Sehr wohl. Verzeihen Sie, ich bin etwas schwerhörig. Und dann bin ich es nicht mehr gewohnt. Hier wird fast nur Kaffee verlangt.
Gut. Dann bringen Sie den Kognak in einer Kaffeetasse.
Der Kellner holte den Kognak und blieb am Tisch stehen. Was ist los? fragte Steiner. Wollen Sie zusehen, wie ich trinke?
Es muss vorher gezahlt werden. Das geht hier nicht anders. Wir würden sonst pleite[25] gehen.
Ach so, richtig!
Steiner zahlte. Das ist zuviel, sagte der Kellner.
Was zuviel ist, ist Ihr Trinkgeld.
Trinkgeld? Der Kellner schmeckte das Wort förmlich ab. Mein Gott, sagte er dann gerührt. Das ist das erste seit Jahren hier. Danke vielmals, mein Herr! Da fühlt man sich ja direkt wieder einmal als Mensch!
Ein paar Minuten später kam der Russe durch die Tür. Er sah Steiner sofort und setzte sich zu ihm.
Ich dachte schon, Sie wären nicht mehr in Wien, Tschernikoff.
Der Russe lachte. Bei uns ist das Wahrscheinliche immer unwahrscheinlich. Ich habe alles herausbekommen, was Sie wissen wollen.
Steiner trank seinen Kognak aus. Gibt es Papiere?
Ja. Sehr gute sogar. Das Beste, was ich an Fälschungen seit langem gesehen habe.
Ich muss raus! sagte Steiner. Ich muss Papiere haben! Lieber mit einem falschen Pass Zuchthaus riskieren als diese tägliche Sorge und Einsperrerei. Was haben Sie gesehen?
Ich war in der Hellebarde. Da verkehren die Leute jetzt. Es sind dieselben wie vor sieben Jahren. Sie sind in ihrer Art zuverlässig. Das billigste Papier kostet allerdings vierhundert Schilling.
Was gibt es dafür?
Den Pass eines toten Österreichers. Noch ein Jahr gültig.
Ein Jahr. Und dann?
Tschernikoff sah Steiner an. Im Ausland vielleicht verlängerbar. Oder von einer geschickten Hand im Datum zu ändern. Steiner nickte.
Es gibt noch zwei Pässe von gestorbenen deutschen Flüchtlingen. Die kosten aber achthundert Schilling jeder. Völlig falsche sind nicht unter fünfzehnhundert zu haben. Die würde ich Ihnen auch nicht empfehlen.
Tschernikoff klopfte seine Zigarette ab. Vom Völkerbund ist für Sie ja vorläufig auf nichts zu hoffen. Für illegal ohne Pass Eingereiste schon gar nicht. Nansen ist tot, der uns unsere Pässe durchgesetzt hat.
Vierhundert Schilling, sagte Steiner. Ich habe fünfundzwanzig.
Man wird handeln können. Auf dreihundertfünfzig, schätze ich.
Das ist gegen fünfundzwanzig dasselbe. Aber es hilft nichts; ich muss sehen, dass ich das Geld bekomme. Wo ist die Hellebarde?
Der Russe zog einen Zettel aus der Tasche. Hier ist die Adresse. Auch der Name des Kellners, der die Sache vermittelt. Er ruft die Leute an, wenn Sie ihm Bescheid sagen. Er bekommt fünf Schilling dafür.
Gut. Ich will sehen, wie ich es mache. Steiner steckte den Zettel sorgfältig weg. Herzlichen Dank für Ihre Mühe, Tschernikoff!
Aber ich bitte Sie! Der Russe hob abwehrend die Hand. Man hilft sich doch, wenn es möglich ist. Man kann ja jeden Tag in dieselbe Lage kommen.
Ja. Steiner stand auf. Ich suche mal wieder nach Ihnen hier und sage Ihnen Bescheid.
Gut. Ich bin oft um diese Zeit hier. Spiele Schach mit dem süddeutschen Meister. Drüben der Mann mit den Locken. Hätte nie gedacht, das Glück mit einer solchen Autorität in normalen Zeiten zu haben. Tschernikoff lächelte. Schach ist eine Leidenschaft von mir
Steiner nickte ihm zu. Dann stieg er über ein paar schlafende junge Leute weg, die mit offenen Mündern an der Wand lagen, und ging zur Tür. Am Tisch des Landgerichtsrats Epstein saß eine gedunsene Jüdin. Sie hielt die Hände gefaltet und starrte Epstein, der salbungsvoll dozierte, an wie einen unzuverlässigen Gott. Vor ihr auf dem Tisch lagen fünfzig Groschen. Epsteins haarige linke Hand lag dicht daneben wie eine große lauernde Spinne.
* * *Draußen atmete Steiner tief auf. Die weiche Nachtluft erschien ihm wie Wein nach dem toten Rauch und dem grauen Jammer des Cafés. Ich muss da raus, dachte er, ich muss raus um jeden Preis! Er sah nach der Uhr. Es war schon spät. Er beschloss, trotzdem noch zu versuchen, den Falschspieler zu treffen.
Die kleine Bar, die der Falschspieler ihm als sein Stammlokal genannt hatte, war fast leer. Nur aufgedonnerte Mädchen hockten wie Papageien an der Nickelstange auf den hohen Stühlen.
War Fred hier? fragte Steiner den Mixer.
Fred? Der Mixer sah ihn scharf an. Was wollen Sie denn von Fred?
Das Vaterunser mit ihm beten, Bruder. Was sonst? Der Mixer dachte eine Zeitlang nach. Er ist vor einer Stunde gegangen, sagte er dann.
Kommt er nochmals wieder?
Keine Ahnung.
Schön. Da werde ich warten. Geben Sie mir einen Wodka.
Steiner wartete ungefähr eine Stunde. Er überlegte, was er alles zu Geld machen könne. Aber er kam nicht höher als auf etwa siebzig Schilling.
Die Mädchen hatten ihn nur flüchtig gemustert. Sie saßen noch einige Zeit herum, dann stelzten sie hinaus. Der Mixer begann mit einem Knobelbecher vor sich hin zu würfeln. Wollen wir einen austrudeln? fragte Steiner.
Von mir aus.
Sie würfelten und Steiner gewann. Sie spielten weiter. Steiner warf zweimal nacheinander in zwei Würfen vier Asse. Mit Assen scheine ich Glück zu haben, sagte er.
Sie haben überhaupt Glück, erwiderte der Mixer. Was sind Sie astrologisch?
Das weiß ich nicht.
Sie scheinen ein Löwe zu sein. Mindestens haben Sie die Sonne im Löwen. Ich verstehe ein bisschen davon. Letzte Runde, was? Fred kommt doch nicht mehr. Er ist noch nie um diese Zeit gekommen. Braucht Schlaf und ruhige Hände.
Sie knobelten, und Steiner gewann wieder. Sehen Sie, sagte der Mixer befriedigt und schob ihm fünf Schilling hinüber, Sie sind bestimmt ein Löwe. Mit starkem Neptun, denke ich. In welchem Monat sind Sie geboren?
August.
Dann sind Sie ein typischer Löwe. Glänzende Chancen dieses Jahr!
Dafür nehme ich einen ganzen Urwald voll Löwen auf mich. Steiner trank sein Glas aus. Wollen Sie Fred sagen, dass ich hier war? Steiner hätte nach ihm gefragt. Ich komme morgen wieder vorbei.
Schön.
Steiner ging zur Pension zurück. Der Weg war lang, und die Straßen waren leer. Der Himmel hing voller Sterne, und über die Mauern kam ab und zu der schwere Geruch blühenden Flieders. Mein Gort, Marie, dachte er, es kann doch nicht ewig dauern
4
Kern stand in einer Drogerie in der Nähe des Wenzelplatzes. Er hatte im Schaufenster ein paar Flaschen Toilettewasser entdeckt, die das Etikett aus dem Laboratorium seines Vaters trugen.
Farr-Toilettewasser! Kern drehte die Flasche, die der Drogist vom Regal geholt hatte, in der Hand.
Wo haben Sie denn das her?
Der Drogist zuckte die Achseln. Das weiß ich nicht mehr. Es kommt aus Deutschland. Wir haben es schon lange. Wollen Sie die Flasche kaufen?
Nicht nur die eine. Sechs
Sechs?
Ja, sechs zunächst. Später noch mehr. Ich handle damit. Natürlich muss ich Prozente haben.
Der Drogist sah Kern an. Emigrant? fragte er.
Kern stellte die Flasche auf den Ladentisch. Wissen Sie, sagte er ärgerlich, diese Frage langweilt mich allmählich, wenn sie von Zivilisten gestellt wird.
Besonders, wenn ich eine Aufenthaltserlaubnis in der Tasche habe. Sagen Sie mir lieber, wieviel Prozent Sie mir geben wollen?
Zehn.
Das ist lächerlich. Wie soll ich da etwas verdienen?
Sie können die Flaschen mit fünfundzwanzig Prozent haben, sagte der Besitzer des Ladens, der herangekommen war. Wenn Sie zehn nehmen, sogar mit dreißig. Wir sind froh, wenn wir den alten Kram loswerden.
Alten Kram? Kern blickte den Mann beleidigt an. Das ist ein ganz hervorragendes Toilettewasser, wissen Sie das?
Der Besitzer des Ladens bohrte sich gleichgültig einen Finger ins Ohr. Mag sein. Dann sind Sie sicher auch mit zwanzig Prozent zufrieden.
Dreißig ist das mindeste. Das hat doch nichts mit der Qualität zu tun. Sie können mir dreißig Prozent geben, und das Toilettewasser kann trotzdem gut sein, oder nicht?
Der Drogist verzog die Lippen. Alle Toilettewasser sind gleich. Gut sind nur die, für die Reklame gemacht wird. Das ist das ganze Geheimnis.
Kern sah ihn an. Reklame wird für dieses bestimmt nicht mehr gemacht. Danach ist es allerdings sehr schlecht. Dann wären fünfunddreißig Prozent die richtige Provision.
Dreißig, erwiderte der Besitzer. Ab und zu wird doch danach gefragt.
Herr Bureck, sagte der Drogist, ich glaube, wir können sie ihm mit fünfunddreißig geben, wenn er ein Dutzend nimmt. Der Mann, der ab und zu danach fragt, ist immer derselbe. Er kauft auch nicht; er will uns nur das Rezept verkaufen.
Das Rezept? Lieber Gott, das fehlt uns noch! Bureck hob abwehrend die Hände.
Das Rezept? Kern horchte auf. Wer ist denn das, der Ihnen das Rezept verkaufen will?
Der Drogist lachte. Irgend jemand, der behauptet, er hätte früher selbst das Laboratorium gehabt. Natürlich alles Schwindel! Was die Emigranten sich immer so ausdenken!
Kern war einen Augenblick atemlos. Wissen Sie, wo der Mann wohnt? fragte er.
Der Drogist zuckte die Achseln. Ich glaube, wir haben die Adresse irgendwo rumliegen. Er hat sie uns ein paarmal gegeben. Warum?
Ich glaube, es ist mein Vater.
Die beiden starrten Kern an. lst das wahr? fragte der Drogist.
Ja, ich glaube, dass er es ist. Ich suche ihn schon lange.
Bertha! rief der Besitzer aufgeregt zu einer Frau hinüber, die an einem Bürotisch im Hintergrund der Drogerie arbeitete. Haben wir noch die Adresse des Herrn, der uns das Rezept für Toilettewasser verkaufen wollte?
Meinen Sie Herrn Stran oder den alten Quatschkopf, der hier ein paarmal rumgestanden hat? rief die Frau zurück.
Verdammt! Der Besitzer des Ladens sah Kern geniert an. Entschuldigen Sie! Er ging rasch nach hinten.
Das kommt davon, wenn man mit seinen Angestellten schläft, erklärte der Drogist hämisch hinter ihm her.
Der Besitzer kam nach einer Weile schnaufend mit einem Zettel zurück. Hier haben wir die Adresse. Es ist ein Herr Kern. Siegmund Kern.
Das ist mein Vater.
Tatsächlich? Der Mann gab Kern den Zettel.
Hier ist die Adresse. Er war vor etwa drei Wochen das letztemal hier. Entschuldigen Sie die Bemerkung vorhin. Sie wissen ja
Es macht gar nichts. Ich möchte nur gern gleich gehen. Ich komme dann nachher zurück wegen der Flaschen.
Natürlich! Das hat ja Zeit!
Das Haus, in dem Kerns Vater wohnen sollte, lag in der Tuzarova ulice, in der Nähe der Markthallen. Es war dunkel und muffig und roch nach feuchten Wänden und Kohldunst.
Kern stieg langsam die Treppen hinauf. Es war sonderbar, aber er hatte etwas Furcht, seinen Vater nach so langer Zeit wiederzusehen er war zu sehr gewohnt, dass nie etwas besser wurde.
In der dritten Etage klingelte er. Nach einer Weile schlurfte es hinter der Tür, und das Pappschild hinter dem runden Loch des Spions verschob sich. Kern sah ein schwarzes Auge auf sich gerichtet.
Wer ist da? fragte eine mürrische Frauenstimme.
Ich möchte jemand sprechen, der hier wohnt, sagte Kern.
Hier wohnt niemand.
Doch! Sie wohnen ja schon hier! Kern sah auf das Schild an der Tür. Frau Melanie Ekowski, nicht wahr? Aber Sie möchte ich nicht sprechen.
Na, also.
Ich möchte einen Mann sprechen, der hier wohnt.
Hier wohnt kein Mann.
Kern blickte das runde, schwarze Auge an. Vielleicht stimmte es, und sein Vater war längst ausgezogen. Er fühlte sich plötzlich leer und enttäuscht.
Wie soll er denn heißen? fragte die Frau hinter der Tür.
Kern hob voll neuer Hoffnung den Kopf. Das möchte ich nicht durchs ganze Haus schreien. Wenn Sie die Tür öffnen, werde ich es Ihnen sagen.
Das Auge verschwand vom Guckloch. Eine Kette rasselte. Das ist ja eine Festung, dachte Kern. Er war ziemlich sicher, dass sein Vater doch noch hier wohnte; die Frau hätte sonst nicht weiter gefragt. Die Tür öffnete sich. Eine kräftige Tschechin mit roten Backen und breitem Gesicht betrachtete Kern von oben bis unten.
Ich möchte Herrn Kern sprechen.
Kern? Kenne ich nicht. Wohnt nicht hier.
Herrn Siegmund Kern. Ich heiße Ludwig Kern. So? Die Frau musterte ihn misstrauisch. Das kann jeder sagen.
Kern zog seine Aufenthaltserlaubnis aus der Tasche. Hier sehen Sie sich dieses Papier bitte an. Der Vorname ist aus Versehen falsch geschrieben; aber Sie sehen das andere.
Die Frau las den gesamten Zettel durch. Es dauerte lange. Dann gab sie ihn zurück. Verwandter?
Ja. Etwas hielt Kern ab, mehr zu sagen. Er war jetzt fest überzeugt, dass sein Vater hier war.
Die Frau hatte sich entschieden. Wohnt nicht hier, erklärte sie kurz.
Gut, erwiderte Kern. Dann will ich Ihnen sagen, wo ich wohne. Im Hotel Bristol. Ich bleibe nur ein paar Tage hier. Ich hätte vor meiner Abreise gern mit Herrn Siegmund Kern gesprochen. Ich habe ihm etwas zu übergeben, fügte er mit einem Blick auf die Frau hinzu.
So?
Ja. Hotel Bristol. Ludwig Kern. Guten Abend.
Er stieg die Treppen hinunter. Du lieber Himmel, dachte er, das ist ja ein Zerberus, der ihn da bewacht! Immerhin bewachen ist besser als verraten.
Er ging zu der Drogerie zurück. Der Besitzer stürzte auf ihn zu. Haben Sie Ihren Vater gefunden? Er hatte die ganze Neugier eines Menschen im Gesicht, dem jede Sensation in seinem Leben fehlt.
Noch nicht, sagte Kern, plötzlich widerwillig. Aber er wohnt dort. Er war nicht zu Hause.
So was! Das ist doch wirklich ein Zufall, nicht wahr?
Der Mann legte die Arme auf den Tisch und schickte sich an, breit über sonderbare Zufälle im Leben zu reden.
Für uns nicht, sagte Kern. Für uns ist es eher ein Zufall, wenn etwas mal normal geht. Was ist mit dem Toilettewasser? Ich kann nur sechs Flaschen nehmen, zunächst. Ich habe nicht mehr Geld. Wieviel Prozent geben Sie mir?
Der Besitzer überlegte einen Augenblick. Fünfunddreißig, erklärte er dann großzügig. So was kommt ja nicht alle Tage vor.
Gut.
Kern zahlte. Der Drogist packte die Flaschen ein. Die Frau, die Bertha hieß, war inzwischen aus dem Hintergrund herangekommen, um den jungen Mann anzusehen, der seinen Vater wiedergefunden hatte. Sie kaute aufgeregt an etwas Unsichtbarem.
Wissen Sie, sagte der Besitzer, was ich noch sagen wollte das Toilettewasser ist sehr gut. Sehr gut, wirklich.
Danke! Kern nahm das Paket. Ich komme dann hoffentlich bald, den Rest abzuholen.
* * *Er ging zum Hotel. In seinem Zimmer machte er das Paket auf und packte zwei Flaschen mit einigen Stücken Seife und ein paar Flakons billigen Parfüms in eine Aktentasche. Er wollte gleich versuchen, noch etwas davon zu verkaufen.