Keinen Moment zu früh. Das Dunkel wird wahnsinnig. Es wogt und tobt. Schwärzere Dunkelheiten als die Nacht rasen mit Riesenbuckeln* auf uns los, über uns hinweg. Das Feuer der Explosionen überflackert den Friedhof. Nirgendwo ist ein Ausweg. Ich wage im Aufblitzen der Granaten einen Blick auf die Wiesen. Sie sind ein aufgewühltes Meer, die Stichflammen der Geschosse springen wie Fontänen heraus. Es ist ausgeschlossen, dass jemand darüber hinwegkommt.
Der Wald verschwindet, er wird zerstampft, zerfetzt, zerrissen. Wir müssen hier auf dem Friedhof bleiben.
Vor uns birst die Erde. Es regnet Schollen*. Ich spüre einen Ruck. Mein Ärmel ist aufgerissen durch einen Splitter. Ich balle die Faust. Keine Schmerzen. Doch das beruhigt mich nicht, Verletzungen schmerzen stets erst später. Ich fahre über den Arm. Er ist angekratzt, aber heil. Da knallt es gegen meinen Schädel, dass mir das Bewusstsein verschwimmt. Ich habe den blitzartigen Gedanken: Nicht ohnmächtig werden!, versinke in schwarzem Brei und komme sofort wieder hoch. Ein Splitter ist gegen meinen Helm gehauen, er kam so weit her, dass er nicht durchschlug. Ich wische mir den Dreck aus den Augen. Vor mir ist ein Loch aufgerissen, ich erkenne es undeutlich. Granaten treffen nicht leicht in denselben Trichter, deshalb will ich hinein. Mit einem Satze* schnelle ich mich lang vor, flach wie ein Fisch über den Boden, da pfeift es wieder, rasch krieche ich zusammen, greife nach der Deckung, fühle links etwas, presse mich daneben, es gibt nach, ich stöhne, die Erde zerreißt, der Luftdruck donnert in meinen Ohren, ich krieche unter das Nachgebende, decke es über mich, es ist Holz, Tuch, Deckung, Deckung, armselige Deckung vor herabschlagenden Splittern.
Ich öffne die Augen, meine Finger halten einen Ärmel umklammert, einen Arm. Ein Verwundeter? Ich schreie ihm zu, keine Antwort ein Toter. Meine Hand fasst weiter, in Holzsplitter, da weiß ich wieder, dass wir auf dem Friedhof liegen.
Aber das Feuer ist stärker als alles andere. Es vernichtet die Besinnung, ich krieche nur noch tiefer unter den Sarg, er soll mich schützen, und wenn der Tod selber in ihm liegt.
Vor mir klafft der Trichter. Ich fasse ihn mit den Augen wie mit Fäusten, ich muss mit einem Satz hinein. Da erhalte ich einen Schlag ins Gesicht, eine Hand klammert sich um meine Schulter ist der Tote wieder erwacht? Die Hand schüttelt mich, ich wende den Kopf, in sekundenkurzem Licht starre ich in das Gesicht Katczinskys, er hat den Mund weit offen und brüllt, ich höre nichts, er rüttelt mich, nähert sich; in einem Moment des Abschwellens erreicht mich seine Stimme: »Gas Gaaas Gaaas! Weitersagen!«
Ich reiße die Gaskapsel heran. Etwas entfernt von mir liegt jemand. Ich denke an nichts mehr als an dies: Der dort muss es wissen: »Gaaas Gaaas !«
Ich rufe, schiebe mich heran, schlage mit der Kapsel nach ihm, er merkt nichts noch einmal, noch einmal er duckt sich nur es ist ein Rekrut ich sehe verzweifelt nach Kat, er hat die Maske vor ich reiße meine auch heraus, der Helm fliegt beiseite, sie streift sich über mein Gesicht, ich erreiche den Mann, am nächsten liegt mir seine Kapsel, ich fasse die Maske, schiebe sie über seinen Kopf, er greift zu ich lasse los und liege plötzlich mit einem Ruck im Trichter.
Der dumpfe Knall der Gasgranaten mischt sich in das Krachen der Explosivgeschosse. Eine Glocke dröhnt zwischen die Explosionen, Gongs, Metallklappern künden überallhin Gas Gas Gaas
Hinter mir plumpst es, einmal, zweimal. Ich wische die Augenscheiben meiner Maske vom Atemdunst sauber. Es sind Kat, Kropp und noch jemand. Wir liegen zu viert in schwerer, lauernder Anspannung und atmen so schwach wie möglich.
Die ersten Minuten mit der Maske entscheiden über Leben und Tod: ist sie dicht? Ich kenne die furchtbaren Bilder aus dem Lazarett: Gaskranke, die in tagelangem Würgen* die verbrannten Lungen stückweise auskotzen.
Vorsichtig, den Mund auf die Patrone gedrückt, atme ich. Jetzt schleicht der Schwaden* über den Boden und sinkt in alle Vertiefungen. Wie ein weiches, breites Quallentier legt er sich in unseren Trichter, räkelt sich hinein. Ich stoße Kat an: es ist besser herauszukriechen und oben zu liegen, als hier, wo das Gas sich am meisten sammelt. Doch wir kommen nicht dazu, ein zweiter Feuerhagel beginnt. Es ist, als ob nicht mehr die Geschosse brüllen; es ist, als ob die Erde selbst tobt.
Mit einem Krach saust etwas Schwarzes zu uns herab. Hart neben uns schlägt es ein, ein hochgeschleuderter Sarg.
Ich sehe Kat sich bewegen und krieche hinüber. Der Sarg ist dem vierten in unserem Loch auf den ausgestreckten Arm geschlagen. Der Mann versucht, mit der andern Hand die Gasmaske abzureißen. Kropp greift rechtzeitig zu, biegt ihm die Hand hart auf den Rücken und hält sie fest.
Kat und ich gehen daran, den verwundeten Arm frei zu machen. Der Sargdeckel ist lose und geborsten, wir können ihn leicht abreißen, den Toten werfen wir hinaus, er sackt nach unten, dann versuchen wir, den unteren Teil zu lockern.
Zum Glück wird der Mann bewusstlos, und Albert kann uns helfen. Wir brauchen nun nicht mehr so behutsam zu sein und arbeiten, was wir können, bis der Sarg mit einem Seufzer nachgibt unter dem daruntergesteckten Spaten.
Es ist heller geworden. Kat nimmt ein Stück des Deckels, legt es unter den zerschmetterten Arm, und wir binden alle unsere Verbandspäckchen darum. Mehr können wir im Moment nicht tun.
Mein Kopf brummt und dröhnt in der Gasmaske, er ist nahe am Platzen. Die Lungen sind angestrengt, sie haben nur immer wieder denselben heißen, verbrauchten Atem, die Schläfenadern schwellen, man glaubt zu ersticken
Graues Licht sickert zu uns herein. Wind fegt über den Friedhof. Ich schiebe mich über den Rand des Trichters. In der schmutzigen Dämmerung liegt vor mir ein ausgerissenes Bein, der Stiefel ist vollkommen heil, ich sehe das alles ganz deutlich im Augenblick. Aber jetzt erhebt sich wenige Meter weiter jemand, ich putze die Fenster, sie beschlagen mir vor Aufregung sofort wieder, ich starre hinüber der Mann dort trägt keine Gasmaske mehr.
Noch Sekunden warte ich er bricht nicht zusammen, er blickt suchend umher und macht einige Schritte der Wind hat das Gas zerstreut, die Luft ist frei da zerre ich röchelnd ebenfalls die Maske weg und falle hin, wie kaltes Wasser strömt die Luft in mich hinein, die Augen wollen brechen, die Welle überschwemmt mich und löscht mich dunkel aus.
* * *Die Einschläge haben aufgehört. Ich drehe mich zum Trichter und winke den andern. Sie klettern herauf und reißen sich die Masken herunter. Wir umfassen den Verwundeten, einer nimmt seinen geschienten Arm. So stolpern wir hastig davon.
Der Friedhof ist ein Trümmerfeld. Särge und Leichen liegen verstreut. Sie sind noch einmal getötet worden; aber jeder von ihnen, der zerfetzt wurde, hat einen von uns gerettet.
Der Zaun ist verwüstet, die Schienen der Feldbahn drüben sind aufgerissen, sie starren hochgebogen in die Luft. Vor uns liegt jemand. Wir halten an, nur Kropp geht mit dem Verwundeten weiter.
Der am Boden ist ein Rekrut. Seine Hüfte ist blutverschmiert; er ist so erschöpft, dass ich nach meiner Feldflasche greife, in der ich Rum mit Tee habe. Kat hält meine Hand zurück und beugt sich über ihn: »Wo hats dich erwischt, Kamerad?«
Er bewegt die Augen; er ist zu schwach zum Antworten.
Wir schneiden vorsichtig die Hose auf. Er stöhnt. »Ruhig, ruhig, es wird ja besser «
Wenn er einen Bauchschuss hat, darf er nichts trinken. Er hat nichts erbrochen, das ist günstig. Wir legen die Hüfte bloß. Sie ist ein einziger Fleischbrei mit Knochensplittern. Das Gelenk* ist getroffen. Dieser Junge wird nie mehr gehen können.
Ich wische ihm mit dem befeuchteten Finger über die Schläfe und gebe ihm einen Schluck. In seine Augen kommt Bewegung. Jetzt erst sehen wir, dass auch der rechte Arm blutet.
Kat zerfasert zwei Verbandspäckchen* so breit wie möglich, damit sie die Wunde decken. Ich suche nach Stoff, um ihn lose darüberzuwickeln. Wir haben nichts mehr, deshalb schlitze ich dem Verwundeten das Hosenbein weiter auf, um ein Stück seiner Unterhose als Binde zu verwenden. Aber er trägt keine. Ich sehe ihn genauer an: es ist der Flachskopf von vorhin.
Kat hat inzwischen aus den Taschen eines Toten noch Päckchen geholt, die wir vorsichtig an die Wunde schieben. Ich sage dem Jungen, der uns unverwandt ansieht: »Wir holen jetzt eine Bahre.«
Da öffnet er den Mund und flüstert: »Hierbleiben «
Kat sagt: »Wir kommen ja gleich wieder. Wir holen für dich eine Bahre.«
Man kann nicht erkennen, ob er verstanden hat; er wimmert wie ein Kind hinter uns her: »Nicht weggehen «
Kat sieht sich um und flüstert: »Sollte man da nicht einfach einen Revolver nehmen, damit es aufhört?«
Der Junge wird den Transport kaum überstehen, und höchstens kann es noch einige Tage mit ihm dauern. Alles bisher aber wird nichts sein gegen diese Zeit, bis er stirbt. Jetzt ist er noch betäubt und fühlt nichts. In einer Stunde wird er ein kreischendes Bündel unerträglicher Schmerzen werden. Die Tage, die er noch leben kann, bedeuten für ihn eine einzige rasende Qual. Und wem nützt es, ob er sie noch hat oder nicht
Ich nicke. »Ja, Kat, man sollte einen Revolver nehmen.«
»Gib her«, sagt er und bleibt stehen. Er ist entschlossen, ich sehe es. Wir blicken uns um, aber wir sind nicht mehr allein. Vor uns sammelt sich ein Häuflein, aus den Trichtern und Gräbern kommen Köpfe. Wir holen eine Bahre.
Kat schüttelt den Kopf. » So junge Kerle« Er wiederholt es: »So junge, unschuldige Kerle «
* * *Unsere Verluste sind geringer, als anzunehmen war: fünf Tote und acht Verwundete. Es war nur ein kurzer Feuerüberfall. Zwei von unseren Toten liegen in einem der aufgerissenen Gräber; wir brauchen sie bloß zuzubuddeln.
Wir gehen zurück. Schweigend trotten wir im Gänsemarsch hintereinander her. Die Verwundeten werden zur Sanitätsstation gebracht. Der Morgen ist trübe, die Krankenwärter laufen mit Nummern und Zetteln, die Verletzten wimmern. Es beginnt zu regnen.
Nach einer Stunde haben wir unsere Wagen erreicht und klettern hinauf. Jetzt ist mehr Platz als vorher da.
Der Regen wird stärker. Wir breiten Zeltbahnen aus und legen sie auf unsere Köpfe. Das Wasser trommelt darauf nieder. An den Seiten fließen die Regensträhnen* ab. Die Wagen platschen durch die Löcher, und wir wiegen uns im Halbschlaf hin und her.
Zwei Mann vorn im Wagen haben lange gegabelte Stücke bei sich. Sie achten auf die Telefondrähte, die quer über die Straße hängen, so tief, dass sie unsere Köpfe wegreißen können. Die beiden Leute fangen sie mit ihren gegabelten Stöcken auf und heben sie über uns hinweg. Wir hören ihren Ruf: »Achtung Draht«, und im Halbschlaf gehen wir in die Kniebeuge und richten uns wieder auf.
Monoton pendeln die Wagen, monoton sind die Rufe, monoton rinnt der Regen. Er rinnt auf unsere Köpfe und auf die Köpfe der Toten vorn, auf den Körper des kleinen Rekruten mit der Wunde, die viel zu groß für seine Hüfte ist, er rinnt auf das Grab Kemmerichs, er rinnt auf unsere Herzen.
Ein Einschlag hallt irgendwo. Wir zucken auf, die Augen sind gespannt, die Hände wieder bereit, um die Körper über die Wände des Wagens in den Straßengraben zu werfen.
Es kommt nichts weiter. Monoton nur die Rufe: »Achtung Draht« wir gehen in die Knie, wir sind wieder im Halbschlaf.
Aufgaben zum Text
1. Wie verstehen Sie folgende Aussage: Ein gebrochener Arm ist besser als ein Loch im Bauch? Warum wünschten sich manche eine solche Gelegenheit?
2. Beschreiben Sie die Front.
3. Warum vergleicht Paul die Front mit einem unheimlichen Strudel?
4. Beschreiben Sie den Weg von gutgelaunten Soldaten bis zu Menschentieren.
5. Sprechen Sie über Truppen, die auf der Straße ziehen. Warum unterscheidet man keine Gesichter?
6. In welchem Zusammenhang sagt Detering: Es ist die allergrößte Gemeinheit, dass Tiere im Krieg sind?
7. Wie wird der Feuerüberfall geschildert? Erzählen Sie diese Episode nach.
Texterläuterungen
Schanze, die ein Wall aus Erde, mit dem man eine militärische Anlage schützt
Munition, die Sprengstoffe (besonders Bomben und Minen) und Kugeln, Patronen für Waffen
Insasse, der 1) jemand, der in einem Fahrzeug sitzt; 2) jemand, der in einem Heim lebt oder im Gefängnis ist
Kattun, der ein sehr starkes Artelleriefeuer
Tommys Kurzform für Thomas, scherzhaft für englische Soldaten
rumoren dumpfe Geräusche machen
Strudel, der eine Stelle in einem Fluss, an der das Wasser eine kreisförmige Bewegung macht und nach unten gezogen wird
Mulde, die eine Stelle, an der eine (Ober)Fläche etwas nach unten geht; Senke, Vertiefung
Flandern historische Landschaft an der Nordseeküste
Vogesen Mittelgebiet am West-Rand des Oberrheinischen Tieflandes
Terrain, das ein Gebiet mit seinen topographischen Eigenschaften; Gelände
Schlamassel, der eine ärgerliche, schwierige Lage
Brunft, die die Zeit im Herbst, in der Rehe und Hirsche sich paaren
taumeln sich im Stehen von einer Seite zur anderen bewegen (und dabei fast umfallen); schwanken, torkeln
Flachskopf, der Mann mit blondem Haar
Volltreffer, der ein Schlag oder Schuss mitten ins Ziel
Tragbahre, die ein Gestell, auf dem man Kranke, Verletzte oder Tote (liegend) transportiert
Gedärme, das lange (schlauchförmige) Organe zwischen Magen und After, die zur Verdauung dient
Gemeinheit, die etwas, das Grund zu Ärger gibt
tappen sich langsam, vorsichtig und unsicher fortbewegen
Buckel, der eine leicht gewölbte Stelle auf einer ebenen Fläche
Scholle, die ein großes Stück Erde
Satz, der ein großer Sprung
würgen jemanden ersticken, indem man ihm die Kehle zusammendrückt
Schwaden, der eine ziemlich dichte Masse von Rauch, Nebel in der Luft
Gelenk, das eine bewegliche Verbindung zwischen Knochen
Verband, der ein Stück Stoff, das man um den verletzten Teil des Körpers legt
Strähne, die eine größere Menge langer und glatter Haare, die zusammen sind
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Es ist beschwerlich, die einzelne Laus* zu töten, wenn man Hunderte hat. Die Tiere sind etwas hart, und das ewige Knipsen mit den Fingernägeln wird langweilig. Tjaden hat deshalb den Deckel einer Schuhputzschachtel mit Draht über einem brennenden Kerzenstumpf befestigt. In diese kleine Pfanne werden die Läuse einfach hineingeworfen es knackt, und sie sind erledigt.
Wir sitzen rundherum, die Hemden auf den Knien, den Oberkörper nackt in der warmen Luft, die Hände bei der Arbeit. Haie hat eine besonders feine Art von Läusen: sie haben ein rotes Kreuz auf dem Kopf. Deshalb behauptet er, sie aus dem Lazarett in Thourhout* mitgebracht zu haben, sie seien von einem Oberstabsarzt persönlich. Er will auch das sich langsam in dem Blechdeckel ansammelnde Fett zum Stiefelschmieren benutzen und brüllte eine halbe Stunde lang vor Lachen über seinen Witz.