«Ich werde Sie hinauf-bringen. Und wir werden eine Flasche mitnehmen.»
Der Portier erwachte. «Haben Sie noch etwas zu trinken?» fragte Ravic.
«Champagnercocktail?» fragte der Portier.
«Danke. Etwas Herzhafteres. Kognak. Eine Flasche.»
«Courvoisier, Martell, Hennessy, Biscuit Dubouche?» «Courvoisier.»
«Sehr wohl, mein Herr. Ich werde den Kork ziehen und die Flasche heraufb ringen.»
Sie gingen die Treppe hinauf. «Haben Sie Ihren Schlüssel?» fragte Ravic die Frau.
«Das Zimmer ist nicht abgeschlossen.»
«Man kann Ihnen Ihr Geld und Ihre Papiere stehlen, wenn Sie nicht abschließen.»
«Das kann man auch, wenn ich abschließe.»
«Das ist wahr. Trotzdem es ist dann nicht ganz so einfach.»
Joan Madou warf ihren Mantel und ihre Baskenmütze auf das Bett und sah Ravic an. Ihre Augen waren hell und groß in dem blassen Gesicht. Sie stand einen Augenblick so da. Dann begann sie in dem kleinen Raum hin und her zu gehen, die Hände in den Taschen ihrer Jacke, mit langen Schritten.
Ravic sah sie aufmerksam an. Sie hatte plötzlich Kraft und eine ungestüme Grazie, und das Zimmer schien viel zu eng für sie. Es klopfte. Der Portier brachte den Kognak herein. «Wollen Sie noch etwas essen? Kaltes Huhn. Sandwiches »
«Nein.» Ravic bezahlte ihn und schob ihn hinaus. Dann schenkte er zwei Gläser ein.
«Hier. Trinken Sie das.»
«Und dann?»
«Dann trinken Sie das nächste.»
«Ich habe das versucht. Es ist nicht gut, betrunken zu sein, wenn man allein ist.»
«Sie müssen etwas zu tun haben.» Ravic zündete sich eine Zigarette an. «Schade, daß wir Morosow nicht getroffen haben. Ich wußte nicht, daß er heute seinen freien Tag hatte. Gehen Sie morgen abend hin. Gegen neun. Irgend etwas wird er schon für Sie nden. Und wenn es Arbeit in der Küche wäre. Dann sind Sie nachts beschäftigt. Das wollen Sie doch?»
«Ja.»
Joan Madou hörte auf, hin und her zu gehen. Sie trank das Glas Kognak und setzte sich auf das Bett. «Ich bin draußen herumgegangen jede Nacht. Solange man geht, ist alles besser. Ich habe oft genug darauf gewartet, daß wenigstens einer zu mir spricht!»
Sie warf das Haar zurück und nahm das Glas, daß Ravic ihr gab.
«Ich weiß nicht, warum ich davon spreche. Ich will es gar nicht. Vielleicht, weil ich stumm war all die Tage.»
«Ich trinke», sagte Ravic. «Sagen Sie, was Sie wollen. Es ist Nacht. Niemand hört Sie. Ich höre auf mich selbst. Morgen ist alles vergessen.»
Er lehnte sich zurück. An das Fenster klopfte immer noch mit weichen Fingern der Regen. Ich muß schon betrunken sein, dachte Ravic. Früher als sonst, heute. Er hörte nicht auf das, was Joan Madou sprach. Er kannte es und wollte es nicht mehr kennen.
«Danke», sagte Joan Madou.
«Warum?»
«Weil Sie mich sprechen ließen, ohne zuzuhören. Es war gut. Ich brauchte das.»
Ravic nickte. Er sah, daß ihr Glas wieder leer war. «Gut», sagte er.
«Ich werde Ihnen die Flasche hierlassen.»
Er stand auf. Ein Zimmer. Eine Frau. Nichts weiter. Ein blasses Gesicht, in dem nichts mehr leuchtete. «Wollen Sie gehen?» fragte Joan Madou.
«Hier ist die Adresse Morosows. Sein Name, damit Sie ihn nicht vergessen. Morgen abend um neun.» Ravic schrieb es auf einen Rezeptblock. Dann riß er das Blatt ab und legte es auf den Koffer.
Joan Madou war aufgestanden. Sie griff nach ihrem Mantel und ihrer Mütze. Ravic sah sie an. «Ich will nur nicht hierbleiben. Nicht jetzt. Ich will noch irgendwo herumgehen.»
«Warum bleiben Sie nicht hier?» «
Es ist bald Morgen. Wenn ich zurückkomme, wird es Morgen sein. Dann ist es einfacher.» Ravic ging zum Fenster. Es regnete immer noch.
«Kommen Sie», sagte er. «Wir trinken noch ein Glas, und Sie legen sich schlafen. Das ist kein Wetter für Spaziergänge.»
Er griff nach der Flasche. Joan Madou war plötzlich dicht neben ihm. «Laß mich nicht hier», sagte sie «Laß mich nicht allein hier, nur heute nicht. Ich kann jetzt nicht allein sein.»
Ravic stellte die Flasche hin.
«Ich kann hier schlafen. Es hat keinen Zweck, noch anderswo hinzugehen. Ich brauche ein paar Stunden Schlaf. Muß morgen um neun operieren. Kann ebenso gut hier schlafen wie bei mir.»
Sie stand noch immer dicht neben ihm.
«Ich muß um halb acht raus.»
«Das macht nichts. Ich werde aufstehen und Frühstück für Sie machen, alles »
«Sie werden gar nichts tun», sagte Ravic. «Ich werde frühstücken im nächsten Café wie ein vernünft iger Arbeiter; Kaffee mit Croissants. Alles andere kann ich in der Klinik machen. Wird nicht schlecht sein, Eugenie um ein Bad zu fragen. Gut, bleiben wir hier. Zwei verlorene Seelen im November. Sie nehmen das Bett. Wir brauchen noch ein paar Sachen, Kissen, Decke und so was.»
«Ich kann klingeln.» «Das kann ich auch.» Ravic suchte nach dem Knopf. «Besser, ein Mann macht das.»
Der Portier kam schnell. Er hatte eine zweite Kognakasche in der Hand. «Sie überschätzen uns», sagte Ravic. «Herzlichen Dank. Wir gehören zur Nachkriegsgeneration. Eine Decke, ein Kissen und etwas Leinen. Ich muß hier schlafen. Zu kalt und zu viel Regen draußen. Ich bin gerade zwei Tage aus dem Bett nach einer schweren Lungenentzündung. Können Sie das machen?»
«Selbstverständlich, mein Herr. Dachte mir schon so etwas.»
«Gut.» Ravic zündete sich eine Zigarette an.
«Ich werde auf den Korridor gehen. Schuhe ansehen vor den Türen. Ein alter Sport von mir. Ich laufe nicht weg», sagte er, als er den Blick von Joan Madou sah. « Ich lasse meinen Mantel nicht im Stich.»
Der Portier kam mit den Sachen. Er stoppte, als er Ravic im Korridor stehen sah. «Das ndet man selten», sagte er.
«Ich tue das auch selten. Nur an Geburtstagen und Weihnachten. Geben Sie mir die Sachen. Ich nehme sie mit hinein. Was ist denn das da?»
«Eine Wärmflasche. Wegen Ihrer Lungenentzündung.»
«Danke. Aber ich wärme meine Lungen mit Kognak.» Ravic zog ein paar Scheine aus der Tasche.
«Mein Herr, Sie haben sicher keine Pyjamas. Ich kann Ihnen ein Paar geben.»
«Danke, Bruder.» Ravic sah den Alten an. «Sie würden mir sicher zu klein sein.»
«Im Gegenteil. Sie werden Ihnen passen. Es sind ganz neue. Ein Amerikaner hat sie mir einmal geschenkt. Dem hatte sie eine Dame geschenkt. Ich trage so etwas nicht. Ich trage Nachthemden. Sie sind ganz neu, mein Herr.»
«Gut, bringen Sie sie herauf. Wir können sie ja mal ansehen.» Ravic wartete im Korridor.
Der Portier brachte die Pyjamas. Sie waren Prachtstükke. Die Pyjamas waren neu. Sie waren sogar noch in dem Karton des Magazin du Louvre, in dem sie gekauft waren. «Schade», sagte Ravic. «Ich hätte gern die Dame gesehen, die sie ausgesucht hat.»
«Sie können sie haben für diese Nacht. Sie brauchen sie nicht zu kaufen, mein Herr.Freut mich, daß Sie Ihnen gefallen. Gute Nacht, mein Herr. »
«Wecken Sie mich um halb acht. Klopfen Sie nur leise an. Ich höre es schon. Gute Nacht.»
«Sehen Sie », sagte Ravic zu Joan Madou und zeigte die Pyjamas. «Ein Kostüm für einen Weihnachtsmann. Dieser Portier ist ein Zauberer. Ich werde die Sachen sogar anziehen. Er ordnete die Decken auf der Chaiselongue. Es war ihm gleichgültig, wo er schlief, in seinem Hotel oder hier. Er goß ein Glas voll und stellte die Flasche auf den Boden. «Salute!»
«Salute! Und danke!»
«Das ist in Ordnung. Ich hatte ohnehin nicht viel Lust, durch den Regen zu gehen.»
«Regnet es noch?»
«Ja.»
Das leise Klopfen kam von draußen durch die Stille.
«Gute Nacht zum Trinken.»
«Ja und eine schlechte, allein zu sein.»
Ravic schwieg eine Weile.
Ravic schwieg eine Weile.
«Daran haben wir uns alle gewöhnen müssen», sagte er dann.
«Warum bleiben Sie in Paris, wenn Sie niemand hier kennen?» fragte Ravic. Er fühlte, daß er schläfrig wurde.
«Ich weiß nicht. Wohin soll ich sonst gehen?»
«Haben Sie nichts, wohin Sie zurückgehen können?»
«Nein. Man kann auch nirgendwohin zurückgehen.»
«Weshalb sind Sie nach Paris gekommen?» fragte Ravic.
Joan Madou antwortete nicht. Er glaubte schon, sie sei eingeschlafen. «Raczinsky und ich kamen nach Paris, weil wir uns trennen wollten», sagte sie dann. Ravic hörte es, ohne überrascht zu sein.
«Warum waren Sie dann so verzweifelt?» fragte Ravic.
«Weil er tot war! Tot! Plötzlich nicht mehr da!» Weil er dich allein gelassen hat, bevor du dafür bereit warst.
Ravic wollte schlafen. Morgen mußte er operieren. Dies alles ging ihn nichts mehr an. Er stellte das leere Glas auf den Boden neben die Flasche.
6
Lucienne Martinet saß am Fenster, als Ravic hereinkam. «Wie ist das» fragte er, «so zum erstenmal aus dem Bett zu sein?»
Das Mädchen sah ihn an und dann hinaus in den grauen Nachmittag und wieder zurück zu ihm. «Kein gutes Wetter heute», sagte er.
«Doch», erwiderte sie. «Für mich schon.»
«Warum?»
«Weil ich nicht raus muß.»
Sie saß in ihrem Sessel, einen billigen baumwollenen Kimono um die Schultern gezogen, ein schmales, unansehnliches Wesen mit schlechten Zähnen aber für Ravic war sie im Augenblick schöner als Trojas Helena. Sie war ein Stück Leben, das er mit seinen Händen gerettet hatte. Es war nichts, um besonders stolz zu sein; eine hatte er kurz vorher verloren. Die nächste verlor er vielleicht wieder; und am Ende verlor man sie alle und sich selbst auch. Aber diese hier war für den Augenblick gerettet.
Sie blickte durch das Fenster. «Schade, daß es nicht mehr regnet. Gestern war es besser. Da regnete es in Strömen.» Ravic setzte sich ihr gegenüber auf die Fensterbank. Merkwürdig, dachte er. Man erwartet immer, Menschen müßten glücklich sein, wenn sie am Leben geblieben sind. Sie sind es fast nie. Diese hier ist es auch nicht. Ein kleines Wunder ist geschehen, und alles, was sie daran interessiert, ist, daß sie nicht durch den Regen gehen muß. «Wie sind Sie gerade hierher, in die Klinik, gekommen, Lucienne?» fragte er.
Sie sah ihn vorsichtig an. «Eine Bekannte hat es mir gesagt.»
«Was für eine Bekannte?»
Das Mädchen antwortete nicht sofort.
«Eine Bekannte, die auch hier war. Ich habe sie hierhergebracht, bis vor die Tür.»
«Wann war das?»
«Eine Woche bevor ich kam.»
«War es die, die während der Operation gestorben ist?»
«Ja.»
«Und trotzdem sind Sie hierhergekommen?»
«Ja», sagte Lucienne gleichgültig. «Warum nicht?»
Ravic sagte nicht, was er sagen wollte. Er sah das kleine kalte Gesicht an, das einmal weich gewesen war und das das Leben so rasch hart gemacht hatte. «Waren Sie vorher auch bei derselben Hebamme?» fragte er.
Lucienne antwortete nicht. «Oder bei demselben Arzt? Sie können es mir ruhig sagen. Ich weiß ja nicht, wer es ist.»
«Marie war zuerst da. Eine Woche früher. Zehn Tage früher.»
«Und Sie sind später hingegangen, trotzdem Sie wußten, was Marie passiert war?»
Lucienne hob die Schultern. «Was sollte ich machen? Ich mußte es riskieren. Ein Kind was sollte ich mit einem Kind?» Sie sah aus dem Fenster. «Wie lange muß ich noch hierbleiben, Doktor?»
«Ungefähr zwei Wochen.»
«Zwei Wochen noch?»
«Das ist nicht lange. Warum?»
«Es kostet und kostet»
«Vielleicht können wir es ein paar Tage früher machen.»
«Glauben Sie, daß ich es abzahlen kann? Ich habe nicht genug Geld. Es ist teuer, jeden Tag dreißig Frank.»
«Wer hat Ihnen denn das gesagt?»
«Die Schwester.»
«Welche? Eugenie, natürlich »
«Ja. Sie sagte, die Operation und die Verbände wären noch extra. Ist das sehr teuer?»
«Die Operation haben Sie schon bezahlt.»
«Die Schwester sagt, es wäre längst nicht genug gewesen.»
«Das weiß die Schwester nicht so genau, Lucienne. Da fragen Sie besser später Doktor Veber.»
«Ich möchte es gern bald wissen.»
«Warum?»
«Ich kann es mir dann besser einteilen, wie lange ich dafür arbeiten muß.» Lucienne blickte auf ihre Hände. Die Finger waren dünn. «Ich muß auch noch einen Monat Zimmermiete zahlen», sagte sie. «Als ich hierherkam, war es gerade der dreizehnte. Am fünfzehnten hätte ich kündigen müssen. Jetzt muß ich noch den Monat bezahlen. Für nichts.»
«Haben Sie nicht jemand, der Ihnen hilft ?»
Lucienne blickte auf. Ihr Gesicht war plötzlich zehn Jahre älter. «Das wissen Sie doch selbst, Doktor! Der war nur ärgerlich. Er hätte nicht gewußt, daß ich so dumm sei. Sonst hätte er nie mit mir angefangen.»
Ravic nickte. So etwas war nichts Neues. «Lucienne», sagte er, «wir können versuchen, von der Frau, die den Eingriff gemacht hat, etwas zu bekommen. Sie war schuld. Sie müssen uns nur ihren Namen geben.»
«Polizei? Nein, da iege ich selbst rein.»
«Ohne Polizei. Wir drohen nur.»
Sie lachte nur. «Von der kriegen Sie damit nichts. Die ist aus Eisen. Dreihundert Frank habe ich ihr bezahlen müssen. Und dafür » Sie strich ihren Kimono glatt. «Manche Menschen haben eben gar kein Glück», sagte sie .
«Doch», erwiderte Ravic. «Sie hatten eine Menge Glück.»
Er sah Eugenie im Operationssaal. Sie putzte Nickelsachen . Sie war so versunken in ihre Arbeit, daß sie ihn nicht kommen hörte.
«Eugenie», sagte er.
Sie fuhr herum. «Ach Sie! Müssen Sie einen dauernd erschrecken?»
«Ich glaube nicht, daß ich soviel Persönlichkeit habe. Aber Sie sollten die Patienten nicht erschrecken mit Ihren Geschichten über Honorare und Kosten.» «Die Hure hat natürlich sofort geklatscht.»
«Eugenie», sagte Ravic. «Es gibt mehr Huren unter Frauen, die nie mit einem Mann geschlafen haben, als unter denen, die eine schwierige Arbeit daraus machen. Ganz zu schweigen von den Verheirateten. Außerdem hat das Mädchen nicht geklatscht. Sie haben ihm nur den Tag verdorben, das ist alles.»
«Sie sollten heiraten, Eugenie», sagte er. «Einen Witwer mit Kindern. Oder den Besitzer eines Begräbnisinstituts.»
«Herr Ravic», sagte die Schwester. «Wollen Sie sich bitte nicht um meine Privatsachen kümmern? Ich muß mich sonst bei Herrn Doktor Veber beschweren.»
«Das tun Sie ohnehin den ganzen Tag.» Ravic sah mit Freude zwei rote Flecken auf ihren Wangenknochen erscheinen. «Warum können fromme Menschen so selten loyal sein, Eugenie? Den besten Charakter haben Zyniker; am unerträglichsten sind Idealisten. Gibt Ihnen das nicht zu denken?»
«Gottlob nein.»
«Das dachte ich mir. Ich gehe jetzt hinüber zu den Kindern der Sünde. Zum Osiris. Für den Fall, daß Doktor Veber etwas für mich hat.»
«Ich glaube kaum, daß Doktor Veber etwas für Sie haben wird.»
«Ich werde bis ungefähr fünf Uhr dort sein. Dann in meinem Hotel.»
«Schönes Hotel, die Judenbude.»
Ravic drehte sich um. «Eugenie, nicht alle Flüchtlinge sind Juden. Noch nicht einmal alle Juden sind Juden. Und manche sind es, von denen man es nicht glaubt. Ich kannte sogar mal einen jüdischen Neger. War ein furchtbar einsamer Mensch. Das einzige, was er liebte, war chinesisches Essen. So geht es in der Welt zu.»
Die Schwester antwortete nicht. Sie putzte eine Nickelplatte, die völlig blank war.
Ravic saß in dem Bistro an der Rue La Boissiere und starrte durch die verregneten Scheiben, als er den Mann draußen sah. Es war wie ein Schlag in den Magen. Im ersten Augenblick fühlte er nur den Schock, ohne zu realisieren, was es war aber gleich darauf stieß er den Tisch beiseite, sprang von seinem Stuhl auf und lief durch den vollen Raum der Tür zu.