzte dicht vor dem Altar herum, lief einen Gang hinunter, sprang an der Tür in die Höhe und flehte um menschliche Hilfe. Seine Angst nahm fortwährend zu, bis er plötzlich wie ein behaarter Komet in seinem Weltenraum herumfuhr. Schließlich verließ der zum Wahnsinn getriebene Dulder seine Bahn und sprang auf den Schoß seines Herrn. Dieser warf ihn aus dem Fenster, und die Stimme des unglücklichen Geschöpfes entfernte sich und erstarb in der Ferne.
Inzwischen saß die ganze Versammlung, rot vor unterdrücktem Lachen, und die Predigt hatte völlig aufgehört. Jetzt wurde sie wieder aufgenommen, aber sie ging stockend und abgerissen vor sich, und mit der Aufmerksamkeit war es nichts mehr. Denn selbst die heiligste Andacht war beeinflußt durch schlecht unterdrückte höchst unheilige Heiterkeit, als wenn der arme Geistliche irgend einen schlechten Witz gemacht hätte. Es bedeutete eine wahre Erleichterung für die Versammlung, als der Gottesdienst zu Ende und der Segen gesprochen war.
Tom schlenderte höchst gemütlich heim und dachte bei sich, so ein Gottesdienst wäre doch ganz nett, wenn ein bißchen Abwechselung dabei sei. Nur ein Gedanke quälte ihn; er hatte allerdings die Absicht gehabt, den Hund mit seiner Beißzange spielen zu lassen, aber er hätte sie nicht fortschleppen sollen.
Sechstes Kapitel
Der Montagmorgen fand Tom höchst übler Laune. Jeder Montagmorgen fand ihn so, denn er eröffnete eine neue Woche voll von Schul-Leiden und Sorgen.
Stets wurde dieser Tag mit Seufzen begonnen; er hätte in diesem Augenblick gewünscht, daß es gar keine die Woche unterbrechenden Feiertage geben möge; denn doppelt schwer war es danach, sich in neue Sklaverei und Fronarbeit zu begeben.
Tom lag und dachte nach. Plötzlich kam ihm dann der Wunsch, krank zu sein, um zu Hause bleiben zu können. Das war ein Gedanke. Er überlegte sich die Sache. Aber er konnte keine Krankheit finden und grübelte und grübelte. Einmal glaubte er Anzeichen von Kolik zu entdecken und fing bereits an, sich trügerischen Hoffnungen hinzugeben. Aber bald wurden diese Symptome wieder schwächer, um endlich ganz zu verschwinden. Also mußte er weiter denken. Plötzlich entdeckte er etwas. Einer seiner Oberzähne war locker. Das war ein Glücksfall. Er war im Begriff, anzufangen zu stöhnen (Starter pflegte er eine solche Improvisation zu nennen), als ihm noch rechtzeitig einfiel, daß seine Tante, wenn er damit zutage trat, den Zahn ganz einfach ausziehen würde, und das würde weh tun. So nahm er sich vor, die Sache mit dem Zahn in Reserve zu halten und nach etwas anderem zu suchen. Während einiger Zeit wollte ihm nichts einfallen, dann aber entsann er sich, den Doktor von einem gewissen Etwas reden gehört zu haben, das zwei oder drei Wochen auf einem Patienten gelastet und ihn beinahe einen Finger gekostet habe. So zog er seine wunde Zehe unter der Bettdecke hervor und unterzog sie einer genauen Untersuchung. Jetzt aber wußte er nicht, welches die nötigen Symptome seien. Immerhin schien sich hier eine Aussicht zu bieten, er fing also voll Geistesgegenwart an, zu stöhnen.
Aber Sid schlief felsenfest.
Tom stöhnte lauter und bildete sich ein, in seiner Zehe wirklich Schmerz zu empfinden.
Keine Wirkung auf Sid.
Tom fing an, vor Anstrengung Herzklopfen zu bekommen. Er machte einen letzten Versuch, sog sich voll Luft und stieß eine Reihe wundervoller Seufzer heraus.
Sid schnarchte weiter.
Tom wurde schlimm. Sid, Sid, sagte er und stieß ihn an. Der Stoß wirkte, und Tom konnte wieder anfangen, zu stöhnen. Sid gähnte, streckte sich, richtete sich auf einem Ellbogen auf und begann Tom anzustarren. Tom stöhnte aus Leibeskräften.
Sid sagte: Tom, du, Tom!
Keine Antwort.
So hör doch, Tom, Tom! Was hast du, Tom?
Und er stieß ihn an und schaute ihm ängstlich ins Gesicht.
Tom mit kläglicher Stimme: Tus nicht, Sid. Stoß mich nicht!
Warum was gibts, Tom? Ich will Tante rufen.
Nein, nein! Es wird schon allmählich vorübergehen. Ruf niemand.
Aber, ich muß es tun! Stöhn nicht so, Tom, es ist gräßlich! Wie lange dauert das schon?
Stundenlang! Au, au!! Stör mich nicht, Sid, du wirst mich töten!
Tom, warum hast du mich nicht früher geweckt? Nicht, Tom, tus nicht! Es geht mir durch und durch, das zu hören! Sag, Tom!?
Ich vergebe dir alles, Sid. (Stöhnen.) Alles, was du mir mal getan hast. Wenn ich tot bin
Tom, du bist verrückt, glaub ich! Du sollst nicht sterben nicht, Tom?
Ich vergebe allen, Sid. (Stöhnen.) Sags ihnen, Sid. Und Sid, meine gelbe Türklinke und meine Katze die mit dem einen Auge sollst du dem neuen Mädchen geben, das gestern gekommen ist, und sag ihr
Aber Sid war in seine Kleider gefahren und war fortgelaufen. Tom stöhnte jetzt wirklich, so lebhaft hatte er sich alles eingebildet; so hatte sein Stöhnen einen ganz natürlichen Ton bekommen.