Spreemann Co - Alice Berend 4 стр.


»Pardon, pardon, Herr Spreemann. Ich bin heute ein bißchen erregt, sozusagen. Ich bewundre Herrn Spreemanns Ruhe.«

»Ich weiß nicht, warum die Leute stets mißvergnügt sind. Es wird schon alles von selbst zurechtkommen,« sagte Herr Spreemann ärgerlich.

»Das teure Brot, die Mißernten in Schlesien,« warf Hirschhorn dazwischen, tief über Herrn Spreemanns kleiner Zehe gebückt.

Herr Spreemann meinte, daß sich jeder um sich selbst kümmern müsse. Daß für Herrn Hirschhorn das Wachsen der Hühneraugen wichtiger sei als das des schlesischen Korns.

Hirschhorn erwiderte, daß alles in der Welt seinen Zusammenhang habe. Es wäre schon recht, wenn es auch das Volk besser bekäme. In der Wiege und im Sarge sähen alle Menschen gleich aus. Da könnten sie es auch zwischendurch ein bißchen ähnlicher haben.

Herr Hirschhorn hatte nicht umsonst stundenlang unter den kahlen Bäumen des Tiergartens gestanden. Reden gehört und kalte Füße bekommen. Kalte Füße, warmes Herz.

Spreemann sagte, daß er vor zwanzig Jahren solchen Aufruhr begriffen hätte. Aber jetzt wäre doch alles schön und gut.

»Jeder hat es, wie er sich's macht,« schloß er. »Wer arbeitet, hat auch zu essen.«

Hirschhorn maß mit schiefem Kopf sein begonnenes Werk an der kleinen Zehe, griff nach einem andern Messerchen und sagte:

»Nu, es gibt auch noch höhere Güter, Herr Spreemann. Der Magen regiert nicht allein. Das Volk will und muß auch . . .«

Da glitt das Messer ab und bohrte sich tief in die fleischige Zehe. Herrn Spreemanns rotes Blut strömte über die saubern Tücher.

Denn im Eifer des Disputs hatte man überhört, daß ein dumpfes Murren, ein schrilles, sausendes Geheul näher und näher schwoll.

Jetzt kam es plötzlich über den Platz gejagt.

Kreischende Stimmen von Weibern und Männern, Pfiffe, Schreie, Flüche, Drohungen ballten sich zum Gebrüll eines Raubtiers zusammen.

Mit einem Freudenruf war Hirschhorn aufgesprungen und hatte im gleichen Augenblick seinen Kram von Scheren, Messern und Feilen in die alte Ledertasche geworfen. Ohne einen Blick, ohne eine Entschuldigung für Herrn Spreemanns blutende Zehe.

»Sie kommen!« schrie er, »sie kommen!« und hatte mit einem Ruck zwischen seinen Salben und Pomaden eine schwarzgelbrote Kokarde hervorgerissen.

Dann rannte er hinaus. Im Flur hatte er die Kokarde schon an seinem großen, abgenutzten Hute stecken.

»Freiheit! Gleichheit!« schrie er. »Mein Lebtag hab ich drauf gewartet.«

Und dann riß er die Tür auf und stürzte hinaus.

Er rannte beinahe den Lehrling um, der von unten heraufgejagt kam.

»Sie bauen Barrikaden! Barrikaden bauen sie!« kreischte er mitten in Lieschens entsetztes Gesicht. »Ich geh mit, ich geh mit.«

Und er packte einen Küchenstuhl und rannte hinter Herrn Hirschhorn her.

Und der blonde junge Mann, den man immer nur lächeln gesehn und: »sehr wohl, Herr Spreemann,« sagen hörte, hatte eine Kokarde an die Staubpuschel gebunden und eine Holzbank unterm Arm. Das Gesicht verzerrt voll Wut, warf er sich ins Gewühl.

Herr Spreemann war ans Fenster gehumpelt und sah es mit Entsetzen.

Immer unheimlicher steigerte sich das rasende Raubtiergebrüll.

Erstarrt sah Spreemann Hirschhorns lange Rockschöße in der stoßenden, stampfenden Menge verschwinden. Sah er den kleinen Lehrling beinah allen voran davonstürmen. Eine Sekunde lang blitzte eine Erinnerung in ihm auf. Sein Vater wäre auch mitgelaufen, die hohen Stiefel voll heimlicher Schätze. Und er selbst? Wenn es damals gewesen wäre . . .

Da schmetterte ein Trompetensignal. Das Militär. Die Menge stieß ein Wutgeheul aus, das allen, die hinter den klirrenden Fenstern lauschten, Eiskörner über den Rücken jagte. Einen Augenblick lang staute sich alles. Dann drängte man mit verdoppelter Wut und Anstrengung vorwärts.

»Der Laden!« schoß es Spreemann beim Trompetenstoß durch den verängstigten Kopf. Der Laden mit der ganzen Sommersäson im Lagerraum. Wenn sie ihn plünderten. Wenn sie ihn stürmten.

Mamsell Lieschen flatterte im Zimmer herum, wie ein Huhn ohne Kopf. Sie sah das Blut aus Herrn Spreemanns Zehe quillen, sie hörte das furchtbare Geheule, sah den Lehrling und den »jungen Mann« unter die Räuber gehen, hörte Militärgetrappel, Signale, Pfiffe. Jetzt begannen auch alle Glocken zu läuten. Sie wußte nicht ein, noch aus.

Als Herr Spreemann: »Der Laden, der Laden!« schrie, stürzte sie in gewohntem Diensteifer hinaus. In ihrer Todesangst vergaß sie Angst zu haben.

Sie drückte sich zwischen die tobend Vorwärtseilenden und legte mit zitternden Händen, ohne zu wissen, daß sie's tat, die schweren Holzplanken vor die Ladentür. Noch ein kurzer Augenblick und auch die schweren Eisenstangen fielen schützend vor Herrn Spreenarms Sommersäson. Keinen der wahnwitzig Erregten, hatte die schmale Gestalt im waisengrauen Hauskleid gestört. Gerade als ein Schuß fiel, keuchte Mamsell Lieschen ins Haus zurück. Die Tür schlug zu. Sie war gesichert.

Über das Treppengeländer beugte sich Herr Kreisrat. Im Schlafrock, die runde, samtne Hausmütze auf dem Kopf, aber die Pfeife erloschen zwischen den blassen Lippen.

»Die Haustür fest verriegelt, Mamsell Lieschen?« flüsterte er fragend. »Nicht besser, noch einmal nachzusehen?«

»Ich muß hinauf, Herr Spreemann blutet,« schrie Lieschen in zappelnder Erregung.

»Blutet woher wieso im Laden in der Wohnung verwundet von wem?«

Herr Kreisrat flüsterte es erregt und schaudernd.

»Von Herrn Hirschhorn, in demselben Augenblick, als die Horde über den Platz kam,« stieß Mamsell Lieschen eilig hervor und sprang atemlos die Stufen hinauf.

»Ich sage ja, die Juden, die Juden. Sie sind bei allen Schlächtereien die ersten.«

Empört raffte Herr Kreisrat den langen Schlafrock und eilte so schnell es die lose sitzenden Pantoffel erlaubten die Treppe zurück.

Das mußte Frau Kreisrat, die mit Weinkrämpfen auf dem Sofa lag, so schnell als möglich erfahren.

Die Türen klappten. Oben und unten. Die Riegel schnappten vor. Unten und oben. Man war geborgen.

Herr Spreemann starrte immer noch hinter der Gardine in den kreischenden, brüllenden Haufen. Ein schmaler Blutstrom rann von seiner kleinen Zehe ins Zimmer.

»Sie kennen ins sichre Verderben. Sie opfern ihr Leben, als wenn es nichts wert wäre,« murmelte er und wußte nicht, daß auf seinem Gesicht der große Respekt lag, der sich bei ganz besonders guten Kunden doch in seine Mienen zu schleichen pflegte. Nur, daß er jetzt nicht lächelte.

»Denken Sie vor allen Dingen an Ihr eignes teures Leben,« rief Mamsell Lieschen aufschluchzend. Und kam mit Pflaster, Arnikawasser und Leinwandstreifen.

Als Herr Spreemann im Lehnstuhl saß, den Fuß gekühlt und verbunden, fühlte er sich ruhiger werden.

Mamsell Lieschen hatte die Holzladen vor die Fenster gelegt, das dämpfte den Lärm ein wenig.

Die Menge schien weiterzueilen. Allmählich wurde es ruhiger vor den Fenstern. Nur aus der Ferne klang Trommelwirbel und Geschrei.

Lieschen zündete die Öllampe an. Der helle, ruhige Schein gab neuen Mut.

»Wenn ich an die Funzellampen denke, die man in meiner Kindheit brannte,« sagte Herr Spreemann, der nachdenklich in die freundliche Helle blickte. »Man hat es doch wirklich gut, jetzt in der Neuzeit. Ich weiß nicht, warum die Leute immer und immer unzufrieden sind.« Er seufzte. Mamsell Lieschen stand unschlüssig im Zimmer. Zu setzen wagte sie sich nicht. Aber draußen allein zu sein fürchtete sie sich.

Herr Spreemann schien auch nicht allein bleiben zu wollen.

»Wo meine Verwandten heute sein mögen,« fing er wieder das Gespräch an.

»Gott schütze sie alle,« antwortete Mamsell Lieschen demütig.

Und dann fragte sie, ob sie vielleicht den Abendtisch hier aufdecken sollte.

Herr Spreemann kam in Verlegenheit. Appetit hatte er nicht. Im Gegenteil. Aber er wollte jemanden um sich haben.

Er zog eine Weile schweigend an seiner Pfeife. Dann sagte er: »Sie können mir kühlende Umschläge auf meinen Fuß machen, Mamsell. Alle fünf Minuten einen andern.« Wieder hatte er das Richtige gefunden. Beiden war geholfen.

Auch in der Familie des Herrn Kreisrat schien man wieder im Gleichgewicht zu sein. Sanfte Klaviermusik tönte herunter. Die beiden Töchterchen spielten vierhändig und genau im Takt das hübsche Lied von dem guten Monde, der so stille durch die Abendwolken zieht.

Mamsell Lieschen summte es leise mit. So friedlich hätte alles sein können.

Aber da Herr Spreemann horchte auf von neuem wälzte sich das Grauenhafte näher.

»Wenn sie nur nicht die Stadt in Brand setzen,« ächzte Mamsell Lieschen, die wieder ins Flattern gekommen war.

»Die Berliner stecken ihr Berlin nicht an,« sagte Spreemann fest.

Wieder klirrten die Fensterscheiben.

Herr Spreemann löschte die Lampe und öffnete die Fensterladen um einen schmalen Spalt.

Man trug schon Verwundete zwischen sich.

Mamsell Lieschen schluchzte auf.

Aus Spreemanns Augen tropfte es. Er hätte gern den Arm um Lieschens Schulter gelegt. Er spürte etwas Sonderbares weiche, schmerzliche Wünsche, wie er sie seit seiner Kindheit nicht mehr gekannt hatte. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit . . .

Da zeigte jemand aus der Menge auf den gemalten Herrn auf Spreemanns Firmenschild. Die einzige Laterne, die am gurgelnden Rinnstein brannte, warf ihren matten Schein auf seine Beinkleider, schick und kariert. Gelächter erscholl. Ein Haufen Steine hagelte gegen das Schild. Man hörte es splittern. Dann stürmte man weiter.

Herr Spreemann atmete auf. Nun hatte auch er seinen Tribut gezahlt. Er untersagte Mamsell Lieschen das Jammern über diesen Vorfall. Der Lärm verhallte. Das rasende Gebrüll dämpfte sich zu dem befriedigten Geknurr des gesättigten Tieres.

In den Zimmern flammten wieder die Lampen auf. Alles wurde still.

Herr Spreemann gähnte. Die Spannung ließ nach. Er blinzelte nach seinem hohen Federbett. Zum erstenmal in seinem Leben begriff er, daß die Ehe ihre guten Seiten haben konnte. Wenn da noch so ein Bett im Zimmer stände, hätte man es wagen können, unter das hohe Deckbett zu kriechen . . .

So aber blieb er im Lehnstuhl und ließ sich weiter die Zehe kühlen.

Bis draußen ein Hahn krähte. Wahrhaftig, über den Dächern dämmerte der erste Morgenschein.

Eilig verabschiedete Herr Spreemann Mamsell Lieschen. Wenige Augenblicke später lag er im Bett.

Nötiger, als daß man weiß, was die andern wollen, ist zu wissen, was man selbst will.

Viertes Kapitel

Mamsell Schmidt hatte nur eine kurze Stunde zu schlummern gewagt. Als die Sonne richtig am Himmel stand, war auch sie wieder am gewohnten Werk. Leise öffnete sie die Fenster des Wohnzimmers und spähte hinaus. Das Firmenschild hing schief. Zerbrochen aber schien es nicht. Platz und Straße waren leer und still. Alle Arbeit schien zu ruhen. Lautlos lag die Stadt im neuen Morgenrot. Nur aus den Schornsteinen stieg ein leichter Rauch und verriet, daß Leben in den Häusern war. Die Sonne war ebenso blutig zurückgekommen, wie sie gegangen war. Aber nun war es Tag. Mamsell Lieschen erschauerte nicht. Sie sah noch zu, wie drüben auf dem Dach des Eckhauses der alte Herr Jung mit einer weißen Fahne seine Tauben zu einem Morgenflug anregte, dann ging sie an ihre Arbeit. Auf leisen Filzschuhen räumte, reinigte und heizte sie.

Herrn Spreemanns Ofen war vom Nebenzimmer aus zu heizen. Vorsichtig, ohne Lärm zu machen, schichtete Lieschen das glatte Buchenholz auf, um es dann mit einem Kienspan aufprasseln zu lassen. Von oben drang wieder der gewohnte brenzlige Qualm herunter. Diese Geizhälse heizten mit Torf. Das hatte man bei Herrn Spreemann nicht nötig. Zufrieden schloß Mamsell Schmidt die Ofenklappe, lauschte einen Augenblick an Herrn Spreemanns Tür und eilte dann lautlos zu neuer Tätigkeit.

Man schien wirklich in einer Zeit des Umsturzes zu leben. Trotzdem Ofen und Sonne längst für ihn wirkten, schlief Herr Spreemann bis in den Mittag hinein. Das war in seinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Mamsell Schmidt hatte sich schon Sorgen gemacht, und als er das Frühstückszimmer betrat, begrüßte sie ihn wie einen, der von weither zurückkommt. Sie berichtete sofort, daß das Firmenschild schief hinge, aber keineswegs zerbrochen sei. So beschloß Herr Spreemann, erst eine belebende Tasse Kaffee zu trinken, ehe er den Laden öffnete. Mamsell Lieschen bestärkte ihn in diesem Entschluß, denn die Straßen waren immer noch leer und still. Selten, daß ein eiliger Schritt vorüberklappte. Vor einigen Augenblicken war allerdings die Zeitung gekommen.

Herr Spreemann öffnete sie, und was er da las, ließ seinen Kaffee kalt werden. Eine lange Reihe von Toten war aufgezählt. Und auch der Name des kleinen Herrn Hirschhorn war dabei. Er hatte, bald nach seinem Davonstürzen, die Freiheit und Gleichheit gewonnen, die allen Menschen gewiß ist.

Mit Rührung besann sich Herr Spreemann, daß ihn der kleine, geschickte Mann bis auf den gestrigen Unfall kein einziges Mal geschnitten. Und daß er niemals mehr als vier Groschen für alle zehn Zehen genommen hatte. Auch Mamsell Lieschen schluchzte und vergaß vollständig, daß sie ihn nicht hatte leiden mögen.

»Wenn ich denke, daß er gestern noch lebendig in meiner Küche stand,« sagte sie und putzte sich wieder heftig die Nase.

Nur gut, daß von dem Lehrling und dem »jungen Manne« nichts in der Zeitung zu finden war.

Es war ein heller, klarer Tag. Man spürte es durch die geschlossenen Fenster, daß es zum Frühling ging. Während sich Herr Spreemann, gedankenerfüllt, die Pfeife stopfte, eilte Mamsell Schmidt zum Laubfrosch, um zu sehen, was er zu diesem Wetter sagte. Erschreckt prallte sie zurück. Er lag tot auf dem Boden seines Glashauses. Ob ihn die Aufregung getötet oder die einzige Fliege nicht genug Nahrung gewesen, war nun nicht mehr zu enträtseln. Von Grauen und Ekel gepackt, spähten Herr Spreemann und Mamsell Lieschen durch das Glas. Er lag auf dem grünen Rücken und zeigte einen gelben Bauch. So war er also nur auf einer Seite so hübsch grün gewesen? Auch die Natur lackierte also nur die obere, dem Käufer zugewandte Seite? Das gab beiden eine gewisse Beruhigung. Es tut immer wohl, sich mit der Schöpfung im Einverständnis zu wissen . . .

Milde und bewegt griff Spreemann zum Schlüsselbund und verließ die Wohnung, um endlich seinen Laden zu öffnen. Als er noch das Firmenschild musterte und mit Freude feststellte, daß ein wenig Tischlerleim hier alles kurieren könne, bogen zögernde Schritte um die Ecke. Und ehe Herr Spreemann sich noch selbst bemühen konnte, hoben sein Lehrling und sein »junger Mann« Eisenstange und Holzplanke von der Ladentür.

Der Lehrling hinkte, und der »junge Mann« trug einen Arm in der Binde. Statt der Kokarden hatten sie wieder ihre höflichen Mienen aufgesteckt. Aber die Kokarden waren noch da. Sie lagen in der Tasche, bereit, beim ersten Anlaß wieder hervorgeholt zu werden. Nur mußte man auch inzwischen leben und essen.

Die gegenseitige Begrüßung fiel etwas gezwungen aus. Der Lehrling begann sofort, alte Bindfäden aufzuknoten, und der »junge Mann« beeilte sich, mit dem gesunden Arm einen neuen Staubpuschel in Bewegung zu setzen.

Aber Herr Spreemann war sich schon vorher klar geworden, Milde walten zu lassen. Leute zu finden, die gestern nicht dabei gewesen waren, wäre gewiß nicht leicht. Ein Wechsel aus diesem Grunde hätte also keinen Sinn gehabt. Dagegen konnte es den einfachen Kunden gegenüber, vielleicht auch sogar den Besseren, beinahe als Empfehlung gelten, daß man sein Personal an der großen Gefühlsaufwallung hatte teilnehmen lassen.

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