Am Saume des Waldes hielt er an. Da lag die Welt so leuchtend und licht; auf dem sonnigen Himmel hingen muntere Wölkchen, vor denen die Lerchen tirilierten; in silbernem Grün standen die Saatfelder, und wenn der Wind über sie hinlief, spielten sie mit ihm in weichen, zärtlichen Wellen. Unten im Thal stieg aus den Schornsteinen wohlgemut und aufrecht ein blauer Rauch wie ein Lobgesang behaglicher Heimstätten über die Strohdächer. Ein warmer Geruch von sonnebeschienenem Wiesenheu schwebte in der Luft, die sich schmeichelnd dem heiligen Georg an die Wangen legte. Zutrauliche Schmetterlinge setzten sich auf seine Hände, geschäftige Bienen ruhten sich auf seinen Locken aus, neugierige Vögel hüpften aus den Zweigen hervor, um ihn mit glänzenden Augen in der Nähe zu betrachten.
Und den Weg herauf, der sich zwischen den Ähren schlängelte, kam ein fahrender Spielmann gegangen. Der sprach zu ihm:
»Was stehst du hier so betrübt, du lieber Gesell? Die Welt lacht dich an willst du ihr nicht mit einem freundlichen Gesicht erwidern?«
»Ach«, versetzte der heilige Georg, »dies Lächeln der Welt schneidet mir ins Herz! Liegt sie nicht da wie ein Kindlein in der Wiege, das die Arme ausstreckt nach der Mutter, unschuldig und sonder Arg? Aber ehʼ man sichʼs versieht, kann der Drache über sie hereinbrechen und all ihre süße Seligkeit in bitteres Herzleid wandeln! Deshalb bin ich ausgezogen, den Drachen zu töten; aber der Drache verbirgt sich vor mir, und ich sehe wohl, es wird mir nicht beschieden sein, die Welt von ihm zu befreien.«
Der Spielmann betrachtete den heiligen Georg mit herzlichem Wohlgefallen. »Wohlan denn« sagte er, »nimmst du mich mit, so will ich dich die Wege führen, wo der Drache lauert. Du bist ein gar unschuldiges junges Blut; ich aber bin viel in der Welt herumgekommen, in ihren Höhen und in ihren Tiefen. Und wenn wir dem Drachen begegnen, dann fasse du dein Schwert, und ich will meine Laute schlagen. Ein tapferes Schwert, ein tapferes Lied, sollten die nicht des Drachen Herr werden?«
So zogen sie selbander hinaus in die weite Welt, den Drachen, den Drachen zu töten.
Einsame Gegend
Jäh stürzt der Berg hinunter ins Meer. Auf seinem Abhang trägt er viele bunte Steine: weiße Marmortrümmer mit verspülten Ornamenten, roten Porphyr und gelbgefleckten Alabaster, blauen Labrador, auf dem die Sonne metallische Funken entzündet, Jaspis und Achat. Alles Köstliche, an dem eine hohe Kultur sich ergötzte, liegt hier beisammen ein Haufen schöner Scherben.
Oben, wo eine zackige Felswand den Gipfel krönt, wächst ein Feigenbaum mit Früchten, die niemand pflückt. Eine abgestorbene Aloe kauert neben ihm; sie streckt aus ihren braunen, runzeligen Blättern einen kahlen Blütenstengel hoch hinauf in die heiße Luft. Olivenbäume, kärglich befiedert mit dünnem silbernen Laub, stehen einzeln umher. Wie vom Durste gepeinigt, winden sich ihre verlechzten Stämme. Aber satt gleißen die grünen Aloen, die in breitem Gestrüpp den Fuß des Felsens umgeben. Zwischen ihren Blättern, die scharf und spitzig sind wie Schwerter, verbirgt sich ein Säulenkapitäl. Und ein Portikus mit gebrochenen Säulen erhebt sich inmitten. Er führt in die dunkle, verschwiegene Felsentiefe,
In ihrem Innern ruht ein Tempel verschollener Götter, eingeschnitten in das harte Gestein. Der Eingang ist verschüttet, durch viele Erdbeben verschüttet, die alle verwitterten Brocken des Felsengipfels heruntergegossen und die Säulen des Portikus. geknickt haben wie Rohrschäfte. Unzugänglich ragt die Felswand vor dem Heiligtum; mit trotziger Abwehr schaaren sich die Aloen herum und verbieten den Zugang.
In mondlosen Nächten, wenn der Himmel von Sternen funkelt, und spielende Delphine Krystalle über das aufrauschende Meer streuen, geht eine hohe marmorne Frau aus dem verschütteten Eingang hervor. Stilvoll geordnet fällt ihr weißes Gewand in unbeweglichen Falten an ihren Gliedern herab. Sie berührt im Schreiten mit ihren nackten Füßen den Boden, aber die Schwerter der Aloen verletzen sie nicht.
Am Strande des Meeres bleibt sie stehen und wendet sich hinaus ins Grenzenlose. Ihre rechte Hand erhebt sie ausgestreckt zum Himmel. Ist es eine Klage? Ist es eine Drohung? Ist es eine Beschwörung? Und ihre linke Hand ruht, zur Faust geballt, auf ihrer steinernen Brust, als wollte sie die starre Oberfläche zerdrücken, oder als wollte sie die starre Oberfläche verteidigen. Und ihre blinden Statuenaugen schauen hinaus in eine Welt, die jenseits ist.
Und wie sie steht und schaut, öffnen sich ihre Marmorlippen zu einem Seufzer.
Als ein tötlicher Hauch geht dieser Seufzer durch die Welt. Die Luft wird kalt, das Meer verstummt, die Delphine sinken in die schwarze Tiefe. Alles Lebendige erstarrt in eisigem Schweigen. Stille des Todes breitet sich aus. Nur in ihrer unnahbaren Höhe funkeln die Sterne, die ewigfernen Sterne.
Aber wenn aus den Morgenwolken die lärmende Sonne bricht, ist die bleiche steinerne Frau verschwunden.
Und die Sonne steigt. Brennend steigt sie herauf über die verlassene Küste. Die Felswand glüht; die Oliven werden aschfarben, der Feigenbaum welkt und seine kleinen Früchte beben vor Angst, zu verdorren.
Da kommt aus dem verschütteten Tempel die andere Gottheit hervor. Ein seltsames zottiges Wesen mit einem spöttischen Bocksgesicht und behenden Bocksbeinen. Kurze dicke Hörner wachsen über seiner braunen Stirne, die von Fett und Schweiß glänzt. Breitspurig stellt es sich zwischen den Trümmern auf und läßt mit Behagen die Sonne auf seine haarige Brust scheinen. Doch nicht lange bleibt der Gott still. Er klettert auf die Kante der Felsen und lugt neugierig hinüber in das Tal, wo die Ziegen weiden. Und wenn ein einfältiger Hirte, der sich zu weit vorgewagt hat, vor seinem Anblick erschrocken die Flucht ergreift, bricht er in schallendes Gelächter aus. Lachend jagt er mit tollen Sprüngen über den Abhang zur Küste, daß der Schutt in Staubwolken aufwirbelt und die bunten Steine hinter ihm her kollern. Unten wirft er sich in die laue Flut, stampft mit den Füßen, wälzt sich jauchzend auf einer Sandfläche und hascht nach den silbernen Fischen, die zutraulich um ihn herumschwänzeln. Dann springt er heraus auf eine Klippe, sitzt dampfend in seiner heißen feuchten Bockshaut und holt die Flöte hervor, die hinter seinem hochgespitzten Ohr steckt. Er beginnt zu blasen, Wunderliche alte Weisen bläst er, Urtöne, die kein menschliches Ohr mehr vernehmen kann.
Und während er spielt, geht eine heimliche Bewegung durch die Welt. Das Meer wird blauer, der Himmel glänzender; die Olivenbäume richten sich auf wie vom Regen belebt; die kleinen Feigen schwellen an; in dem Innern der gepanzerten Aloen gehen winzige Knöspchen künftiger Blüten auf; vertrocknete Samen, die der Westwind ans Land geweht hat, regen sich im Staube und wollen keimen.
Aber wenn die Dämmerung über das Meer streicht, ist der übermütige alte Gott in den Felsen zurückgekehrt.
Hinter dem verschütteten Eingang wohnen die beiden Gottheiten. Dort sind sie beisammen. Aber niemand weiß, wie. In dieser Tiefe ist alles Geheimnis. Hassen sich die Beiden, die so ungleich sind? Oder lieben sie sich mit jener unglücklichen Leidenschaft, mit der die Gegensätze ewig zu einander streben?
Der Schatten
Es war sehr kalt. Das Licht des Vollmondes glänzte blendend auf dem frischgefallenen Schnee. Ich watete darin bis über die Knöchel; ein feiner glitzernder Staub wirbelte beständig unter meinen Kleidern auf. Vor mir aber watete mein Schatten. Eilig lief er dahin und begleitete mich getreulich durch die ausgestorbenen schweigenden Gassen. Der Schnee verschlang alle Geräusche, von denen die Mitternacht der Städte belebt ist; ich hörte meine eigenen Schritte nicht.
Da kam mir ein Gedanke. Ich blieb stehen. Das ist zwar kein Grund, stehen zu bleiben; zu meiner Rechtfertigung muß ich aber bemerken, daß es ein ganz verblüffender Gedanke war, der mir da eben gekommen war, ein phänomenaler, schicksalsschwerer Gedanke. Die Menschheit allerdings, fürchtʼ ich, wird wenig Nutzen davon ziehen; nicht, weil sie überhaupt von allen phänomenalen Gedanken bisher wenig Nutzen zog, sondern weil mein phänomenaler Gedanke lediglich eine Privatangelegenheit meiner Person betraf. Ich befand mich nämlich damals in jenem sonderbaren und abnormen Zustand, den man gewöhnlich mit dem schwachen Worte »Verliebtheit« bezeichnet.
Als ich so stille stand, hörte ich einen gähnenden Seufzer, wie von jemandem, der nach einem tiefen Schlafe langsam erwacht. Ich sah mich um niemand da. Alles leer, alles einsam. Hatte ich mein eigenes Seufzen für ein fremdes gehalten? Ich wollte weitergehen; da trat ich auf eine schwammige, gallertartige, elastische Masse, und eine schwindsüchtig heisere Stimme sagte:
»Au! so gib doch Acht, du trittst mir ja auf den Bauch!«
Und nun bemerkte ich, daß mein Schatten, der so klar auf der schimmernden Fläche lag, sich aufgebläht hatte und sich als dunstiger Körper vom Boden abhob. Er stützte sich halbliegend auf seinen linken Ellbogen; seine rechte Hand, die einem bläulichen Rauchwölkchen gleich sah, streckte er gegen mich aus, wie jemand, der will, daß man ihm beim Aufstehen behilflich sei.
Schleunig trat ich einen Schritt zurück, um diesen unverschämten Rebellen vermittelst der optischen Gesetze in die gebührenden Schranken zu weisen. Aber es war zu spät. Er hatte sich schon emanzipiert und allen Respekt vor den altbewährten Naturgesetzen verloren. Schwerfällig unbeweglich blieb er auf der Stelle liegen, losgetrennt von der Gestalt, mit der er fünfundzwanzig Jahre unauflöslich verbunden gewesen war.
Ich dachte, daß ihm vielleicht durch gütliches Zureden noch beizukommen wäre.
»Was fällt dir ein?« sagte ich vorwurfsvoll. »Das geht doch nicht, daß du dich auf einmal benehmen willst, als wärest du dein eigener Herr. Sei gescheit; lege dich wieder hin, wie sichʼs gehört, und laß mich weiter gehen. Habe ich nicht Kummer genug? Willst auch du mir abtrünnig werden und mich allein lassen?«
Er kehrte sich nicht an meine Worte. Mit blindem Eifer, pustend und stöhnend, suchte er sich auf die Beine zu stellen. Dabei schlotterte er am ganzen Leibe vor Anstrengung; krampfhaft klammerte er sich an die Mauer, um sich im Gleichgewicht zu erhalten.
Recht kläglich sah er aus, in die Länge gezogen, schwarzblau vom Kopf bis zu den Füßen, und ganz unausgearbeitet in den Details, nur gerade der notdürftige Umriß eines weiblichen Wesens. Er hatte sich einige Körperlichkeit gegeben, indem er sich zu einem wolkigen Dunst aufblies; aber durch seinen transparenten Leib schien die fleckige Mauer hindurch; und was er an Rundung gewonnen hatte, war ihm an Dichte verloren gegangen.
Ich versuchte es noch einmal mit der Güte. »Du warst ja bis jetzt ein braver, folgsamer Schatten! Oder hättest du auf einmal den Ehrgeiz, aus einem Schatten ein Geist zu werden? Da wärst du was rechtes! Kein Mensch hat mehr Achtung vor Geistern; selbst der »höchste Geist« ist in Mißkredit gekommen. Und überlege doch: hast du als ein solider, wohlversorgter Schatten, für den ich in allen Lebenslagen mit meiner Person einstehe, nicht eine angenehmere Existenz, als wenn du zum Geist würdest und etwa jedem schäbigen Medium Rede stehen müßtest ? So lange du mein Schatten bist, hat dir niemand außer mir was zu befehlen; aber als vazierender Geist hättest du keine andere Aussicht für deine fernere Laufbahn, als dich bei den Spiritisten mit Alphabetklopfen abzurackern und am Ende gar als unorthographischer Geist zum Gespötte der Ungläubigen zu werden.«
Dennoch machte er keine Miene, seinen erbgesessenen Platz wieder einzunehmen.
Nun riß mir die Geduld. Drüben auf der anderen Seite der Straße lag der Häuserschatten als ein breites, dunkles Band; ich brauchte nur hinüberzugehen, und dann mußte es sich zeigen, wie weit mein rebellischer Schalten mit seiner Selbständigkeit reichte.
Kaum hatte ich den ersten Schritt hinüber gemacht, so hing er auch schon hilflos an meinen Rockfalten.
»Halt, halt!« rief er mit seiner schwachen, unangenehmen Stimme, die klang, als wenn eine Kleiderbürste auf einem Papier gerieben würde. »Bringe mich doch nicht um, kaum daß ich das Licht der Welt erblickt habe.«
Da mußte ich lachen.
»O du Renommist! Das Licht der Welt? Hast du schon vergessen, daß zwischen dir und dem Lichte der Welt ich stehe? Und nun willst du dieses Ich, das dich gezeugt hat, in Pension setzen wie einen ausgedienten Feldwebel, um ferner ohne seine Vermittelung in Beziehung zu dem Lichte der Welt zu treten!«
Er räusperte sich langwierig; das Reden schien ihm beschwerlich zu sein. Dann sagte er mit etwas besserer Stimme in einem Tone zwischen kriechender Schattendemut und heimlichem Geisterhochmut:
»Da ich also dein Werk bin, warum redest du Dinge, die nicht hergehören? Warum verhöhnst du mich nun dessentwegen, was du selbst mit aller Gewalt herbeigeführt hast? Bin ich nicht der Triumph deiner Technik? Hast du nicht dein Ich unbarmherzig geschunden, um mich mit seiner lebendigen Haut auszustatten? Hast du mir nicht deinen Atem eingehaucht, bis ich aufgeblasen worden bin? Hast du mich nicht gefüttert mit deinem Fleisch und Blut? Hast du mir nicht eben früher dein eigenes Herz zum Fräße hingeworfen? Ich habʼ es, ich habʼ es, dein Herz, ich habʼ es und gebʼ es nicht mehr her!«
Er machte einen sonderbaren Luftsprung; dabei spaltete er sein dünnes Schattenkleid und verwandelte sich auf diese Weise in einen männlichen Schatten. Mit jedem Augenblick schien er kräftiger, selbständiger zu werden; in seinem Innern glaubte ich auf einmal einen undurchsichtigen festen Kern zu bemerken. Sollte das wirklich mein Herz sein? Mich überliefʼs; ich begann mich zu fürchten. Das ist etwas, was ich ungern eingestehe, nicht einmal mir selbst: ich tat, was man gewöhnlich tut, um eine beschämende Tatsache zu bemänteln, ich begann zu schimpfen.
»Lügner, frecher, unanständiger Lügner! Ich hätte dir mein Herz, mein gutes, volles, lebendiges Herz zugeworfen, ich dir? Aber wenn du schon mein Herz zu haben vorgibst, Elender, so zeig es her, beweise deine Behauptung. Ja, beweise, beweise, wenn du kannst!«
Da stellte er sich mit gespreizten Beinen vor mich hin. Und mitten in seiner blauschwarzen Brust, wie ein Stern durch eine Rauchwolke, schimmerte es rötlichgelb. Eilig suchte ich denn ich bin sehr kurzsichtig meine Lorgnette aus der Tasche. Kein Zweifel! Es war mein Herz, das er da in der .Brust trug! Es sah aus wie ein Lebkuchenherz, schön verziert mit blauen und roten Adern, und auch der Zettel ,mit dem Sinnspruch fehlte nicht. Deutlich stand darauf zu lesen:
Glaube, Hoffnung, Liebe sind die drei;
Eins wenn fehlet, breche ich entzwei.
»Gib es mir augenblicklich zurück!« sagte ich, meine Hand danach ausstreckend. »Mit einem so sentimentalen Herzen darf man keine Experimente machen, das sehe ich jetzt. Ich will es künftig in Ehren halten. Also gib her, und mit Vorsicht, hörst du?«
Er hielt sich beide Hände vor die Brust und wich zurück. Meine Angst stieg aufs Höchste.
»Räuber, Dieb, Schurke, gib mir mein Herz zurück«, schrie ich und stürzte mich auf ihn, um es ihm mit Gewalt zu entreißen.
Aber ich stürzte ins Leere. Da lag ich, schmählich zu Boden gestreckt durch mein eigenes Gewicht. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, daß mein Schatten die Flucht ergriffen hatte. Er war schon weit weg; schnell und geräuschlos glitt er an den weißen Häuserwänden entlang. Dann bog er um die Ecke.