Spreemann Co - Alice Berend 5 стр.


So sagte er nur: »Vorüber ist vorüber« und begann im Lagerraum weiter zu arbeiten, wo er gestern aufgehört hatte. Mochten sich seine guten Mitbürger auch noch so wild gebärden, die Sommersäson wird trotzdem unbeirrt heranrücken. Man würde tüchtig schwitzen müssen, hätte Klaus Spreemann nicht wie stets auf seinem Posten gestanden und für sie alle vorausgesorgt. Reich an innerer Freude, ließ er den gespitzten Bleistift über die Etiketten spazieren.

Wenn sich nicht jeder von uns viel zu wichtig nähme, könnte die Welt nicht weiter bestehen . . .

Auch am Nachmittag war Spreemann in eifriger Tätigkeit, als die Ladentür heftig aufgerissen wurde. Er wollte schon seine Verbeugung machen, als er erkannte, daß es seine Tante Karoline war, die hereingestürmt kam.

»Gottlob, da bin ich,« sagte sie. Worauf Klaus einstweilen noch nichts erwiderte.

»Bist du vielleicht auch gestern zu Biere gewesen?« fragte sie nun.

Sie sah auf Spreemanns verbundenen Fuß, der im Filzschuh steckte, und bemerkte ebenso rasch, daß auch der Lehrling wie der »junge Mann« nicht ganz intakt waren.

»Ihr wart wohl alle dabei?« schrie sie aus. »Ist das eine Welt, ist das eine Welt, ich weiß nicht, wo mir der Kopf sitzt. Mein Mariechen . . .«

Klaus unterbrach sie, weil er nicht gern Unangenehmes hörte, und sagte:

»Ich habe die Nacht friedlich mit Mamsell Schmidt verbracht.«

Tante Karoline, die sich nicht hatte unterbrechen lassen wollen und gleichzeitig geschrien hatte, daß Mariechen, dieses sanfte, immer gehorsame Kind, auf den Barrikaden gestanden habe, brach ab, als hätte ihr jemand die Kehle durchschnitten.

»Wir waren bis zum Morgengrauen in meinem Schlafzimmer,« erzählte Klaus arglos weiter, mit der bescheidenen Ruhe eines Menschen, der die Wahrheit spricht.

Der Lehrling knotete Bindfaden, und der »junge Mann« puschelte . . .

Erst als Klaus wieder viele ruhige Pfeifenzüge getan, quoll aus Karolines Mund die Frage, ob er verrückt sei oder sie.

Die Rückwirkungen der schlaflosen Nacht mit ihren verschiedenen Schrecken überstiegen alle Vorsicht für Zukunft und Hoffnungen. Außerdem hatten Mariechen und der Herr Sekretär einen verwundeten Russen von den Barrikaden heimgebracht, der sehr reich war und den man gesund pflegen würde.

Darum ließ sie alle Beherrschung zum Teufel fahren und fragte noch einmal, ob Klaus oder sie den Verstand verloren habe.

Aber ehe Klaus noch sein Gutachten abgeben konnte, klingelte die Ladentür, und Spreemanns andere Tante, Madame Ziehlke, kam herein. Im Pelzschal und großem Skunksmuff, erkundigte sie sich, wie ihrem Neffen der gestrige Schreckenstag bekommen sei. Auf ihrem runden Gesicht, das einem reifen Apfel glich. der schon ein wenig zu schrumpeln begann, sah man keine Spuren des ausgestandenen Schreckens. Mit breiter Neugierde wandte es sich jetzt der Tante Karoline zu.

»Ich hörte, daß dein Mariechen aber das ist doch wohl nicht möglich . . .«

Tante Karoline wurde rot vor Ärger. Leugnen konnte sie die schon stadtbekannte Tatsache nicht, aber beschönigen. Das ist das Recht der Mutter. So sagte sie schnell und mit erhobenem Kopf:

»Mariechen begleitete nur ihren heimlichen Bräutigam.«

Sie dachte bei diesen Worten, die ihr selbst überraschend kamen, schnell zu dem jungen Russen hin. Er war noch bewußtlos, aber er würde es wohl nicht ewig bleiben.

»So, so, wieder einmal eine Aussicht, das ist ja nett,« antwortete Madame Ziehlke, die Hände tief in dem großen Muff. Sie war durch diese Neuigkeit nicht erschüttert; denn Karoline machte diese geheimnisvollen Anspielungen stets, wenn sie einen neuen Mieter bekommen hatte.

Karoline lenkte auch selbst das Gespräch sofort ab, indem sie der pelzverbrämten Madame Ziehlke zuflüsterte, was sie soeben aus Spreemanns eigenem Munde erfahren hatte.

Madame Ziehlke neigte nicht so zur Erregung, wie Karoline. Sie hatte gar keinen Grund dazu. Ihre beiden Töchter waren verheiratet, ihre Schwiegersöhne hatten zusammen eine recht rentable Mühle am Mühlendamm. Brot brauchten die Leute nun mal zu allen Zeiten, und ihr eigener Sohn bekam einmal die wohl renommierte Gerberei und hätte längst um die beste Bürgerstochter freien können. Aber sie hatte auch Enkelkinder. Schließlich war es kein Verbrechen, wenn Spreemanns Geld in der Familie bliebe.

Sie rückte daher ihre stattliche Fülle näher an die schmale Karoline heran und ließ sich das eben gehörte noch einmal sagen.

Spreemann merkte nichts davon; denn er gab dem Lehrling Auftrag, Kuchen mit Schlagsahne zu holen und Mamsell Lieschen mitzuteilen, daß man Kaffeegäste habe.

Als Spreemann die Damen nach oben begleiten wollte, kamen die ersten Kundinnen dieses Tages. Es waren zwei Milchfrauen, denen gestern die großen Schutenhüte abhanden gekommen waren.

Madame Ziehlke und Karoline gingen allein hinauf, was ihnen nicht ungelegen kam; denn sie wollten diese Mamsell da ein wenig aufs Korn nehmen.

Lieschen hatte einen ungeheuren Respekt vor Herrn Spreemanns Verwandtschaft. In demütiger Zuvorkommenheit befreite sie Madame Ziehlke von Samt und Pelz, nahm der Tante Karoline ihren leicht wiegenden Umhang ab, dann eilte sie davon, um den Kaffee zu bringen.

Als sie die dickbauchige Kanne auf den Tisch setzte, meldete sich der Lehrling und berichtete, daß der Herr Konditor sagen lasse, daß es heute keinen frischgebackenen Kuchen gebe und daß die süße Sahne heute sauer sei.

Um des Lehrlings Mund lag bei der Erledigung dieser Bestellung etwas, das im Kontakt stand mit der Kokarde in seiner Tasche. Aber die Damen hatten keine Gelegenheit, dies zu beobachten.

»Das sind doch ganz ungeheuerliche Zeiten, in denen wir leben,« sagte Tante Karoline. »Am hellichten Tage kein Krümchen Streuselkuchen in ganz Berlin.«

»Ach, es ist zu verstehen,« sagte da unglücklicherweise Mamsell Lieschen. »Nach solcher Nacht.«

»Ja, alles Gesindel hat sich diese furchtbaren Stunden zunutze gemacht,« sagte Tante Karoline und maß Mamsell Schmidt von oben bis unten.

Lieschen merkte, daß man ihr böse war, und weil sie keinen Grund dafür wußte und heute ohnehin zum Weinen geneigt war, holte sie ihr weißes Taschentuch hervor.

»Ich habe nichts Unpassendes getan,« sagte sie und drehte ihre kurze, bescheidene Nase im Tuch herum.

Tante Karoline sagte, daß sie nichts Näheres über diese heikle Angelegenheit zu erfahren wünsche und sie nur ihren armen, unschuldigen Neffen bedaure. Und dann fügte sie hinzu, ob man nicht wenigstens ein Stück Brot mit Butter zum Kaffee bekommen könne.

In schnellem Gehorsam eilte Mamsell Lieschen davon.

Madame Ziehlke war von Lieschens Tränen bewegt worden. Sie teilte nicht mehr Karolinens Argwohn und sagte es ihr auch.

»Wer ist heute nicht müde,« sagte sie. »Auch ich kann meine Arme kaum heben.«

»Warum sagst du denn immer Arme?« antwortete Karoline gereizt.

»Nun, weil es doch zwei sind,« antwortete Madame Ziehlke, nun auch aus ihrer Ruhe gebracht. Diese magere Person konnte wirklich den freundlichsten Menschen in Wut bringen. Madame Ziehlke hatte gerade etwas in diesem Sinne auf der Zunge, als Mamsell Schmidt hereingestürzt kam und voll Erregung ausrief:

»Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.«

Und dann in bebender Eile erklärte, daß man drüben, an der Hausecke, ein Manifest des Königs angeschlagen habe, worauf man vom Schlafzimmerfenster des Herrn Spreemann deutlich lesen könne, daß Ruhe die erste Bürgerpflicht sei.

»Aha, das sollte gewiß schon gestern fertig sein,« sagte Madame Ziehlke und trank befriedigt den Rest des guten Kaffees aus.

»Ich weiß nicht, was Sie immer in Herrn Spreemanns Schlafzimmer zu suchen haben,« sagte dagegen Tante Karoline, die aufgestanden war. »Man kann die Manifeste des Königs wohl auch von anderswo lesen, scheint mir.«

»Ich weiß nicht, was Sie immer in Herrn Spreemanns Schlafzimmer zu suchen haben,« sagte dagegen Tante Karoline, die aufgestanden war. »Man kann die Manifeste des Königs wohl auch von anderswo lesen, scheint mir.«

Sie nahm sich selbst den Umhang um; denn sie wollte nun rasch nach Haus. Sie verstand nicht viel von Politik und fürchtete neue Aufregungen durch Mariechen und den Herrn Sekretär.

Auch Madame Ziehlke ging. Die Dämmerung nahte, und man konnte nicht wissen, was geschah.

Erregende äußere Vorgänge hemmen die Innenpolitik. Beide Tanten vergaßen, ihrem lieben Neffen Lebewohl zu sagen.

Spreemann hatte sich mit seinen Kundinnen ein wenig verschwatzt. Man hatte auch hier des Königs Aufruf erörtert, wovon ein Abdruck gerade neben Spreemanns Ladentür geklebt worden war. Spreemann sah darin eine Auszeichnung. Sein Selbstbewußtsein hob sich, als er sich darauf als »Lieber Berliner« angeredet sah. Familiäre Fäden zogen sich vom Dönhoffplatz nach dem Schloß.

Darüber hätte Spreemann auch mit seiner engeren Verwandtschaft gern einige Worte ausgetauscht. Er war sehr erstaunt, niemanden mehr am Kaffeetisch zu finden.

»Etwas Unangenehmes?« fragte er; denn er hatte wohl bemerkt, daß Mamsell Schmidt bei seinem Kommen rasch die Nase aus dem Taschentuch geholt hatte.

»Nicht daß ich wüßte,« antwortete die Mamsell und stopfte das nasse Schnupftuch in die Tasche. Aber sie konnte doch nicht hindern, daß ein letzter Schluchzer aus ihrem unruhigen Gemüt in das stille, behagliche Zimmer sprang.

»Was ist das? Sind Sie krank?« fragte Spreemann und bedachte im gleichen Augenblick, daß dies sowohl Kosten, wie Störung mit sich bringen würde.

Lieschen schüttelte den Kopf.

Spreemann dachte nach. Einen Todesfall in der Familie konnte sie auch nicht zu beklagen haben, da sie allein in der Welt stand. Er hatte dies stets besonders an ihr geschätzt. Seine früheren Wirtschafterinnen benötigten beständig Urlaub zu Begräbnissen oder Taufen.

Lieschen schluchzte weiter. Gedämpft und ruckweise, wie ein Kind, das in der Ecke steht. Spreemann sog an seiner Pfeife.

»Ist es der Laubfrosch?« fragte er vorsichtig.

Lieschen schüttelte den Kopf.

»Oder der arme Herr Hirschhorn?«

Lieschen verneinte.

»Überhaupt so das Unglück im allgemeinen?«

Jetzt antwortete Lieschen, daß sie doch Herrn Spreemann gesund und munter vor sich sähe und es somit eine Sünde sein würde, über fremdes Unglück zu weinen.

Und der Sprache nun wieder habhaft, stotterte sie weiter hervor, daß Madame Karoline sie nicht für wert befunden habe, sich den Umhang von ihr zureichen zu lassen.

»Woran haben Sie es fehlen lassen?« fragte Spreemann.

Lieschen stieß ruckweise hervor, daß Madame Karoline der Meinung zu sein scheine daß sie Mamselle Schmidt in der verflossenen Unglücksnacht nicht ihre Pflicht erfüllt habe.

»Und dabei ist die Zehe doch geheilt,« sagte sie zum Schluß, das Gesicht vergraben in dem durchweichten Tuch.

Spreemann räusperte sich und stand auf.

Er hatte Tante Karoline besser verstanden.

Er fand es plötzlich sehr warm im Zimmer. Schwül. Unangenehm.

»Öffnen Sie das Fenster, Mamsell Schmidt,« befahl er.

Voll Diensteifer gehorchte Lieschen. Als sie auf den Stuhl stieg, um den oberen Riegel zu öffnen, fiel es Spreemann zum erstenmal auf, daß auch mit ihr viel Rundliches verbunden war. Er war erstaunt.

Als Lieschen mit bescheidenem Sprung wieder auf dem Teppich stand, sagte er:

»Ich bin nicht unzufrieden mit Ihnen, das genügt.«

Lieschens Tränen waren getrocknet. Mit dankbarem Blick fragte sie, ob sie Herrn Spreemann zum Abend Radieschen vorsetzen dürfe, die schon gestern geputzt wären.

Herr Spreemann genehmigte es, und jeder ging an seine Arbeit.

Lieschen hatte sich den ganzen Tag über noch nicht aus dem Hause gewagt, aber nun war der Wasservorrat zu Ende. Sie mußte auf den Hof hinunter, da half nichts. Kaum, daß sie unten mit den Eimern klapperte, kam Kreisrats Anna dazu.

Sie sah ebenso verweint aus wie Mamsell Lieschen.

»Haben Sie auch einen dabei?« fragte sie und schneuzte die Nase am rotwollenen Ärmel entlang.

»Wo?« fragte Mamsell Lieschen und zog mit aller Kraft die Eimer in die Höhe.

»Bei den Soldaten natürlich. Alle müssen sie mit Wrangeln aus der Stadt heraus. Meiner auch. Hätte ich nur gestern mitgemacht. Solch hochmütiges Bürgerpack. Alle Soldaten wegzugraulen.«

»Wer weiß, wozu es gut ist,« sagte Mamsell Schmidt.

»Gut ist?« äffte Anna nach. »Gut ist, wenn ich meinen Fritz bei mir habe.«

Sie warf den Eimer mit solcher Wucht in den Brunnen, daß das Wasser beide überspritzte. Mamsell Lieschen schleppte die schweren Eimer in würdigem Schweigen ins Haus.

Die Dämmerung kam, und aus den Häusern fiel der Lampenschein auf die leeren Straßen. Draußen war es ruhig, aber in den Stuben hämmerte die zitternde Erregung, die bei allen großen Geschehnissen erst hinterher kommt. Die Pfeifen waren mit Pulver geladen, die Stricknadeln sprühten Funken.

Durch die Hirne galoppierten Gedanken, an die man nie früher gedacht hatte. Trockene, wunschlose Lippen verlangten in heimlicher Gier nach Küssen und starkem Wein. Die sausenden Ohren forderten wilde, laute Worte, die die innere Unruhe überschrien.

»Es ist das Wetter,« sagte Spreemann zu seinen invaliden Angestellten und wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn.

»Gewiß, das Wetter,« wiederholten Lehrling und »junger Mann« und schnitten ein Gesicht, sobald ihnen Herr Spreemann wieder den Rücken kehrte.

Bei den vielen Zahlen, die Spreemann zu notieren hatte, sprang in seinem Kopf immerfort die Frage auf: wie alt mochte diese Mamsell Schmidt eigentlich sein? Er kalkulierte einige Ziffern und sagte sich dann gereizt, daß ihm dies höchst gleichgültig sein könnte. Die Person war tüchtig, verstand vorzüglich Karpfen zu kochen und Gänse zu braten, alles andere war nebensächlich. Aber als er 2,80 Mark auf ein Etikett kritzelte, mußte er sofort wieder denken, daß Mamsell Schmidt ungefähr 28 Jahre haben könne. Gedanken sind eine unangenehme Sache.

Er schloß den Laden früher als sonst.

Draußen sickerte ein kühlender Regen aufs Pflaster.

Vielleicht beweinte der Himmel die tapferen Herzen, die sich zum Opfer gebracht. Schlafenden Wiegenkindern zum Heil. Vielleicht wollte er auch nichts weiter, als seine alte Pflicht erfüllen: neue Keime, neue Veilchen tränken. Wer kann dergleichen wissen . . .

»Da haben wir's,« sagte Spreemann befriedigt. »Der Regen hat uns in den Gliedern gesteckt, das war's.«

Er saß beim Abendbrot und lagerte Radieschen scheibenweise auf eine Butterstulle.

»Mir war es auch heute so kribblig,« antwortete Mamsell Schmidt, die noch ein Schüsselchen mit Wurst und Bratkartoffeln auf den Tisch stellte. »Ich hoffe nur, daß morgen wieder Markt ist. Man kommt aus aller Ordnung.«

Es klopfte an die Wohnungstür, und bald darauf führte Mamsell Schmidt den Herrn Kreisrat ins Zimmer.

Er war nicht im Schlafrock, sondern in Hut und Mantel. Die lange Pfeife guckte aus der Tasche.

Er sagte, wenn Ruhe die erste Bürgerpflicht wäre, sei Ordnung gewiß die zweite. Daher wollte er vorschlagen, daß man heute wieder pünktlich am Stammtisch erscheine. Spreemann fragte mit gefüllten Backen, ob man es wagen könne. Mamsell Schmidt seufzte hörbar und räumte noch dies und das vom Tisch, ehe sie das Zimmer mit einem zweiten, warnenden Seufzer verließ.

Giesecke hatte sich gesetzt, und indem er eifrig den Tisch musterte, um seiner Madame genau erzählen zu können, was der Herr Spreemann zu Abend gegessen, sagte er, daß auch seine Frau ihn nicht gern fortgelassen habe, daß man aber ein Mann sein müsse, weil man doch hören wolle, was es Neues gab.

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