«Du bist krank, Marthe», sagte er.
«Was?Das kann nicht stimmen.»
«Es stimmt.»
Sie sah ihn an. «Dieses Schwein! Ich habe ihm gleich nicht getraut! Student wäre er, sagte er, müsse es doch wissen, er wäre ja Medizinstudent!»
Ravic nickte. Die alte Sache ein Medizinstudent, der sich einen Tripper geholt und selbst behandelt hatte. Nach zwei Wochen hatte er sich für gesund gehalten, ohne eine Reaktion zu machen.
«Wie lange wird es dauern, Doktor?» «Sechs Wochen.» Ravic wußte, daß es länger dauern würde.
«Sechs Wochen?» Sechs Wochen kein Verdienst. Ins Hospital? «Muß ich ins Hospital? Sechs Wochen ohne Verdienst.»
Sie weinte. «
Komm, Marthe», sagte Rolande.
«Sie nehmen mich nicht wieder! Ich weiß es!»
«Dann muß ich auf die Straße. Und alles wegen diesem »
«Wir nehmen dich wieder. Die Kunden mögen dich.»
«Wirklich?»
«Natürlich. Und nun komm.» Marthe ging mit Rolande hinaus. Ravic sah ihr nach. Sie würde nicht wiederkommen. Madame war viel zu vorsichtig. Ihre nächste Etappe waren vielleicht noch die billigen Bordelle an der Rue Blondel. Dann die Straße. Dann Koks, Hospital, Blumen oder Zigarettenhandel.
Der Speisesaal des Hôtels International lag unter der Erde. Die Bewohner nannten ihn deshalb die Katakombe. Im Winter mußte er den ganzen Tag erleuchtet werden. Der Raum war gleichzeitig Rauchzimmer, Schreibzimmer, Halle, Versammlungsraum und die Rettung der Emigranten, die keine Papiere hatten sie konnten, wenn die Polizei kontrollierte, durch ihn zum Hof in eine Garage und von dort auf die gegenüberliegende Straße entkommen. Ravic saß mit dem Portier des Nachtklubs Scheherazade, Boris Morosow, in einer Ecke der Katakombe. Morosow lebte seit fünfzehn Jahren in Paris. Sie spielten Schach. Die Katakombe war leer, bis auf einen Tisch, an dem einige Leute saßen und tranken und laut redeten und alle paar Minuten einen Toast ausbrachten. Morosow sah sich ärgerlich um. «Kannst du mir erklären, Ravic, warum hier heute abend so laut ist? Warum gehen diese Emigranten nicht schlafen?» Ravic lachte. «Diese Emigranten da in der Ecke gehen mich nichts an. »
Sie spielten ungefähr eine Stunde. Dann sah Morosow auf. «Da kommt Charles», sagte er. «Er will scheinbar etw as von dir.»
Ravic sah auf. Der Bursche aus der Conciergenloge kam heran. Er hatte ein kleines Paket in der Hand. «Dies hier ist für Sie.» «Für mich?» Ravic betrachtete das Paket. Es war klein, in weißes Seidenpapier gewickelt und verschnürt. Eine Adresse stand nicht drauf. «Ich erwarte keine Pakete. Muß ein Irrtum sein. Wer hat es gebracht?» «Eine Frau eine Dame » «Es steht kein Name darauf. Hat sie gesagt, es sei für mich?» «Das nicht gerade. Sie hat gesagt, für den Arzt, der hier wohnt.» «Sie kam doch vor kurzem nachts mit Ihnen.» «Es kommen ab und zu Damen mit mir, Charles. Aber du solltest wissen, daß Privatsphäre die erste Tugend eines Hotelangestellten ist. »
«Mach das Paket auf, Ravic», sagte Morosow.
«Selbst wenn es nicht für dich ist. »
5
Der Wirt kannte Ravic gleich wieder. «Die Dame ist in ihrem Zimmer», sagte er.
«Können Sie ihr telefonieren, daß ich hier bin?»
«Das Zimmer hat kein Telefon. Sie können ruhig hinaufgehen.» «Welche Nummer ist es?»
«Siebenundzwanzig.»
«Ich habe den Namen nicht mehr im Kopf. Wie hieß sie doch?» Der Wirt zeigte kein Erstaunen. «Madou. Joan Madou», fügte er hinzu. «Glaube nicht, daß sie wirklich so heißt. Künstlername wahrscheinlich.»
«Wieso Künstlername?»
«Sie hat sich als Schauspielerin eingetragen. Klingt doch so, wie?»
«Das weiß ich nicht. Ich kannte einen Schauspieler, der nannte sich Gustav Schmidt. Er hieß in Wirklichkeit Alexander Marie Graf von Zambona. Gustav Schmidt war sein Künstlername. Klang gar nicht so, wie?»
Der Wirt gab sich nicht geschlagen. «Heutzutage passiert viel», erklärte er.
«Es passiert gar nicht einmal so viel. Wenn Sie Geschichte studieren, werden Sie nden, daß wir noch in verhältnismäßig ruhigen Zeiten leben.»
«Danke, mir genügts.»
«Mir auch. Aber man muß seinen Trost suchen, wo man kann. Nummer siebenundzwanzig, sagten Sie?»
«Ja, mein Herr.»
Ravic klopfte. Niemand antwortete. Er klopfte noch einmal und hörte eine undeutliche Stimme. Als er die Tür öffnete, sah er die Frau. Sie saß auf dem Bett. Sie war angezogen und trug das blaue Schneiderkostüm, in dem Ravic sie zum ersten Male gesehen hatte.
Er zog die Tür hinter sich zu. «Ich hoffe, ich störe Sie nicht», sagte er und verstand sofort, wie sinnlos das war. Was konnte die Frau schon stören? Da war nichts, was sie noch stören konnte.
Er legte seinen Hut auf einen Stuhl. «Konnten Sie alles erledigen?» fragte er.
«Ja. Es war nicht viel.»
«Keine Schwierigkeiten?»
«Nein.»
Ravic setzte sich in den einzigen Sessel des Zimmers.
«Wollten Sie fortgehen?» fragte er.
«Ja. Irgendwann. Später. Nirgendwohin nur so. Was soll man sonst tun?»
«Nichts. Es ist richtig; für ein paar Tage. Kennen Sie niemand in Paris?»
«Nein.»
«Niemand?»
Die Frau hob mit einer müden Bewegung den Kopf. «Niemand außer Ihnen, den Wirt, den Kellner und das Zimmermädchen.» Sie lächelte. «Das ist nicht viel, wie?»
«Nein. Kannte » Ravic suchte nach dem Namen des toten Mannes. Er hatte ihn vergessen.
«Nein», sagte die Frau. «Raczinsky hatte keine Bekannten hier, oder ich habe sie nie gesehen. Er wurde gleich krank, als wir hier ankamen.»
Ravic hatte nicht lange bleiben wollen. Jetzt, als er die Frau so dasitzen sah, änderte er seine Absicht. «Haben Sie schon zu Abend gegessen?»
«Nein. Ich bin auch nicht hungrig.»
«Haben Sie heute überhaupt schon etwas gegessen?»
«Ja. Heute mittag. Tagsüber ist das einfacher. Abends » Ravic blickte sich um. Das kleine, kahle Zimmer roch nach Trostlosigkeit und November. «Es wird Zeit, daß Sie hier herauskommen», sagte er. «Kommen Sie. Wir werden zusammen essen gehen.»
Er hatte erwartet, daß die Frau Protest machen würde. Aber sie stand gleich auf und griff nach ihrem Regenmantel.
«Das da ist nicht genug», sagte er. «Der Mantel ist viel zu dünn. Haben Sie keinen wärmeren? Es ist kalt draußen.»
«Es regnete vorhin » «Es regnet immer noch. Aber es ist kalt. Können Sie nicht etwas darunter anziehen. Einen anderen Mantel oder wenigstens einen Sweater?»
«Ich habe einen Sweater.»
Sie ging zu dem größeren Koffer. Ravic sah, daß sie fast nichts ausgepackt hatte. Sie holte einen schwarzen Sweater aus dem Koffer, zog die Jacke aus und streifte ihn über. Sie hatte gerade und schöne Schultern. Dann nahm sie die Mütze und zog die Jacke und den Mantel an. «Ist es so besser?»
«Viel besser.»
Sie gingen die Treppe hinunter. Der Wirt war nicht mehr da. Statt dessen saß der Concierge neben dem Schlüsselbrett. Er sortierte Briefe und roch nach Knoblauch.
«Haben Sie immer noch das Gefühl, daß Sie nichts essen können?» fragte Ravic draußen.
«Ich weiß es nicht. Nicht viel, glaube ich.» Ravic winkte ein Taxi heran. «Gut. Dann werden wir in die Belle Aurore fahren.»
Die «Belle Aurore» war nicht sehr besetzt. Es war schon zu spät dafür. Sie fanden einen Tisch in dem schmalen, oberen Raum mit der niedrigen Decke. Außer ihnen war nur noch ein Paar da, das am Fenster saß und Käse aß, und ein einzelner, dünner Mann, der einen Berg Austern vor sich hatte. Der Kellner kam und besah das Tischtuch kritisch. Dann entschloß er sich, es zu wechseln.
«Zwei Wodkas», bestellte Ravic. «Kalt.»
«Zwei Wodkas», bestellte Ravic. «Kalt.»
«Wir werden etwas trinken und Vorspeisen essen», sagte er zu der Frau. «Ich glaube, das ist das richtige für Sie. Dies ist ein Restaurant für Hors dœuvres. Es gibt kaum etwas anderes hier. Jedenfalls kommt man fast nie dazu, etwas anderes zu essen. » Der Kellner brachte den Wodka und holte einen Notizblock heraus. «Eine Karaffe Vin rosé», sagte Ravic. «Haben Sie Anjou?»
«Anjou, offen, rosé, sehr wohl, mein Herr.»
«Gut. Eine große Karaffe in Eis. Und die Vorspeisen.»
Der Kellner ging. Ravic hob sein Glas. «Wir wollen das hier einmal auf einen Schluck austrinken. Salute.»
«Salute», sagte Joan Madou und trank.
Die Vorspeisen wurden auf kleinen Wagen herbeigerollt. «Was möchten Sie?» Ravic sah die Frau an. «Ich glaube, das einfachste ist, ich stelle Ihnen etwas zusammen.»
Er häufte einen Teller voll und gab ihn ihr hinüber. «Es macht nichts, wenn Ihnen davon nichts schmeckt. Es kommen noch ein paar andere Wagen. Dies ist nur der Anfang.»
Er füllte sich selbst einen Teller und begann zu essen, ohne sich um sie weiter zu kümmern. Er spürte plötzlich, daß auch sie aß. Er schälte eine Langustine und hielt sie ihr hinüber. «Probieren Sie das einmal. Besser als Langusten. Und nun die Paté Maison. Und jetzt etwas von dem Wein. Leicht und kühl.»
«Sie machen sich viel Mühe mit mir», sagte die Frau.
«Ja, wie ein Oberkellner.» Ravic lachte.
«Nein. Aber Sie machen sich viel Mühe mit mir.»
«Ich esse nicht gern allein. Das ist alles. Genau wie Sie.»
«Ich bin kein guter Partner.»
«Doch», erwiderte Ravic. «Zum Essen schon. Zum Essen sind Sie ein erstklassiger Partner. Ich kann keine Menschen leiden, die zu viel und zu laut sprechen.»
«Hier kommt der nächste Vorratswagen. Wollen wir gleich heran, oder wollen Sie vorher eine Zigarette rauchen?»
«Lieber vorher eine Zigarette.»
«Gut. Ich habe heute andere bei mir als die mit dem schwarzen Tabak.»
Er gab ihr Feuer. Sie lehnte sich zurück und atmete tief den Rauch ein. Dann sah sie Ravic voll an. «Es ist gut, so zu sitzen», sagte sie, und es schien ihm einen Augenblick, als würde sie sofort in Tränen ausbrechen.
Sie tranken Kaffee im «Colysée». Der große Raum zu den Champs Elysées war überfüllt, aber sie bekamen einen Tisch unten in der Bar.
«Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie tun wollen?» fragte Ravic.
«Nein, noch nicht.»
«Hatten Sie irgendwas Bestimmtes vor, als Sie hierher kamen?»
«Nein, nichts Genaues.»
«Ich frage Sie nicht aus Neugier.»
«Das weiß ich. Sie meinen, ich solle etwas tun. Das will ich auch. Ich sage es mir selbst jeden Tag. Aber dann »
«Der Wirt sagte mir, Sie seien Schauspielerin. Ich habe ihn nicht danach gefragt. Er sagte es mir, als ich nach Ihrem Namen fragte.»
«Wußten Sie ihn nicht mehr?»
Ravic blickte auf. Sie sah ihn ruhig an. «Nein», sagte er. «Ich hatte den Zettel im Hotel gelassen und konnte mich nicht mehr erinnern.»
«Wissen Sie ihn jetzt?»
«Ja. Joan Madou.»
«Ich bin keine gute Schauspielerin», sagte die Frau. «Ich habe nur kleine Rollen gespielt. In der letzten Zeit nichts mehr. Ich spreche auch nicht gut genug Französisch dafür.»
«Was sprechen Sie denn?»
«Italienisch. Ich bin da aufgewachsen. Und etwas Englisch und Rumänisch. Mein Vater war Rumäne. Er ist tot. Meine Mutter Engländerin; sie lebt noch in Italien, ich weiß nicht, wo.»
Ravic hörte nur halb zu. Er langweilte sich und wußte nicht mehr recht, was er reden sollte. «Haben Sie außerdem noch etwas getan?» fragte er, um etwas zu fragen. «Außerhalb der kleinen Rollen, die Sie gespielt haben?»
«Das, was so dazugehört. Etwas singen und tanzen.»
Er blickte sie zweifelnd an. Sie sah nicht so aus. Sie war nicht attraktiv. Sie sah nicht einmal aus wie eine Schauspielerin.
«So etwas können Sie ja leichter hier versuchen», sagte er. «Dazu brauchen Sie nicht perfekt zu sprechen.»
«Nein. Aber ich muß erst etwas nden. Das ist schwer, wenn man niemand kennt.»
Morosow, dachte Ravic plötzlich. Die Scheherazade. Natürlich. Morosow mußte von solchen Sachen etwas wissen. «Können Sie Russisch?» fragte er.
«Etwas. Ein paar Lieder. Zigeunerlieder. Sie sind so ähnlich wie rumänische. Warum?»
«Ich kenne jemand, der von diesen Dingen etwas versteht. Vielleicht kann er Ihnen helfen. Ich werde Ihnen seine Adresse geben.»
«Ich fürchte, es hat nicht viel Zweck. Agenten sind überall gleich.»
«Der Mann, den ich meine, ist kein Agent. Er ist Portier in der Scheherazade. Das ist ein russischer Nachtklub in Montmartre.»
«Portier?» Joan Madou hob den Kopf. «Das ist etwas anderes. Portiers wissen mehr als Agenten. Das kann etwas sein. Kennen Sie ihn gut?»
«Ja.»
Ravic war überrascht. Sie hatte auf einmal ganz geschäfts mäßig gesprochen. Das geht ja schnell, dachte er. «Es ist ein Freund von mir. Er heißt Boris Morosow», sagte er. «Er ist seit zehn Jahren in der Scheherazade. Sie haben da immer eine ziemlich große Show. Die Nummern wechseln oft . Morosow ist mit dem Manager befreundet. Wenn in der Scheherazade nichts für Sie frei ist, weiß er sicher etwas anderes irgendwo. Wollen Sie es versuchen?»
«Ja. Wann?»
«Am besten so um neun Uhr abends. Dann ist noch nichts zu tun, und er hat Zeit für Sie. Ich werde ihm Bescheid sagen.» Ravic freute sich bereits auf das Gesicht Morosows. Er fühlte sich plötzlich besser. Die leichte Verantwortung, die er immer noch gespürt hatte, war verschwunden. Er hatte getan, was er konnte, und nun mußte sie weitersehen. «Sind Sie müde?» fragte er.
Joan Madou blickte ihm gerade in die Augen. «Ich bin nicht müde», sagte sie. «Aber ich weiß, daß es kein Vergnügen ist, mit mir hier zu sitzen. Sie haben Mitleid mit mir gehabt, und ich danke Ihnen dafür. Sie haben mich aus dem Zimmer genommen und mit mir gesprochen. Das war viel für mich, denn ich habe seit Tagen kaum mit jemand ein Wort gewechselt. Ich werde jetzt gehen. Sie haben mehr als genug für mich getan. All die Zeit schon. Was wäre sonst aus mir geworden!» Mein Gott, dachte Ravic, jetzt fängt sie auch noch damit an.
«Es war kein Mitleid», sagte Ravic.
«Was sonst?»
«Wir werden jetzt einen guten, alten Armagnac trinken», sagte Ravic. «Das ist die beste Antwort. Glauben Sie mir: Ich bin kein so besonderer Menschenfreund. Es gibt viele Abende, wo ich allein irgendwo herumsitze. Halten Sie das für besonders interessant?»
«Nein, aber ich bin ein schlechter Partner, und das ist schlimmer.»
«Ich habe verlernt, nach Partnern zu suchen. Hier ist Ihr Armagnac. Salute!»
«Salute!» Ravic setzte sein Glas nieder. «So, und jetzt werden wir aus dieser Menagerie hier verschwinden. Sie möchten doch noch nicht ins Hotel zurück?»
Joan Madou schüttelte den Kopf.
«Gut. Dann werden wir weitergehen. Und zwar zur Scheherazade. Wir werden da trinken. Das haben wir beide scheinbar nötig, und Sie können dann gleich ansehen, was dort los ist.»
Es war gegen drei Uhr nachts.
Sie standen vor dem Hotel Milan. «Haben Sie genug getrunken?» fragte Ravic.
Joan Madou antwortete nicht sofort. «Ich dachte, es wäre genug in der Scheherazade. Aber jetzt verstehe ich, es war nicht genug.Vielleicht gibt es hier im Hotel noch etwas. Sonst gehen wir in eine Kneipe und kaufen eine Flasche. Kommen Sie.»
Sie sah ihn an. Dann sah sie die Tür an. «Gut», sagte sie. Doch sie blieb stehen. «Da hinaufgehen», sagte sie. «In das leere Zimmer »
«Ich werde Sie hinauf-bringen. Und wir werden eine Flasche mitnehmen.»