Seine Frau denkt sicher jetzt an ihn; sie weiß nicht, was geschehen ist. Er sieht aus, als wenn er ihr oft geschrieben hätte; sie wird auch noch Post von ihm bekommen morgen, in einer Woche , vielleicht einen verirrten Brief noch in einem Monat. Sie wird ihn lesen, und er wird darin zu ihr sprechen.
Mein Zustand wird immer schlimmer, ich kann meine Gedanken nicht mehr halten. Wie mag die Frau aussehen? Wie die Dunkle, Schmale jenseits des Kanals? Gehört sie mir nicht? Vielleicht gehört sie mir jetzt hierdurch! Säße Kantorek doch hier neben mir! Wenn meine Mutter mich so sähe . Der Tote hätte sicher noch dreißig Jahre leben können, wenn ich mir den Rückweg schärfer eingeprägt hätte. Wenn er zwei Meter weiter nach links gelaufen wäre, läge er jetzt drüben im Graben und schriebe einen neuen Brief an seine Frau.
Doch so komme ich nicht weiter; denn das ist das Schicksal von uns allen; hätte Kemmerich sein Bein zehn Zentimeter weiter rechts gehalten, hätte Haie sich fünf Zentimeter weiter vorgebeugt
* * *Das Schweigen dehnt sich. Ich spreche und muss sprechen. So rede ich ihn an und sage es ihm. »Kamerad, ich wollte dich nicht töten. Sprängst du noch einmal hier hinein, ich täte es nicht, wenn auch du vernünftig wärest. Aber du warst mir vorher nur ein Gedanke, eine Kombination, die in meinem Gehirn lebte und einen Entschluss hervorrief diese Kombination habe ich erstochen. Jetzt sehe ich erst, dass du ein Mensch bist wie ich. Ich habe gedacht an deine Hand-granaten, an dein Bajonett und deine Waffen jetzt sehe ich deine Frau und dein Gesicht und das Gemeinsame. Vergib mir, Kamerad! Wir sehen es immer zu spät. Warum sagt man uns nicht immer wieder, dass ihr ebenso arme Hunde seid wie wir, dass eure Mütter sich ebenso ängstigen wie unsere und dass wir die gleiche Furcht vor dem Tode haben und das gleiche Sterben und den gleichen Schmerz . Vergib mir, Kamerad, wie konntest du mein Feind sein. Wenn wir diese Waffen und diese Uniform fortwerfen, könntest du ebenso mein Bruder sein wie Kat und Albert. Nimm zwanzig Jahre von mir, Kamerad, und stehe auf nimm mehr, denn ich weiß nicht, was ich damit beginnen soll.«
Es ist still, die Front ist ruhig bis auf das Gewehrgeknatter. Die Kugeln liegen dicht, es wird nicht planlos geschossen, sondern auf allen Seiten scharf gezielt. Ich kann nicht hinaus.
»Ich will deiner Frau schreiben«, sage ich hastig zu dem Toten, »ich will ihr schreiben, sie soll es durch mich erfahren, ich will ihr alles sagen, was ich dir sage, sie soll nicht leiden, ich will ihr helfen und deinen Eltern auch und deinem Kinde «
Seine Uniform steht noch halb offen. Die Brieftasche ist leicht zu finden. Aber ich zögere, sie zu öffnen. In ihr ist das Buch mit seinem Namen. Solange ich seinen Namen nicht weiß, kann ich ihn vielleicht noch vergessen, die Zeit wird es tilgen*, dieses Bild. Sein Name aber ist ein Nagel, der in mir eingeschlagen wird und nie mehr herauszubringen ist. Er hat die Kraft, alles immer wieder zurückzurufen, er wird stets wiederkommen und vor mich hintreten können.
Ohne Entschluss halte ich die Brieftasche in der Hand. Sie entfällt mir und öffnet sich. Einige Bilder und Briefe fallen heraus. Ich sammle sie auf und will sie wieder hineinpacken, aber der Druck, unter dem ich stehe, die ganze Ungewisse Lage, der Hunger, die Gefahr, diese Stunden mit dem Toten haben mich verzweifelt gemacht, ich will die Auflösung beschleunigen und die Quälerei verstärken und enden, wie man eine unerträglich schmerzende Hand gegen einen Baum schmettert, ganz gleich, was wird.
Es sind Bilder einer Frau und eines kleinen Mädchens, schmale Amateurfotografien* vor einer Efeuwand. Neben ihnen stecken Briefe. Ich nehme sie heraus und versuche sie zu lesen. Das meiste verstehe ich nicht, es ist schlecht zu entziffern, und ich kann nur wenig Französisch. Aber jedes Wort, das ich übersetze, dringt mir wie ein Schuss in die Brust wie ein Stich in die Brust
Mein Kopf ist völlig überreizt. Aber so viel begreife ich noch, dass ich diesen Leuten nie schreiben darf, wie ich es dachte vorhin. Unmöglich. Ich sehe die Bilder noch einmal an; es sind keine reichen Leute. Ich könnte ihnen ohne Namen Geld schicken, wenn ich später etwas verdiene. Daran klammere ich mich, das ist ein kleiner Halt wenigstens. Dieser Tote ist mit meinem Leben verbunden, deshalb muss ich alles tun und versprechen, um mich zu retten; ich gelobe* blindlings, dass ich nur für ihn dasein will und seine Familie, mit nassen Lippen rede ich auf ihn ein, und ganz tief in mir sitzt dabei die Hoffnung, dass ich mich dadurch freikaufe und vielleicht hier doch noch herauskomme, eine kleine Hinterlist, dass man nachher immer noch erst einmal sehen könne. Und deshalb schlage ich das Buch auf und lese langsam: Gerard Duval, Typograph.
Ich schreibe die Adresse mit dem Bleistift des Toten auf einen Briefumschlag und schiebe dann plötzlich rasch alles in seinen Rock zurück.
Ich habe den Buchdrucker Gerard Duval getötet. Ich muss Buchdrucker werden, denke ich ganz verwirrt, Buchdrucker werden, Buchdrucker
* * *Nachmittags bin ich ruhiger. Meine Furcht war unbegründet. Der Name verwirrt mich nicht mehr. Der Anfall vergeht. »Kamerad«, sage ich zu dem Toten hinüber, aber ich sage es gefasst. »Heute du, morgen ich. Aber wenn ich davonkomme, Kamerad, will ich kämpfen gegen dieses, das uns beide zerschlug: dir das Leben und mir ? Auch das Leben. Ich verspreche es dir, Kamerad. Es darf nie wieder geschehen.«
Die Sonne steht schräg. Ich bin dumpf vor Erschöpfung und Hunger. Das Gestern ist mir wie ein Nebel, ich hoffe nicht, hier noch hinauszugelangen. So döse ich dahin und begreife nicht einmal, dass es Abend wird. Die Dämmerung kommt. Es scheint mir rasch jetzt. Noch eine Stunde. Wäre es Sommer, noch drei Stunden. Noch eine Stunde.
Nun beginne ich plötzlich zu zittern, dass etwas dazwischenkäme. Ich denke nicht mehr an den Toten, er ist mir jetzt völlig gleichgültig. Mit einem Schlage springt die Lebensgier auf, und alles, was ich mir vorgenommen habe, versinkt davor. Nur um jetzt nicht noch Unglück zu haben, plappere ich mechanisch: »Ich werde alles halten, was ich dir versprochen habe «, aber ich weiß schon jetzt, dass ich es nicht tun werde.
Plötzlich fällt mir ein, dass meine eigenen Kameraden auf mich schießen können, wenn ich ankrieche; sie wissen es ja nicht. Ich werde rufen, so früh es geht, damit sie mich verstehen. So lange will ich vor dem Graben liegenbleiben, bis sie mir antworten.
Der erste Stern. Die Front bleibt ruhig. Ich atme auf und spreche vor Aufregung mit mir selbst: »Jetzt keine Dummheit, Paul Ruhe, Ruhe, Paul , dann bist du gerettet, Paul.« Es wirkt, wenn ich meinen Vornamen sage, das ist, als täte es ein anderer, und hat so mehr Gewalt.
Die Dunkelheit wächst. Meine Aufregung legt sich, ich warte aus Vorsicht, bis die ersten Raketen steigen. Dann krieche ich aus dem Trichter. Den Toten habe ich vergessen. Vor mir liegt die beginnende Nacht und das bleich beleuchtete Feld. Ich fasse ein Loch ins Auge; im Moment, wo das Licht erlischt, schnelle ich hinüber, taste weiter, erwische das nächste, ducke mich, husche weiter.
Ich komme näher. Da sehe ich bei einer Rakete, wie im Draht sich etwas eben noch bewegt, ehe es erstarrt, und liege still. Beim nächstenmal sehe ich es wieder, es sind bestimmt Kameraden aus unserm Graben. Aber ich bin vorsichtig, bis ich unsere Helme erkenne. Dann rufe ich.
Gleich darauf erschallt als Antwort mein Name: »Paul Paul «
Ich rufe wieder. Es sind Kat und Albert, die mit einer Zeltbahn losgegangen sind, um mich zu suchen.
»Bist du verwundet?«
»Nein, nein «
Wir rutschen in den Graben. Ich verlange Essen und schlinge es hinunter. Müller gibt mir eine Zigarette. Ich sage mit wenigen Worten, was geschehen ist. Es ist ja nichts Neues; so was ist schon oft passiert. Nur der Nachtangriff ist das Besondere bei der Sache. Aber Kat hat in Russland schon einmal zwei Tage hinter der russischen Front gelegen, ehe er sich durchschlagen konnte.
Gleich darauf erschallt als Antwort mein Name: »Paul Paul «
Ich rufe wieder. Es sind Kat und Albert, die mit einer Zeltbahn losgegangen sind, um mich zu suchen.
»Bist du verwundet?«
»Nein, nein «
Wir rutschen in den Graben. Ich verlange Essen und schlinge es hinunter. Müller gibt mir eine Zigarette. Ich sage mit wenigen Worten, was geschehen ist. Es ist ja nichts Neues; so was ist schon oft passiert. Nur der Nachtangriff ist das Besondere bei der Sache. Aber Kat hat in Russland schon einmal zwei Tage hinter der russischen Front gelegen, ehe er sich durchschlagen konnte.
Von dem toten Buchdrucker sage ich nichts.
Erst am nächsten Morgen halte ich es nicht mehr aus. Ich muss es Kat und Albert erzählen. Sie beruhigen mich beide.
»Du kannst gar nichts daran machen. Was wolltest du anders tun. Dazu bist du doch hier!«
Ich höre ihnen geborgen zu, getröstet durch ihre Nähe. Was habe ich nur für einen Unsinn zusammengefaselt da in dem Trichter.
»Sieh mal dahin«, zeigt Kat.
An den Brustwehren stehen einige Scharfschützen. Sie haben Gewehre mit Zielfernrohren aufliegen und lauern den Abschnitt drüben ab. Hin und wieder knallt ein Schuss. Jetzt hören wir Ausrufe. »Das hat gesessen?« »Hast du gesehen, wie er hochsprang?« Sergeant Oellrich wendet sich stolz um und notiert seinen Punkt. Er führt in der Schussliste von heute mit dreieinwandfrei festgestellten Treffern.
»Was sagst du dazu?« fragt Kat.
Ich nicke.
»Wenn er so weitermacht, hat er heute abend ein buntes Vögelchen* mehr im Knopfloch«, meint Kropp.
»Oder er wird bald Vizefeldwebel«, ergänzt Kat.
Wir sehen uns an. »Ich würde es nicht machen«, sage ich.
»Immerhin«, sagt Kat, »es ist ganz gut, dass du es jetzt gerade siehst.«
Sergeant Oellrich tritt wieder an die Brustwehr. Die Mündung seines Gewehrs geht hin und her.
»Da brauchst du über deine Sache kein Wort mehr zu verlieren«, nickt Albert.
Ich begreife mich jetzt auch selbst nicht mehr.
»Es war nur, weil ich so lange mit ihm zusammen liegen musste«, sage ich. Krieg ist Krieg schließlich.
Oellrichs Gewehr knallt kurz und trocken.
Aufgaben zum Text
1. Warum ist Paul Regiment zur fliegenden Division geworden?
2. Wohin werden sie geschickt?
3. Warum zweifeln die Freunde daran, dass es in Russland keinen Krieg gibt?
4. Beschreiben Sie den Besuch des Kaisers.
5. Wie verhält sich der Autor des Romans zum Krieg? Denken Sie an das Gespräch der Freunde.
6. Was macht Paul in der Mulde? Wie verstehen Sie seine Worte: Ich kämpfe einen sinnlosen, wirren Kampf? Was hilft ihm, diesen Kampf zu gewinnen?
7. Warum muss Paul den Toten markieren?
8. Wie und warum versucht er dem Sterbenden zu helfen? Nur deswegen, weil er sich fürchtet, von den Franzosen erschossen zu werden?
Texterläuterungen
brenzlig gefährlich
kampieren für kurze Zeit meist in einem Zelt im Freien wohnen
Montur, die Uniform, Dienstkleidung
etwas sickert etwas wird langsam bekannt
Darauf kannst du Gift nehmen! darauf kannst du dich verlassen, das ist ganz bestimmt so
Kram, der (alte) Sachen ohne Wert, die man nicht mehr braucht
Brocken, die Sachen
Patrouille, die 1) das Patrouillieren; Kontrollgang; 2) eine Gruppe von Soldaten oder Polizisten, die patrouilliert
Valenciennes eine Stadt im französischen Departament Nord
Mündung, die die vordere Öffnung an einer Schusswaffe
markieren so tun, als ob etwas der Fall wäre; vortäuschen
Starkstrom, der in hohem Maß (vorhanden); intensiv
röcheln ein lautes Geräusch machen, weil man Schwierigkeiten beim Atmen hat
Scharfschütze, der jemand, der (beim Schießen) ein Ziel auch aus großer Entfernung trifft
Antlitz, das Gesicht
tilgen jemanden / etwas aus seinem Gedächtnis bewusst versuchen, jemanden / etwas zu vergessen
Amateur, der jemand, der eine Tätigkeit nicht als Beruf, sondern nur als Hobby betreibt
geloben (jemandem) etwas feierlich (in einer Zeremonie) versprechen; schwören
ein buntes Vögelchen der Orden
10
Wir haben einen guten Posten erwischt. Mit acht Mann müssen wir ein Dorf bewachen, das geräumt worden ist, weil es zu stark beschossen wird.
Hauptsächlich sollen wir auf das Proviantamt achten, das noch nicht leer ist. Verpflegung müssen wir uns aus den Beständen selbst besorgen. Dafür sind wir die richtigen Leute Kat, Albert, Müller, Tjaden, Leer, Detering, unsere ganze Gruppe ist da. Allerdings, Haie ist tot. Aber das ist noch ein mächtiges Glück, denn alle anderen Gruppen haben mehr Verluste als unsere gehabt.
Als Unterstand wählen wir einen betonierten Keller, zu dem von außen eine Treppe hinunterführt. Der Eingang ist noch durch eine besondere Betonmauer geschützt.
Jetzt entfalten wir eine große Tätigkeit. Es ist wieder eine Gelegenheit, nicht nur die Beine, sondern auch die Seele zu strecken. Und solche Gelegenheiten nehmen wir wahr; denn unsere Lage ist zu verzweifelt, um lange sentimental sein zu können. Das ist nur möglich, solange es noch nicht ganz schlimm ist. Uns jedoch bleibt nichts anderes, als sachlich zu sein. So sachlich, dass mir manchmal graut, wenn einen Augenblick ein Gedanke aus der früheren Zeit, vor dem Kriege, sich in meinen Kopf verirrt. Er bleibt auch nicht lange.
Wir müssen unsere Lage so leicht nehmen wie möglich. Deshalb nützen wir jede Gelegenheit dazu, und unmittelbar, hart, ohne Übergang steht neben dem Grauen der Blödsinn. Wir können gar nicht anders, wir stürzen uns hinein. Auch jetzt geht es mit Feuereifer daran, ein Idyll zu schaffen, ein Idyll des Fressens und Schlafens natürlich. Die Bude wird zunächst einmal mit Matratzen belegt, die wir aus den Häusern heranschleppen. Ein Soldatenhintern sitzt gern auch mal weich. Nur in der Mitte des Raumes bleibt der Boden frei. Dann besorgen wir uns Decken und Federbetten, prachtvolle weiche Dinger. Von allem ist im Dorf ja genügend vorhanden. Albert und ich finden ein zerlegbares Mahagonibett mit einem Himmel* aus blauer Seide und Spitzenüberwurf. Wir schwitzen wie die Affen beim Transport, aber so was kann man sich doch nicht entgehen lassen, zumal es in ein paar Tagen doch sicher zerschossen wird.
Kat und ich machen einen kleinen Patrouillengang durch die Häuser. Nach kurzer Zeit haben wir ein Dutzend Eier und zwei Pfund ziemlich frische Butter gefasst. Plötzlich kracht es in einem Salon, und ein eiserner Ofen saust durch die Wand, an uns vorbei, einen Meter neben uns wieder durch die Wand. Zwei Löcher. Er kommt aus dem Hause gegenüber, in das eine Granate gehauen ist. »Schwein gehabt«, grinst Kat, und wir suchen weiter. Mit einem Male spitzen wir die Ohren und machen lange Beine. Gleich darauf stehen wir wie verzaubert: In einem kleinen Stall tummeln sich zwei lebende Ferkel. Wir reiben uns die Augen und sehen vorsichtig wieder hin: sie sind tatsächlich noch immer da. Wir fassen sie an kein Zweifel, es sind zwei wirkliche junge Schweine.
Das gibt ein herrliches Essen. Etwa fünfzig Schritt von unserm Unterstand entfernt steht ein kleines Haus, das als Offiziersquartier gedient hat. In der Küche befindet sich ein riesiger Herd mit zwei Feuerrosten, Pfannen, Töpfen und Kesseln. Alles ist da, sogar eine Unmenge kleingehacktes Holz steckt in einem Schuppen das wahre Schlaraffenhaus*.