Sid flog hinunter und schrie: O, Tante Polly, komm, Tom stirbt!
Stirbt?!
Ja doch! Komm doch nur schnell!
Ach Unsinn! Ich glaubs nicht.
Trotzdem rannte sie die Treppe hinauf, Sid und Mary hinter ihr drein. Ihr Gesicht war ganz weiß, und die Lippen bebten. Am Bett angekommen, stieß sie aus:
Tom, Tom! Was ist das mit dir?
Ach, Tante, ich
Was ist mit dir? Was ist mit dir, Kind?
Ach, Tante, meine wehe Zehe tut so schrecklich weh!
Die alte Dame fiel in einen Stuhl, lachte ein wenig, weinte ein wenig, dann beides gleichzeitig. Das erleichterte sie, und sie sagte: Tom, wie hast du mich erschreckt! Aber nun fertig mit dem Unsinn, aufstehen!
Das Stöhnen hörte auf, und der Schmerz wich aus der Zehe. Tom kam sich ein bißchen töricht vor und sagte kleinlaut: Tante Polly, es schien schrecklich und tat so weh, daß ich sogar meinen Zahn darüber vergessen hatte.
So, deinen Zahn! Was ist denn mit deinem Zahn?
Einer ist lose und tut ganz schrecklich weh!
Na, schon gut, schon gut! Fang nur nicht wieder an zu stöhnen! Mund auf! Ja, der Zahn ist lose, aber du wirst nicht dran sterben. Mary, gib mir ein Stück Faden und eine glühende Kohle aus dem Ofen!
Ach, bitte, bitte, Tante, bettelte Tom, nicht ausziehen, s tut gar nicht mehr weh! Ich will nicht mehr aufstehen können, wenns noch weh tut! Bitte, tus nicht, Tante! Ich will ja gar nicht mehr aus der Schule bleiben!
Wirklich nicht? Also all der Lärm, weil du aus der Schule bleiben wolltest und fischen gehen, wahrscheinlich? Tom, Tom, ich habe dich so lieb, und du scheinst keinen anderen Wunsch zu haben, als mein altes Herz zu brechen mit deinen Torheiten!
Inzwischen waren die zahnärztlichen Marterwerkzeuge gekommen. Die alte Dame legte das eine Ende der Schnur um Toms Zahn, das andere um den Bettpfosten. Dann nahm sie die Kohle und hielt sie plötzlich dicht vor Toms Gesicht. Im nächsten Augenblick hing der Zahn am Bettpfosten.
Aber jedes Unglück hat sein Gutes. Als Tom nach dem Frühstück zur Schule bummelte, war er der Gegenstand des Neides bei allen Jungen, denn die Lücke in seiner Zahnreihe befähigte ihn, auf ganz neue und wunderbare Weise auszuspucken. Bald hatte er ein ganzes Gefolge, das seinen Vorführungen mit höchstem Interesse beiwohnte. Und einer mit einem geschnittenen Finger, der bisher der Mittelpunkt der Verehrung und Bewunderung gewesen war, sah sich auf einmal ohne Anhänger und seines Glanzes beraubt. Das Herz wurde ihm schwer und eine Verachtung heuchelnd, die er nicht fühlte, meinte er, es wäre wohl was Rechtes, ausspucken zu können wie Tom Sawyer. Aber die anderen riefen ihm zu: Saure Trauben! und er ging davon ein gestürzter Held.
Kurz darauf begegnete Tom dem jugendlichen Paria des Dorfes, Huckleberry Finn, dem Sohn des Dorf-Trunkenboldes. Huckleberry war riesig verhaßt und gefürchtet bei allen Müttern des Ortes, denn er war unerzogen, ruchlos, gemein und schlecht und deswegen von allen Kindern so bewundert und seine Gesellschaft so gesucht und ihr Wunsch so heiß, zu sein wie er. Tom war, wie alle wohlerzogenen Knaben, neidisch auf Huckleberrys freies, ungehindertes Leben und hatte strengen Befehl, nicht mit ihm zu spielen. Natürlich spielte er darum erst recht mit ihm, wo sichs tun ließ.
Huckleberry war stets in abgelegte Kleider Erwachsener gekleidet, und diese Kleider mußten jahrelang aushalten und flogen in Fetzen um ihn herum.
Sein Hut war eine trostlose Ruine, mit großen Lücken in dem herunterhängenden Rande. Sein Rock wenn er einen hatte baumelte ihm fast bis auf die Hacken und hatte die hinteren Knöpfe in der Höhe des Knies. Ein Tragband hielt seine Hosen. Der Hosenboden hing sackartig hinunter ein luftleerer Raum, sozusagen. Huckleberry kam und ging, wie er mochte. Er schlief auf Türschwellen bei schönem Wetter und in Regentonnen bei schlechtem; er brauchte weder zur Schule zu gehen, noch zur Kirche, keinen Herrn anzuerkennen und niemand zu gehorchen. Er konnte fischen und schwimmen, wann und wo er nur wollte, und sich dabei solange aufhalten, wie es ihm beliebte. Im Frühling war er stets der erste, der barfuß lief und der letzte, der im Herbst sich wieder in das dumme Leder bequemte. Er brauchte sich weder zu waschen, noch reine Kleider anzuziehen. Fluchen konnte er herrlich. Mit einem Worte was das Leben kostbar machte er hatte es. So dachten alle die wohlerzogenen, sittsamen, respektablen Buben in St. Petersburg.
Tom rief den romantischen Helden sofort an: Holla, Huckleberry!
Holla, du, wie gehts dir?
Was hast du da?
Ne tote Katze.
Laß sehen, Huck. Donnerwetter, wie steif sie ist! Woher hast du die?
Von nem Jungen gekauft.
Was hast du dafür gegeben?
Einen blauen Zettel und eine Schweinsblase aus dem Schlachthaus.
Und woher hattest du den blauen Zettel?
Vor zwei Wochen von Ben Rogers für einen Stock gekauft.
Sag was machst du mit der toten Katze?
Was? Warzen heilen.
So. Wirklich? Ich weiß was Besseres.
Wird was sein! Was ists denn?
Na faules Wasser!
Faules Wasser! Geb dir keinen Heller für dein faules Wasser!
So, nicht? Hast dus vielleicht probiert?
Ich nicht, Bob Tanner.
Wer hat dir das gesagt?
Na, er hats Jeff Thatcher gesagt, und Jeff hats Johnny Baker gesagt, und Johnny dem Jim Hollis, und Jim Hollis dem Ben Rogers, und Ben sagtes nem Neger, und der hats mir gesagt. So, nun weißt dus!
Na, weißt du, die haben alle gelogen. Alle, bis auf den Neger, den kenn ich nicht. Aber ich hab nie einen Neger gesehen, der nicht gelogen hätte. Aber sag doch, wie machts Bob Tanner denn, Huck?
Na, er nimmt seine Hand und taucht sie in einen verfaulten Baumstumpf, worin faules Wasser ist.
Am Tage?
Natürlich!
Mit dem Gesicht nach dem Baum?
Ja das heißt, ich glaube.
Sagte er was?
Ich glaube nicht aber ich weiß nicht.
Na der will darüber sprechen, wie man Warzen heilt so ein alter Schafskopf! Da hätt er auch sonst was tun können! Also, du mußt mitten in den Wald gehen, wo du weißt, daß ein Baumstamm mit faulem Wasser ist, und gerade um Mitternacht mußt du das Gesicht gegen den Baum wenden und die Hand hineinstecken, und dann sagst du:
Ist das Wasser faul und dumpf
Frißts die Warz mit Stiel und Stumpf!
und dann trittst du langsam zurück, elf Schritt, mit geschlossenen Augen, und dann drehst du dich dreimal herum und gehst nach Hause, ohne mit jemand zu sprechen. Denn sonst hilfts nichts.
Ja, das kann sein; aber Bob Tanner hats anders gesagt.
Na, weißt du, dann versteht ers halt nicht. Darum hat er auch am meisten Warzen von allen im Dorf, und er hätte nicht eine, wenn er das mit dem faulen Wasser wüßte, wies ist. Ich hab auf diese Weise tausend Warzen fortgekriegt, Huck. Ich bekomme so viel Frösche in die Hand, daß ich immer eine Masse Warzen habe. Zuweilen mach ich sie mit ner Bohne ab.
Ja, Bohne ist gut, damit hab ichs auch schon gemacht.
So? Wie machst dus denn?
Na, man nimmt die Bohne und schneidet sie durch, und dann schneidet man die Warze, bis Blut herauskommt, und dann läßt man das auf die eine Hälfte der Bohne tropfen, und dann nimmt man die und gräbt bei Vollmond am Kreuzweg ein Grab, und da tut man sie dann hinein. Dann, weißt du, zieht die eine Hälfte der Bohne, wo das Blut darauf ist, die andere Hälfte an, und so hilft das Blut, um die Warze fortzuziehen, so lang, bis sie fort ist.
Ja, Huck, das ist ganz richtig. Nur, wenn du sie begräbst und dazu sagst: Bohne fort komm nicht mehr an diesen Ort, ists noch besser. So machts John Harper, und der ist schon mal bis Coonville und überall gewesen. Aber sag wie heilst du sie denn mit ner toten Katze?
Weißt du, du nimmst die Katze und gehst auf den Kirchhof gegen Mitternacht, dahin, wo ein Gottloser begraben ist. Wenns dann Mitternacht ist, kommt ein Teufel oder auch zwei oder drei du kannst ihn aber nicht sehen, sondern hörst nur so was wie den Wind, oder hörst ihn sprechen. Und wenn sie dann den Kerl fortschleppen, wirfst du die Katze hinterher und rufst:
Teufel hinterm Leichnam her,
Katze hinterm Teufel her,
Warze hinter der Katze her
Seh euch alle drei nicht mehr!
Das heilt jede Warze.
Das läßt sich hören. Hast dus schon mal versucht, Huck?
Nein, aber die alte Hopkins hats mir erzählt.
Ja, ich glaub, s ist so, denn die sieht aus wie ne Hexe.
Das glaub ich! Weißt du, Tom, sie ist eine Hexe! Sie hat meinen Alten behext. Er hats selbst gesagt. Er begegnete ihr mal ganz allein und sah, daß sie ihn behexen wollte, da hob er einen Stein auf, und wenn sie sich nicht gebückt hätte, hätt er sie geworfen. Na, in der Nacht darauf fiel er von einem Schuppen, auf dem er besoffen gelegen hatte, und brach den Arm.
Das ist ja schrecklich! Woher wußte er, daß sie ihn behext hatte?
Gott, das weiß mein Alter halt. Er sagt, wenn die dich recht steif anschaut, behext sie dich, besonders wenn sie dabei murmelt. Dann spricht sie nämlich das Vaterunser rückwärts.
Sag, Huck, wann willst du das mit der Katze probieren?
Diese Nacht. Ich denke, sie werden diese Nacht den alten Hoss Williams holen.
Aber der ist doch am Samstag schon beerdigt, Huck. Haben sie ihn nicht schon Samstag nacht geholt?
Ach, Unsinn! Wie konnten sies denn vor Mitternacht? Und dann wars Sonntag. Am Sonntag kommen doch die Teufel nicht herauf!
Daran hab ich nicht gedacht. Dann ists richtig. Darf ich mitgehen?
Meinetwegen wenn du dich nicht fürchtest?
Fürchten? Das ist das wenigste. Willst du miauen?
Ja, und du mußt auch miauen, wenn du kommen kannst. Letztes Mal hast du mich so lange warten lassen, bis der alte Hays einen Stein nach mit warf und schrie: Der Teufel hol die Katz! Da hab ich ihm einen Stein ins Fenster geschmissen aber sags nicht weiter!
Bewahre! Damals konnte ich nicht miauen, weil mir meine Tante aufpaßte; aber diesmal werde ich bestimmt miauen. Du, Huck, was ist das?
Das? Ach, nur ne Baumwanze.
Woher hast du die?
Aus dem Wald mitgebracht
Was willst du dafür haben?
Ich ich weiß nicht. Ich will sie gar nicht verkaufen.
Na ja, s ist ja auch nur ne lumpge Wanze.
Oho, nach so ner Wanze kannst du lange laufen. Mir gefällt sie schon.
s gibt ne Menge solcher Wanzen. Wenn ich wollte, könnt ich tausend solche haben.
So, warum willst du denn nicht? Weil du ganz gut weißt, daß dus nicht kannst! Dies ist eine ganz besondere Wanze. Es ist die erste, die ich dies Jahr gesehen hab.
Du, Huck, ich geb dir meinen Zahn dafür.
Laß sehen.
Tom holte ein Papier hervor und rollte es sorgfältig auf. Huckleberry untersuchte es genau. Dann sagte er:
Ist er auch echt?
Tom machte den Mund auf und zeigte seine Zahnlücke.
Gut. sagte Huckleberry, er ist echt.
Tom verschloß die Wanze in der Schachtel, die vorher das Gefängnis der Kneifzange gewesen war, und die beiden trennten sich, jeder höchlichst zufrieden mit seinem Tausch.
Als Tom das kleine, einsam gelegene Schulhaus erreicht hatte, ging er ganz lustig, wie einer, der sich möglichst beeilt hat, hinein. Er hängte seine Mütze auf und setzte sich mit geschäftiger Eile auf seinen Platz. Der Lehrer, auf einem großen Lehnstuhl thronend, hatte ein bißchen geschlafen und fuhr bei Toms Anstalten in die Höhe.
Thomas Sawyer!
Tom wußte, daß, wenn sein Name ganz gesprochen wurde, die Situation kritisch war.
Herr!
Komm vor! Wo bist du denn wieder mal so lange gewesen?
Tom wollte seine Zuflucht zu einer Lüge nehmen, als er zwei lange, helle Zöpfe einen Rücken herabhängen sah und sie infolge geheimer Sympathie erkannte. Und daneben, auf der Mädchen-Seite, war der einzigste Freiplatz! Sofort entgegnete er: Ich mußte mit Huckleberry Finn etwas besprechen.
Des Lehrers Pulse stockten, er starrte hilflos um sich. Alles Geräusch der Arbeitenden verstummte. Die Schüler glaubten, dieser kühne Bursche habe den Verstand verloren.
Der Lehrer fragte nochmals: Du du mußtest was?
Mit Huckleberry Finn sprechen.
Ein Irrtum war nicht mehr denkbar.
Thomas Sawyer, das ist die staunenerregendste Antwort, die ich je erhalten habe. Darauf kann nur die Rute antworten. Zieh die Jacke aus!
Des Lehrers Arm arbeitete, bis er völlig ermattet und die Rute kaput war. Dann hieß es: So, nun geh, und setz dich zu den Mädchen! Und laß dir das zur Warnung dienen!
Das Kichern, welches jetzt durch das Schulzimmer ging, schien Tom in Verlegenheit zu bringen, in Wahrheit aber war es vielmehr die wundervolle Nähe seines unbekannten Idols und die mit Ehrfurcht gemischte Freude dieses Glücksfalls. Er ließ sich auf dem Ende der Bank nieder, und das Mädchen wandte sich ab, indem es ostentativ den Kopf drehte. Kichern, Flüstern und Tuscheln erfüllten das Zimmer, aber Tom saß mäuschenstill, die Arme auf das lange Pult vor sich gelegt, und schien eifrig zu lernen. Nach und nach legte sich die allgemeine Beschäftigung mit ihm, und das gewöhnliche Schulsummen füllte wieder die Luft. Sofort begann Tom verstohlen glänzende Blicke auf das Mädchen zu werfen. Dieses merkte es, schnitt ihm ne Grimasse und drehte für die Zeit einer Minute den Kopf von ihm ab. Als sie vorsichtig wieder herumsah, lag ein Pfirsich vor ihr. Sie stieß ihn weg. Tom schob ihn ihr liebenswürdig wieder zu; sie schob ihn nochmals fort, aber weniger heftig. Tom legte ihn geduldig zum dritten Mal auf ihren Platz. Bitte nimm, ich hab noch mehr! Das Mädchen lächelte bei dieser Anrede, machte aber sonst kein Zeichen des Einverständnisses. Nun begann der Bursche etwas auf seine Tafel zu zeichnen, wobei er sein Werk sorgfältig mit der Hand bedeckte. Eine Zeitlang tat das Mädel gleichgültig; aber ihre Neugier begann sich doch bald bemerkbar zu machen durch begehrliche Blicke. Tom arbeitete weiter, ohne eine Ahnung davon. Das Mädel bewerkstelligte eine Art Verrenkung, um einen Blick auf Toms Werk werfen zu können, der aber merkte noch immer nichts.
Schließlich gab sie nach und flüsterte zögernd: Laß mich sehen!
Tom enthüllte sofort eine klägliche Karikatur eines Hauses mit zwei schiefen Giebeln und korkzieherförmigem Rauch über dem Schornstein. Das Interesse der Kleinen an dem Werk wurde immer lebhafter, sie vergaß alles darüber. Als es beendet war, betrachtete sie es einen Moment und flüsterte dann: Zu niedlich! Mach einen Mann!
Der Künstler errichtete im Vordergrund einen Mann, einen wahren Mastbaum. Er hätte mit Leichtigkeit über das Haus wegsteigen können; aber die Kleine war nicht kritisch. Sie war zufrieden mit dem Monstrum.