Der Zauberberg. Volume 2 - Томас Манн 6 стр.


"Verhüte? Du sprichst wie ein Zivilist. Krieg ist notwendig. Ohne Kriege würde bald die Welt verfaulen, hat Moltke gesagt."

"Ja, dazu hat sie wohl eine Neigung. Und so viel kann ich dir zugeben", setzte Hans Castorp an und wollte eben auf die Chaldäer zurückkommen, die ebenfalls Krieg geführt und Ba-bylonien erobert hätten, obgleich sie Semiten und also beinahe Juden gewesen seien, als beide gleichzeitig gewahr wurden, daß zwei Herren, die dicht vor ihnen gingen, die Köpfe nach ihnen wandten, aufmerksam gemacht durch ihre Reden, gestört in eigener Unterhaltung.

Es war auf der Hauptstraße, zwischen dem Kurhaus und dem Hotel Belvedere, auf dem Rückweg nach Davos-Dorf Das Tal lag im Festkleide, in zarten, lichten und frohen Farben. Die Luft war köstlich. Eine Symphonie von heiteren Wiesenblumendüften erfüllte die reine, trockene, klar durchsonnte Atmosphäre.

Sie erkannten Lodovico Settembrini zur Seite eines Frem-den; doch schien es, als erkenne er seinerseits sie nicht oder als wünsche er kein Zusammentreffen, denn er wandte rasch den Kopf wieder ab und vertiefte sich gestikulierend in die Unterhaltung mit seinem Begleiter, wobei er sogar rascher vorwärts zu kommen suchte. Als freilich die Vettern, rechts neben ihm, durch heitere Verbeugung grüßten, stellte er sich wunder wie angenehm überrascht, mit "Sapristi!" und "Teufel noch ein-mal!", wollte aber nun wieder zurückhalten, die beiden vor-über und vorangehen lassen, was sie jedoch nicht verstanden, das heißt: nicht bemerkten, weil sie keine Vernunft darin sahen. Ehrlich erfreut vielmehr, ihm nach längerer Trennung wieder zu begegnen, hielten sie sich bei ihm und schüttelten ihm die Hand, indem sie nach seinem Ergehen fragten und in höicher Erwartung dabei zu seinem Gefährten hinüberblickten. So zwangen sie ihn, zu tun, was er offenbar lieber nicht getan hätte, was aber ihnen als die natürlichste und zu gewärtigendste Sache von der Welt erschien: nämlich sie mit jenem bekannt zu machen, was denn also im Gehen und halben Stehenbleiben derart geschah, daß Settembrini, mit verbindenden Handbewegun-gen und lustigen Reden die Herren miteinander in Beziehung setzte, sie vor seiner Brust sich die Hände reichen ließ.

Es stellte sich heraus, daß der Fremde, der Settembrinis Jahre haben mochte, dessen Hausgenosse war: der andere Aftermieter Lukaçeks, des Damenschneiders, Naphta mit Namen, soviel die jungen Leute verstanden. Er war ein kleiner, magerer Mann, ra-siert und von so scharfer, man möchte sagen: ätzender Häßlich-keit, daß die Vettern sich geradezu wunderten. Alles war scharf an ihm: die gebogene Nase, die sein Gesicht beherrschte, der schmal zusammengenommene Mund, die dick geschliffenen Gläser der im übrigen leicht gebauten Brille, die er vor seinen hellgrauen Augen trug, und selbst das Schweigen, das er be-wahrte, und dem zu entnehmen war, daß seine Rede scharf und folgerecht sein werde. Er war barhaupt, wie es sich gehörte, und im bloßen Anzug, sehr wohlgekleidet dabei: sein dunkelblau-er Flanellanzug mit weißen Streifen zeigte guten, gehalten mo-dischen Schnitt, wie der weltkindlich prüfende Blick der Vettern feststellte, die übrigens einem ebensolchen, nur rascheren und schärferen, an ihren Personen hinabgleitenden Blick von seiner, des kleinen Naphta Seite, begegneten. Hätte Lodovico Settembrini seinen faserigen Flaus und seine gewürfelten Hosen nicht mit so viel Anmut und Würde zu tragen gewußt, seine Erscheinung hätte unvorteilhaft abstechen müssen von der fei-nen Gesellschaft. Sie tat esjedoch um so weniger, als die Gewürfelten frisch aufgebügelt waren, so daß man sie auf den er-sten Blick fast für neu hätte halten können, ein Werk seines Quartiergebers zweifellos, nach beiläuger Überlegung der jungen Leute. Wenn aber der häßliche Naphta nach der Güte und Weltlichkeit seiner Kleidung den Vettern näher stand als seinem Hausgenossen, so ordneten doch nicht alleine seine vor-gerückteren Jahre ihn mit diesem gegen die Jünglinge zusam-men, sondern entschieden noch etwas anderes, was sich am be-quemsten auf die Gesichtsfarbe der beiden Paare zurückführen ließ, nämlich darauf, daß die einen braun und rotgebrannt, die anderen aber bleich waren: Joachims Gesicht war im Laufe des Winters noch bronzefarbener nachgedunkelt, und dasjenige Hans Castorps glühte rosenrot unter seinem blonden Scheitel; aber Herrn Settembrinis welscher Blässe, die gar edel zu seinem schwarzen Schnurrbart stand, hatte die Strahlung nichts anzuhaben vermocht, und sein Genosse, obgleich blonden Haares es war übrigens aschblond, metallisch-farblos, und er trug es glatt aus der iegenden Stirn über den ganzen Kopf zurückgestrichen , zeigte gleichfalls die mattweiße Gesichtshaut brünetter Rassen. Zwei von den vieren trugen Spazierstöcke, nämlich Hans Castorp und Settembrini; denn Joachim ging aus militäri-schen Gründen ohne einen solchen, und Naphta legte nach er-folgter Vorstellung sogleich wieder die Hände auf dem Rücken zusammen. Sie waren klein und zart, wie auch seine Füße sehr zierlich waren, übrigens seiner Figur entsprechend. Daß er er-kältet wirkte und auf eine gewisse schwächliche und unförderli-che Art hustete, el nicht auf.

Jenen Anug von Betroffenheit oder Verstimmung beim Gewahrwerden der jungen Leute hatte Settembrini sofort mit Eleganz überwunden. Er zeigte sich in der besten Laune und machte die drei unter Scherzreden bekannt, zum Beispiel be-zeichnete er Naphta als "Princeps scholasticorum". Die Fröh-lichkeit, sagte er, "halte glanzvoll Hof im Saale seiner Brust", wie Aretino sich ausgedrückt habe, und das sei des Frühlings Verdienst, eines Frühlings, den er sich lobe. Die Herren wüßten, daß er gegen die Welt hier oben manches auf dem Herzen habe, sooft er es sich bereits davon heruntergeredet. Ehre jedoch dem Hochgebirgsfrühling! vorübergehend vermöge er ihn mit allen Greueln dieser Sphäre zu versöhnen. Da fehle alles Verwir-rende und Aufreizende des Frühlings der Ebene. Kein Gebrodel in der Tiefe! Keine feuchten Düfte, kein schwüler Dunst! Sondern Klarheit, Trockenheit, Heiterkeit und derbe Anmut. Es sei nach seinem Herzen, es sei süperb!

Sie gingen in unregelmäßiger Reihe, nebeneinander alle vier, so weit es möglich war, aber bald, wenn Entgegenkommende vorbeigingen, mußte Settembrini, der den rechten Flügel hielt, auf die Fahrstraße treten, bald löste ihre Front durch das Zu-rückbleiben und Einlenken einzelner Glieder, Naphtas etwa, linkerseits, oder Hans Castorps, der den Platz zwischen dem Humanisten und Vetter Joachim hatte, sich vorübergehend auf. Naphta lachte kurz, mit einer vom Schnupfen sordinierten Stimme, die beim Sprechen an den Klang eines gesprungenen Tellers erinnerte, an den man mit dem Knöchel klopft. Indem er mit dem Kopf seitlich zu dem Italiener hinüberwies, sagte er mit schleppendem Akzent:

"Man höre den Voltairianer, den Rationalisten. Er lobt die Natur, weil sie uns auch bei fertilster Gelegenheit nicht mit my-stischen Dämpfen verwirrt, sondern klassische Trockenheit wahrt. Wie hieß doch die Feuchtigkeit auf lateinisch?"

"Der Humor", rief Settembrini über die linke Schulter, "der Humor in der Naturbetrachtung unseres Professors besteht dar-in, daß er, wie die heilige Katharina von Siena, an die Wunden Christi denkt, wenn er rote Primeln sieht."

Naphta erwiderte:

"Das wäre eher witzig als humoristisch. Aber es hieße im-merhin Geist in die Natur tragen. Sie hat es nötig."

"Die Natur", sagte Settembrini mit gesenkter Stimme und nicht mehr völlig über die Schulter hinweg, sondern nur noch an ihr hinunter, "hat Ihren Geist durchaus nicht nötig. Sie ist selber Geist."

"Sie langweilen sich nicht mit Ihrem Monismus?"

"Ah, Sie geben also zu, daß es Vergnügungssucht ist, wenn Sie die Welt feindlich entzweien, Gott und Natur auseinanderreißen!"

"Es interessiert mich, daß Sie Vergnügungssucht nennen, was ich im Sinne habe, wenn ich Passion und Geist sage."

"Zu denken, daß Sie, der große Worte für so frivole Bedürfnisse setzt, mich manchmal einen Redner nennen!"

"Sie bleiben dabei, daß Geist Frivolität bedeutet. Aber er kann nichts dafür, daß er von Hause aus dualistisch ist. Der Dualismus, die Antithese, das ist das bewegende, das leidenschaftliche, das dialektische, das geistreiche Prinzip. Die Welt feindlich gespalten sehen, das ist Geist. Aller Monismus ist langweilig. Solet Aristoteles quaerere pugnam."

"Aristoteles? Aristoteles hat die Wirklichkeit der allgemeinen Ideen in die Individuen verlegt. Das ist Pantheismus."

"Falsch. Geben Sie den Individuen substantiellen Charakter, denken Sie das Wesen der Dinge aus dem Allgemeinen fort in die Einzelerscheinung, wie Thomas und Bonaventura es als Ari-stoteliker taten, so haben Sie die Welt aus jeder Einheit mit der höchsten Idee gelöst, sie ist außergöttlich und Gott transzen-dent. Das ist klassisches Mittelalter, mein Herr."

"Klassisches Mittelalter ist eine köstliche Wortverbindung!"

"Ich bitte um Entschuldigung, aber ich lasse den Begriff des Klassischen statthaben, wo er am Platze ist, das heißt, wo immer eine Idee auf ihren Gipfel kommt. Die Antike war nicht immer klassisch. Ich stelle eine Abneigung gegen die Freizügigkeit der Kategorien bei Ihnen fest, gegen das Absolute. Sie wollen auch nicht den absoluten Geist. Sie wollen, der Geist, das sei der demokratische Fortschritt."

"Ich hoffe uns einig in der Überzeugung, daß der Geist, so absolut er sei, niemals den Anwalt der Reaktion wird machen können."

"Er ist jedoch immer der Anwalt der Freiheit!"

"Jedoch? Freiheit ist das Gesetz der Menschenliebe, nicht Nihilismus und Bosheit."

"Wovor Sie offenbar Angst haben."

Settembrini warf den Arm über den Kopf Das Geplänkel brach ab. Joachim blickte verwundert von einem zum andern, während Hans Castorp mit hochgezogenen Brauen auf seinen Weg niedersah. Naphta hatte scharf und apodiktisch gesprochen, wiewohl er es gewesen war, der die weitere Freiheit verfochten hatte. Besonders seine Art, mit "Falsch!" zu widersprechen, beim "Sch"-Laut die Lippen vorzuschieben und dann den Mund zu verkneifen, war unangenehm. Settembrini hatte ihm teils auf heitere Weise Widerpart gehalten, teils auch eine schö-ne Wärme in seine Worte gelegt, etwa dort, wo er zur Einigkeit in gewissen Grundgesinnungen gemahnt hatte. Jetzt, während Naphta schwieg, begann er, den Vettern die Existenz des ihnen Fremden zu erläutern, womit er dem Bedürfnis nach Aufklä-rung entgegenkam, das er nach seinem Wortwechsel mit Naphta bei ihnen voraussetzte. Dieser ließ es geschehen, ohne sich dar-um zu kümmern. Er sei Professor der alten Sprachen in den obersten Klassen des Fridericianums, erklärte Settembrini, in-dem er den Stand des Vorzustellenden nach italienischer Art möglichst pomphaft herausstrich. Sein Schicksal sei dem seinen, Settembrinis eigenem, gleich. Durch seinen Gesundheitszustand vor fünf Jahren heraufgeführt, habe er sich überzeugen müssen, daß er des Aufenthaltes für lange Frist bedürftig sei, habe sein Sanatorium verlassen und sich privat-ansässig gemacht, bei Luka-çek, dem Damenschneider. Des hervorragenden Latinisten, Zöglings einer Ordensschule, wie er sich etwas unbestimmt ausdrückte, habe sich klugerweise die höhere Lehranstalt des Ortes als eines Dozenten versichert, der ihr zur Zierde gerei-che Kurz, Settembrini erhob den häßlichen Naphta nicht wenig, obgleich er doch eben noch etwas wie einen abstrakten Streit mit ihm gehabt, und obgleich dieser streitähnliche Wort-wechsel sich sogleich fortsetzen sollte.

Settembrini ging nämlich jetzt dazu über, Herrn Naphta Er-läuterungen über die Vettern zu geben, 'wobei sich übrigens zeigte, daß er ihm schon früher von ihnen erzählt hatte. Dies sei also der junge Ingenieur mit den drei Wochen, bei dem Hofrat Behrens eine feuchte Stelle gefunden habe, sagte er, und dies hier jene Hoffnung der preußischen Heeresorganisation, Leut-nant Ziemßen. Und er sprach von Joachims Gemütsempörung und Reiseplänen, um hinzuzufügen, daß man dem Ingenieur zweifellos zu nahe treten würde, wenn man ihm nicht dieselbe Ungeduld zuschiebe, zur Arbeit zurückzukehren.

Naphta verzog das Gesicht. Er sagte:

"Die Herren haben da einen beredten Vormund. Ich hüte mich, zu bezweifeln, daß er Ihre Gedanken und Wünsche zu-treffend verdolmetscht. Arbeit, Arbeit , ich bitte, gleich wird er mich einen Feind der Menschheit schelten, einen inimicus hu-manae naturae, wenn ich es wage, an Zeiten zu erinnern, wo er mit dieser Fanfare den gewohnten Effekt durchaus nicht erzielt hätte, nämlich an Zeiten, wo das Gegenteil seines Ideals in un-vergleichlich höheren Ehren stand. Bernhard von Clairvaux et-wa lehrte eine andere Stufenfolge der Vollkommenheit, als Herr Lodovico sie sich je hat träumen lassen. Wollen Sie wis-sen, welche? Sein unterster Stand bendet sich in der 'Mühle', der zweite auf dem 'Acker', der dritte und lobenswerteste aber hören Sie nicht zu, Settembrini , 'auf dem Ruhebett'. Die Mühle, das ist das Sinnbild des Weltlebens, nicht schlecht ge-wählt. Der Acker bedeutet die Seele des weltlichen Menschen, darauf der Prediger und geistliche Lehrer wirkt. Diese Stufe ist schon würdiger. Auf dem Bette aber "

"Genug! Wir wissen!" rief Settembrini. "Meine Herren, jetzt wird er Ihnen Zweck und Gebrauch des Lotterbettes vor Augen führen!"

"Ich wußte nicht, daß Sie prüde sind, Lodovico. Wenn man Sie den Mädchen zuzwinkern sieht Wo bleibt die heidnische Unbefangenheit? Das Bett also ist der Ort der Beiwoh-nung des Minnenden mit dem Gemeinten und als Symbolum die beschauliche Abgeschiedenheit von Welt und Kreatur zum Zwecke der Beiwohnung mit Gott."

"Puh! Andate, andate!" wehrte der Italiener fast weinend ab. Man lachte. Dann aber fuhr Settembrini mit Würde fort:

"Ah, nein, ich bin Europäer, Okzidentale. Ihre Rangordnung da ist reiner Orient. Der Osten verabscheut die Tätigkeit. Lao-Tse lehrte, daß Nichtstun förderlicher sei, als jedes Ding zwi-schen Himmel und Erde. Wenn alle Menschen aufgehört haben würden, zu tun, werde vollkommene Ruhe und Glückseligkeit auf Erden herrschen. Da haben Sie Ihre Beiwohnung."

"Was Sie nicht sagen. Und die abendländische Mystik? Und der Quietismus, der Fénélon zu den Seinen zählen darf, und der lehrte, daß jedes Handeln fehlerhaft sei, da tätig sein zu wollen, Gott beleidigen heiße, der allein handeln wolle? Ich zitiere die Propositionen von Molinos. Es scheint doch, daß die geistige Möglichkeit, das Heil in der Ruhe zu nden, allgemeine menschliche Verbreitung besitzt."

Hier griff Hans Castorp ein. Mit dem Mut der Einfalt misch-te er sich ins Gespräch und äußerte ins Leere blickend:

"Beschaulichkeit, Abgeschiedenheit. Es hat was für sich, es läßt sich hören. Wir leben ja ziemlich hochgradig abgeschieden, wir hier oben, das kann man sagen. Fünftausend Fuß hoch lie-gen wir auf unseren Stühlen, die auffallend bequem sind, und sehen auf die Welt und Kreatur hinunter und machen uns unse-re Gedanken. Wenn ich mir's überlege und soll die Wahrheit sagen, so hat das Bett, ich meine damit den Liegestuhl, verste-hen Sie wohl, mich in zehn Monaten mehr gefördert und mich auf mehr Gedanken gebracht, als die Mühle im Flachlande all die Jahre her, das ist nicht zu leugnen."

Settembrini sah ihn mit traurig schimmernden schwarzen Augen an. "Ingenieur", sagte er gepreßt, "Ingenieur!" Und er nahm Hans Castorp am Arm und hielt ihn ein wenig zurück, gleichsam um hinter dem Rücken der anderen privatim auf ihn einzureden.

"Wie oft habe ich Ihnen gesagt, daß man wissen sollte, was man ist, und denken, wie es einem zukommt! Sache des Abend-länders, trotz aller Propositionen, ist die Vernunft, die Analyse, die Tat und der Fortschritt, nicht das Faulbett des Mönches!"

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