Was blieb mir übrig, als ihm nachzulaufen? Doch als ich an die Ecke kam, war von meinem Schatten straßauf straßab keine Spur mehr zu entdecken.
Und o Schrecken! In meiner Brust rührte sich nichts. Dort, wo sonst jenes närrische, einfältige, wunderliche Ding hüpfte, das Herz, war alles still und tot; ich fühlte nur eine dumpfe Leere, eine unbehagliche Kühle an der Stelle, die es einzunehmen pflegte.
Aus der Ferne kam der Rayonposten schläfrig durch den Schnee gestapft. In meiner Ratlosigkeit ging ich ihm nach und fragte ihn, ob er nicht jemanden vorüber laufen gesehen habe.
Nein, er hatte niemanden gesehen. Wer denn vorübergelaufen sein sollte?
Jemand, der mir mein Herz gestohlen hatte.
Der Rayonposten ermunterte sich ein wenig.
Gestohlen? Jetzt eben? Auf offener Straße?
Ja, eben jetzt auf offener Straße.
Also ein Raubattentat? Das Herz samt der Uhr? Vielleicht auch die Geldbörse?
Nein, bloß das Herz.
Ein silbernes oder goldenes?
Nein, nein, mein wirkliches, lebendiges Herz, kein bloßes Uhr- oder Armbandanhängsel.
Der Rayonposten sah mich mißtrauisch an.
»Aber Sie sind ja ganz wohlauf, meine Liebe,« sagte er. »Wollen Sie sich einen Scherz mit mir erlauben? Und überhaupt, was machen Sie denn so ganz allein nach Mitternacht auf der Gasse? Das schickt sich nicht für ein anständiges Fräulein «
Er warf einen außerordentlich scharfen Blick auf mich und schien sich auf die in solchen Fällen der Tugend der Rayonposten angemessene Grobheit vorzubereiten.
Ich beeilte mich, ihm mitzuteilen, daß ich kein Fräulein, sondern eine verheiratete Frau sei.
Die Wertschätzung des Rayonpostens befestigte sich wieder ein wenig. Er sagte mit einer Anwandlung von Galanterie:
»Hm, an Stelle Ihres Herrn Gemahls würde ich . Sie um diese Stunde nicht so allein herumgehen lassen!«
O ahnungsvoller Rayonposten! Er griff mit sicherer Hand hinein in das Gewebe schicksalsvoller Gedanken und Begebenheiten, in das ich mich während dieser Nacht verstrickt hatte. So widerstand ich nicht der Versuchung, ihm meine Leiden anzuvertrauen. Es liegt ja eine solche Erleichterung darin, sich seine Beschwerden von der Seele herunterzureden, selbst wenn es nicht die richtige Adresse ist, an die sie gelangen! Nebenbei bemerkt, war der Rayonposten wirklich ein ungewöhnlich hübscher Mann. Das weibliche Geschlecht soll zwar nach der allgemeinen Ansicht wenig Gewicht auf die männliche Schönheit legen und sich bloß an die geistigen Vorzüge halten; aber es ist anzunehmen, daß diese allgemeine Ansicht von den häßlichen Männern herstammt.
»Sie müssen wissen, ich bin noch nicht gar lange verheiratet,« sagte ich vertraulich; »heute ist es genau drei Monate und zwei Wochen her. Sind Sie vielleicht auch verheiratet?«
»Verheiratet gerade nicht,« versetzte der Rayonposten, ebenfalls vertraulich.
»Ach Gott, dann können Sie sich unmöglich vorstellen, was es heißt, drei Monate und zwei Wochen verheiratet zu sein!«
Der Rayonposten schmunzelte. »Warum nicht? Das muß eine ganz angenehme Zeit sein das sind ja die sogenannten Flitterwochen.«
»Nein, diese Zeit bedeutet schon das Ende der sogenannten Flitterwochen. Ach das ist es ja eben! Jetzt beginnt die Zeit der Enttäuschung!«
»Na, es wird nicht so gefährlich sein!«
»Ich weiß nicht, ob Sie Schiller gelesen haben aber selbst dieser Schiller, bekanntlich ein Idealist, sagt: Mit des Lebens schönster Feier endet auch der Lebensmai. Er verhält sich also schon gegenüber den Flitterwochen skeptisch. Hingegen bezeichnet Jean Paul dreieinhalb Monate als den Termin, an dem es für Eheleute angezeigt sei, höflich miteinander zu werden. Und gar Schopenhauer kurzum, es ist grausam! Ich habe keine ruhige Stunde mehr. Bei jedem gleichgültigen Worte denkʼ ich: so, jetzt ist es aus! Jetzt hat er verraten, daß es schon aus ist! Es gibt Töne in seiner Stimme, Töne ach Töne, bei denen ich glaube, das Herz steht mir still, Töne so voll Gleichgültigkeit, voll Kälte, voll Fremdheit ! Und dabei sich immer zu fragen, ob diese Töne nicht bloße Ausgeburten des Argwohns sind! Nicht bloße Selbsttäuschungen! Haben Sie schon einmal über das Kapitel der Selbsttäuschungen nachgedacht? Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, fangen Sie nie damit an! Das ist ein Labyrinth, ein Abgrund, eine unterirdische Höhlenwelt, aus der es keinen Ausweg gibt. Es ist eine verzauberte Wüstenei, in der man von bösen Geistern ewig im Kreis herumgeführt wird. Es ist ein Fegefeuer, in dem man die Sünden der Skepsis am eigenen Leibe büßen muß. Weh dem, der die Kraft des Glaubens nicht hat! Es genügt nicht, daß man liebt; man muß auch an die Liebe glauben, glauben an seine eigene Liebe! Der Zweifel bricht uns das Rückgrat und dann sind wir allen gemeinen Mächten ausgeliefert, ein Spielzeug unserer eigenen Geschöpfe, Sklaven unserer eigenen Sklaven «
»Ich weiß aber noch immer nicht, warum Sie sich so spät allein auf der Gasse herumtreiben,« sagte der Rayonposten.
Er gehörte vermutlich zu jenem Publikum, das mehr auf Handlung als auf psychologische Beobachtungen Gewicht legt.
»Also daß ich es kurz sage: heute ist er zum erstenmal, seit wir verheiratet sind, wieder in den Klub gegangen. Natürlich allein, ohne mich! Konnte es ein deutlicheres Symptom geben? Ich war außer mir aber ich ließ ihn nichts merken. Denn die Liebe ist leider eine furchtbar komplizierte Sache. Gewiß, wenn ich gesagt hätte: »Bleibe bei mir zu Hause, es kränkt mich, daß du mich allein läßt,« er wäre zu Hause geblieben. Daran zweifle ich beinahe nicht. Aber Liebe will erraten sein. Wir hätten es so leicht, wir wissen, daß sich alles fände, wenn wir nur ein Wort sagten aber das ist es eben! Wir wollen dieses eine Wort nicht sagen, denn wir wollen erraten sein.«
Der Rayonposten räusperte sich.
»Nun, er erriet nichts. Wohlgemut wusch er sich die Hände und band eine frische Krawatte um, bevor er fortging; dann küßte er mich und fragte zerstreut denn er war mit seinen Gedanken schon aus dem Hause :
»Was wirst du denn machen, bis ich nach Hause komme, mein Herz? übrigens komme ich sicher noch vor Mitternacht.«
»O, ich werde mir die Zeit schon vertreiben,« sagte ich und lachte, während er fortging. Kaum aber war er fort, so rannte ich davon.
Ich hätte um keinen Preis länger zu Hause bleiben können, in diesen Wänden, die mich einst so maßlos glücklich gesehen hatten. Ich weiß nicht, wohin ich lief. Ich glaube, ich hatte die Absicht, eine lange Reise anzutreten oder auf immer spurlos zu verschwinden.
Später gab ich diese Absicht wieder auf. Ja, endlich, nachdem eine ganze Legion verzweifelter Gedanken, wer weiß wie lange, in meinem Gehirne hin und her galoppiert war, kam mir auf einmal ein neuer Gedanke, ein frappierender Gedanke, ein phänomenaler Gedanke, der meinen Fall in ein vollständig verändertes Licht setzte.
Wie, wenn vielleicht meine eigenen Empfindungen es wären, die sich schon zu verändern beginnen? Wie, wenn die Ernüchterung am Ende bei mir selber anfinge oder vielmehr schon angefangen hätte? Gerechter Gott, wenn dieser erbärmliche Argwohn, dieses widerwärtige Auflauern und Behorchen, diese feige Zweifelsucht nur Symptome dafür wären, daß ich ich ich diejenige bin !«
An diesem Punkt meiner Bekenntnisse fiel mir mein Schatten wieder ein. Ich halte gänzlich vergessen, auf ihn zu achten, während ich dem Rayonposten mit jener nüchternen Tatsächlichkeit, die im Verkehr mit Rayonposten angezeigt ist, mein Schicksal erzählte.
Sollte ich fortsetzen?
Er war zwar ein schöner Mann, aber bei längerer Bekanntschaft schien es mir, als ob der Umgang mit Geistern nicht seine starke Seite wäre. Hatte er doch nicht einmal noch bemerkt, welche Bewandtnis es mit meinem Schatten hatte!
Sollte ich fortsetzen?
Er war zwar ein schöner Mann, aber bei längerer Bekanntschaft schien es mir, als ob der Umgang mit Geistern nicht seine starke Seite wäre. Hatte er doch nicht einmal noch bemerkt, welche Bewandtnis es mit meinem Schatten hatte!
Ich warf einen geringschätzigen Blick nach der Richtung hin, wo der Schatten des Rayonpostens mit der Plattheit der gewöhnlichen Schatten auf dem Boden lag und siehe da, ganz als wäre nichts vorgefallen, lag daneben mein eigener Schatten in friedlichem tête-à-tête mit der Pickelhaube, die sich kokett auf der blanken Schneefläche abzeichnete. Er mußte unvermerkt zurückgeschlichen sein und wahrhaftig, da drinnen an der alten gewohnten Stelle klopfte es auch; wieder in der alten gewohnten Weise, dieses närrische, einfältige, wunderliche Ding, mein Herz, mein Herz!
Der Rayonposten sah auf seine Taschenuhr.
»Es ist dreiviertelzwei vorüber,« sagte er und gähnte. »Um zwei Uhr werde ich abgelöst; kommen Sie mit mir aufs Kommissariat, damit Sie den Vorfall bezüglich des Herzens zu Protokoll geben können «
Dreiviertel auf zwei! Also wartete er seit zwei Stunden zu Hause, ohne zu wissen, was mit mir geschehen war! Mein Herz, wie alle verlorenen und zurückgekehrten Söhne, machte seine Hausherrnrechte geltend; ich ließ den Rayonposten im Stich und schlug spornstreichs den Weg nach Hause ein, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzusehen, ob mein Schatten hinter mir folgte oder nicht. Ich lauschte auf die Schläge meines Herzens, ganz selig, daß es so unverdrossen darauf los pochte.
»Poche, poche, liebes Herz,« sagte ich immer wieder voll Rührung. Es fiel mir gar nichts anderes ein; aber wie froh war ich, daß mir nichts anderes einfiel!
Erst beim Haustor kam mein Schatten mir wieder vor die Augen. Er gab kein Lebenszeichen von sich; flach und geknickt lehnte er halb auf dem Boden und halb auf dem hölzernen Torflügel.
Und während ich ungeduldig an der Hausglocke Sturm läutete, enthielt ich mich nicht, meinem Schatten zu sagen: »Du sollst mir keine Possen mehr spielen! Denn jetzt weiß ich, wie man Schatten behandelt: man muß sie ignorieren, wenn man über sie Herr bleiben will.«
Grotesk-Pantomime
Da entstand eine jener Pausen, die in einer Gesellschaft zuweilen ohne Anlaß das lebhafteste Gespräch unterbrechen.
»Ein Engel geht durchʼs Zimmer!« sagte jemand lachend.
Nein, kein Engel!
Ich wußte wohl, wer eingetreten war, noch ehe ich ihn sah.
Und schon stellte er sich mir gegenüber mit seinem weißen, kahlen Dämonengesicht und lächelte mich an. Er lächelte immer; dieses eisige, schneidende, hohnvolle Lächeln war wie eingefroren in seine Miene.
Züngelnd äugte seine Schlange aus seinem Ärmel hervor. Wie ihre klugen Augen funkelten! Er wand sie von seinem Arme los und ließ sie auf den Boden gleiten. Sie kam auf mich zu.
Die Andern setzten ihr Gespräch heiter fort. Denn sie wußten nicht, wer da war. Seine Schlange aber kroch an mir herauf und ringelte sich um mein Herz, kalt, kalt!
Dann nestelte er seinen schwarzen Talar über der Brust auf. Dort trug er seinen Spiegel wie ein breites Hohepriesterschild. Der Spiegel war verschlossen; auf dem Deckel leuchtete die diamantenbesetzte Inschrift mit fürstlichem Glänze.
Und ich las es wieder, das Wort, das dort prangte, das große, das verlockende, das tötliche Wort:
Wahrheit.
Ah der Gaukler! Wer weiß, wie dieses Juwel in seine unreinen Hände gekommen ist! Wo er diesen Talisman gestohlen hat, dessen magische Kraft er mit boshafter Lust mißbraucht! Tausendmal verflucht die törichten Künste, mit denen ich ihn zuerst heraufbeschworen habe! Tausendmal verflucht die Stunde, in der er mir zuerst erschienen ist!
Er lächelte eisig. Und lächelnd öffnete er das Schloß und schlug den Deckel zurück. Die zauberische Fläche glänzte mich an; ich konnte meine Augen nicht mehr abwenden.
Von dem goldenen Rahmen eingefaßt lag das Bild des Zimmers darin wie eine winzige Bühne. Die Anwesenden erschienen, weit in die Ferne gerückt, als zierliche Püppchen, die mit wichtigen Geberden Theater spielten. Und ich selbst war mit dabei; ich agierte wie die Andern und lief hin und her mit Gezappel und Gezeter. Aber dieses kleine Ich auf der Bühne stand in einem geheimnisvollen Zusammenhang mit dem großen Ich. das da als Zuschauer bei Tische saß. Alle seine Sprünge und alle seine Possen, seine tragischen und seine lustigen Capriolen, sein Gelächter und seine Tränen, ich erlebte sie mit. Ich empfand alle Verantwortlichkeit für das Wesen, das sich dort herumtrieb. Wie eine Mutter, deren Tochter eben ausgepfiffen wird, saß ich im Parterre; und so oft mein kleines Ich den Mund öffnete, bekam ich vor Lampenfieber Herzklopfen.
Nun begannen die auf der Bühne jenen Tanz, genannt Ballabile der Erkenntnis. Er bestand darin, daß sie sich gegenseitig einen großen, harten, grünlichen Apfel zuwarfen, mit dem sie Ball spielten.
Ach, ich kannte dieses barbarische Spiel gar wohl und auch den unreifen Apfel, der da hin- und herflog und Beulen schlug, wohin er traf. Die andern, die wichen gewandt nach rechts und nach links; sie bogen sich vor, sie bogen sich zurück und fingen den Apfel und warfen ihn weiter mit Schalkheit und Geschick.
Nur mein kleines Ich begriff das Spiel nicht. Tölpelhaft stand es da und ließ den Apfel auf seine Brust, auf seinen Scheitel niederprallen. So oft es getroffen wurde, zog es sich schmerzhaft in sich zusammen, als war es eine Schnecke, die gern in ihr Haus kröche, wenn sie nur eins hätte. Indessen nahmen ihm die andern den Apfel vor der Nase weg und tanzten in leichtem Wirbel davon.
Ergrimmt über die Mitleidenschaft, in die ich gezogen war, rief ich meinem kleinen Ich zu: »Du Tölpel, warum spielst du da mit? Merkst du denn nicht, daß du kein Tänzer bist? Herunter mit dir! Ich kann deine dilettantischen Possen nicht länger ertragen.«
Aber mein kleines Ich war ganz toll und närrisch; je öfter es getroffen wurde, desto erpichter schien es auf den Tanz zu sein. Es stolperte und stotterte von einem zum andern in rätselhafter Verwirrung. Es machte unverständliche Gebärden, halb pathetisch und halb possenhaft; es knixte mit untertänigem Zähne- fletschen immer hinter demjenigen her, der gerade den Apfel in Händen hielt. Ich konnte mir seine Absichten nicht erklären; nur in seinem atemlosen Gesicht las ich, wie es innerlich voll Angst, voll Zorn, voll Verzweiflung war. Neben dem gleichmütigen Ballerinen- lächeln der andern nahm sich diese Miene ganz verächtlich aus.
Da geschah es, daß mein kleines Ich den Apfel einmal fing. Mit gierigen Blicken betrachtete es ihn von allen Seiten. Himmel es sah ganz so aus, als ob ihm der Mund danach wässerte! Es wollte alles Ernstes in diesen sauren Apfel beißen!
Auch die auf der Bühne errieten den thörichten Vorsatz, mit dem mein kleines Ich umging. Sie suchten ihm den Apfel zu entlocken; und da es ihn gutwillig nicht herausgab, machten sie kurzen Prozeß. Sie waren ihrer sieben gegen einen; was half da sein Sträuben und Strampeln!
Kaum war der Apfel aus seinen Händen, so verfiel es wieder in seine täppische Untertänigkeit; es schien gewillt, das Spiel gleich von vorne zu beginnen.
Das also warʼs! Nach disem Apfel, nach diesem ungenießbaren, sauren Apfel ging sein Streben! Welchen geheimnisvollen Wert besaß dieser Apfel in seinen Augen? Dachte es vielleicht, weil einmal um eines Apfels willen ein Paradies verloren gegangen war, so könnte durch diesen Apfel ein Paradies zurückgewonnen werden? Hielt es diesen Apfel für das magische Arkanum, das man zu sich nehmen mußte, um Glück und Macht zu erlangen? »Weißt du denn nicht,« rief ich, »daß dieser Apfel nur zu einem überlegenen Spiel bestimmt ist? Weißt du denn nicht, daß man sich nur ein Magendrücken auf Lebenszeit zuzieht, wenn man sichʼs einfallen läßt, Ernst zu machen und den Apfel zu essen?«