«So ein Häuschen war mein Traum gewesen», erinnert sie sich später. «Und Träume, so seltsam das ist, gehen manchmal in Erfüllung.»
Anfangs hatte Ralf gar nicht heiraten wollen, und auch Ljuba hatte es nicht vorgehabt; doch dann war sie schwanger geworden.
Manchmal in der Pause kommt Ljubas Tochter zu uns herübergelaufen, ein Mädchen von dreizehn. Russisch kann sie ein bisschen verstehen, sprechen jedoch nicht.
Was mich betrifft
Seit Herbst 2004 bin ich in Deutschland. Meine Tochter Katharina ist drei Monate alt. Ich besuche einen abendlichen Deutschkurs der Volkshochschule. Es ist meine zweite oder dritte Niveaustufe.
Die vorigen Kurse habe ich als Schwangere besucht; und als recht fleißige Schülerin, die am Ende auf die Fragen «Wie heißt du? Woher kommst du?» antworten konnte. Und die panische Angst hatte, in eine der kleinen Boutiquen einzutreten, wo sofort die Verkäuferin auf dich zustürzt und fragt: «Kann ich Ihnen helfen?»
Ehrlich gesagt bin ich dieses Mal keine so gute Schülerin; die Tochter nimmt meine ganze Zeit in Anspruch. Bisweilen lass ich den Kurs ausfallen; mein Mann kommt oft später von der Arbeit heim. Die Hausaufgaben mach ich flüchtig nebenher.
Als sie hört, dass ich Grundschullehrerin bin, sagt Ljuba: «Es bräuchte eine russische Schule hier am Ort. Vor ein paar Jahren hat die Stadt zahlreiche Übersiedler aufgenommen: Juden und Russlanddeutsche. Viele Familien wollen, dass ihre Kinder Russisch lesen und schreiben können. Wie wärs, wenn wir an die russische Botschaft in Berlin schreiben vielleicht würden die uns unterstützen?»
Frau Ljuba entwirft einen entsprechenden Brief. Ich passe ihn an den geltenden Stil formeller Korrespondenz im Russischen an. Das Schreiben senden wir nach Berlin an die Botschaft der Russländischen Föderation in Deutschland.
Eines Tages klingelt bei mir daheim das Telefon. Ein Mitarbeiter der Botschaft erklärt mir in höflichem Ton, dass die Gelder für Projekte aller Art bereits sämtlich verplant seien. Aus der Unbestimmtheit seiner Worte ist herauszuhören, dass der russische Staat kein Interesse daran hat, eine Schule in diesem abwegigen kleinen Ludwigsburg zu unterstützen.
Frau Ljuba ist traurig. Eigenständig solch eine Schule aufzuziehen, daran ist bei dem geringen Einkommen als Lehrerin und dem, was sie als Alleinerziehende von ihrem Mann bekommt, nicht zu denken.
Und wir unsererseits leben in zwei getrennten Wohnungen.
Kapitel 5
Februar 2019
Deutschland, Monte Scherbelino bei Stuttgart
Raum für alle hat die Erde
Friedrich SchillerDer Gipfel des Berges, den wir heute besteigen, besteht aus den Trümmern von Häusern und Bauwerken, die im Zweiten Weltkrieg bei den Bombardierungen durch amerikanische und englische Flugzeuge in den Jahren von 1940 bis 1945 zerstört wurden.
Der Weg windet sich in Serpentinen in steiler Steigung empor. Oben ragt ein Kreuz, ringsum der weite Himmel. Luft und Licht allüberall.
Und das Gefühl: Die Welt gehört dir. Sie ist endlos. Und liegt dir zu Füßen, dort unten.
360 Grad um dich herum: wunderschönes Blau.
Doch außerdem: die Überreste von Gebäuden.
Ich stehe auf dem höchsten Punkt eines Trümmerhaufens und blicke auf das Kreuz und in den Himmel. Er ist sehr hell und klar, ohne ein einziges Wölkchen, makellos rein und sehr groß. In ihm ist Stille.
Nur die Steine unter meinen Füßen die leben. Ich spüre, wie viel sie wissen. Behutsam schaue ich um mich herum. Da eine Säule Dort ein Rundbogen Hier eine Löwenfigur
Ich lege dem Löwen die Hand auf den Kopf. Ein Stück vom Maul ist ihm abgeschlagen. Ich streiche über seine wellige Mähne. Sie ist warm Heute ist ein sehr warmer, sonniger Tag.
Nach Hause zurückgekehrt, öffne ich Wikipedia.
«1,5 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt von den zerbombten Gebäuden wurden auf den Birkenkopf geschafft.
«Im Lauf des Krieges wurden 142 000 Bomben über Stuttgart abgeworfen.»
«4590 Menschen verloren durch die Luftangriffe ihr Leben.»
«Durch die Bombardements wurden in der Stadt 3912 Gebäude zerstört oder beschädigt.»
«Die Alliierten verloren bei den Angriffen auf Stuttgart 300 Flugzeuge und 2400 Angehörige ihrer Luftwaffe.»
Ich greife nach einem Blatt Papier und einem Kugelschreiber und beginne rasch zu schreiben. Auf Deutsch.
Der Himmel (Himmelblau überall)
Ist hier ein Gott.
Kein Wind, sehr still und friedlich
An diesem Ort.
Man spürt nur, wie atmet
Ein alter Berg
Und zwischen Krieg und Frieden
DU, als Mensch, ein Zwerg.
Kapitel 6
Winter 20052006
Ein kleinesDorf am Bodensee
Mein Mann, von Beruf Maschinenbauingenieur, hat einen neuen Auftrag: von einem Konzern, der Flugzeuge herstellt. Das Konstruktionsbüro befindet sich in einem kleinen Ort am Bodensee. Die Firma hat ihm eine nette kleine möblierte Wohnung gemietet, in einem Dorf in der Nähe, mit Schlafzimmer und einem Wohnraum mit Küchenzeile.
In der ersten Zeit kommt er freitagabends heim und fährt montags früh wieder zur Arbeit. Den Bodensee und Ludwigsburg trennen zwei Autostunden und etwa zweihundert Kilometer. Ich bin unter der Woche allein zu Hause und rund um die Uhr mit dem Baby beschäftigt.
Für mich ist das arg erschöpfend; ich habe keinerlei Hilfe, von den Freunden oder Verwandten lebt niemand in der Nähe.
Und so beschließen wir, gemeinsam an den Bodensee zu ziehen. Von der Arbeit heimgekommen, kümmert sich mein Mann gern um das Töchterchen, und ich bin froh, draußen etwas Luft zu schnappen und ein Stückchen Freiheit zu genießen.
Hingehen kann man eigentlich nirgends. Im Dorf gibts eine Bäckerei, einen Metzgerladen, ein kleines Lebensmittelgeschäft und eine Weinhandlung. Letztere ist etwas Besonderes. Das Dorf liegt rings umgeben von Weinbergen, die ebenso wie die Weinhandlung von Generation zu Generation weitergeführt werden und seit vierhundert Jahren ein und derselben Familie gehören.
Als ich einen Blick in den Laden werfe, entdecke ich ungewöhnliche Weine, bei regionalen Ausstellungen mit Goldmedaillen prämiert.
Die freundliche Inhaberin erklärt mir, dass man jeden dieser Weine probieren dürfe. Als ich auf eine Flasche deute, die sich aber als noch ungeöffnet erweist, zieht die Dame ohne zu zögern rasch und professionell den Korken ab und gießt mir von dem Wein in ein kleines Plastikglas.
Ich erzähle meinem Mann dieses Erlebnis.
«Da siehst du, was es heißt, auf dem Dorf zu leben!» lacht er. «Stell dir vor, was passieren würde, wenn ein Supermarkt in Moskau eine, Weinprobe» anböte? Manche würden sich am Eingang häuslich niederlassen.»
An den Wochenenden fahren wir heim in die Stadt.
Kapitel 7
Winter 20052006
Deutschland, ein altes kleines Haus nahe Ludwigsburg
Zurückgekehrt in das alte Häuschen in der Nähe von Ludwigsburg, in dem wir ein Jahr vor der Geburt unserer Tochter eine Wohnung gemietet haben, schalten wir als Allererstes mal sofort überall die Heizung an.
Dies alte Haus wie im Bilderbuch siehts aus, pastellfarben angestrichen, mit Blumen auf dem Fenstersims und einem Vorgärtlein ist schön bloß im Bilderbuch. In Wirklichkeit ist das eine Behausung, die man nie richtig durchgeheizt bekommt.
Dies alte Haus wie im Bilderbuch siehts aus, pastellfarben angestrichen, mit Blumen auf dem Fenstersims und einem Vorgärtlein ist schön bloß im Bilderbuch. In Wirklichkeit ist das eine Behausung, die man nie richtig durchgeheizt bekommt.
Das Badezimmer ist riesig, mit Heizkörper. Es hat Duschkabine und Badewanne. Doch selbst bei eingeschalteter Heizung ist es dort kalt, als ob die Wärme sofort nach draußen entwiche. Ich muss all meinen Mut zusammennehmen, um mich ganz rasch auszuziehen, worauf ich dann in die Duschkabine hüpfe und eilends das warme Wasser aufdrehe. Etwa drei Minuten lang strömt eiskaltes Wasser auf meine Füße, dann wirds ganz allmählich warm.
In der Küche gibt es überhaupt keinen eingebauten Heizkörper. Deshalb schalte ich einen Ölradiator ein. Wenn wir Pech haben und im selben Augenblick der Kühlschrank anspringt, fliegen in der ganzen Wohnung die Sicherungen raus.
Dann müssen wir über die knarrende Holztreppe, bei der jeder Schritt das ganze Haus laut erkrachen lässt, hochstapfen zu unserem Vermieter. Er wohnt zwei Stockwerke höher, unterm Dach, und ist sozusagen der Herr über sämtliche Sicherungen im Haus.
Dieser arbeitslose Deutsche ist sehr sparsam und lebt von dem Geld, das er von uns und von den Leuten in der Nachbarwohnung als Miete bekommt.
Dass er am warmen Wasser spart, lässt sich aus der Geruchswolke vermuten, die er im Vorbeigehen auf der Treppe und im Hausflur um sich verbreitet.
Wenn ich die Wohnung misslicherweise gerade dann verlasse, nachdem Jörg soeben durchs Treppenhaus gegangen ist, halte ich so lange den Atem an, bis ich draußen auf der Straße die rettende frische Luft erreicht habe.
Das Übrige weiß ich von seiner Frau (sie kommt aus Bosnien), die sich oft beklagt, dass ihr Mann ihr als Haushaltsgeld nur einen Euro pro Tag gibt. Wie so viele Ausländerinnen verdient sie sich dazu, indem sie als Putzfrau schwarzarbeitet.
Unwillkürlich frage ich mich, wie viele solcher Ehefrauen, die putzen gehen müssen unglückliche, abhängige, gedemütigte Ausländerinnen , in diesem Land leben mögen?
Oftmals dringt durch zwei Stockwerke hindurch hysterisches Geschrei durchs Haus, Aufstampfen, Weinen; es hört sich an, als ginge Mobiliar zu Bruch: Unsere Nachbarn beschimpfen und prügeln sich.
Wir aber, nachdem wir für unsere praktisch nur an den Wochenenden benutzte Wohnung eine Heizkostenrechnung erhalten haben, die fast die Höhe unserer monatlichen Miete übersteigt, machen uns auf die Suche nach einer anderen Wohnung.
Schließlich übersiedeln wir nach Marbach, weltbekannt als der Geburtsort Friedrich Schillers.
Kapitel 8
Herbst 2006
Deutschland, Marbach
Freundschaft mit Anita aus Bosnien
An einem warmen Herbsttag lernen wir bei einem Spaziergang durch die alte Ortsmitte des Städtchens Marbach eine anmutige und sehr junge Mutter mit einem niedlichen kleinen Mädchen kennen. Es ist Anita mit ihrer Tochter Franziska. Anita kommt aus Bosnien. Franziska ist in Deutschland geboren.
Die beiden Mädchen freunden sich rasch an. Wenn man sie zusammen sieht, muss man an das Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot denken: Katharina, hellhäutig, mager, mit grauen Augen, und Franziska mit ihrem bräunlichen Teint, den blitzenden beerenschwarzen Äuglein und den dunklen Locken.
Anitas Familie ihr Mann ist als Kind aus Tunis nach Deutschland gekommen wird uns für die nächsten fünf Jahre zu Freunden.
Anita hat sichtlich Talent für Sprachen. Mit achtzehn, auf Besuch bei ihrer Tante, lernte sie Franz kennen, und sehr bald waren sie verheiratet. Ohne je einen Sprachkurs zu besuchen, fand sie sich ins Alltagsdeutsch hinein, indem sie zuhörte, wie ihr Mann und ihr Schwiegervater sprachen.
Als Heranwachsende hatte sie die Bombardierungen Bosniens erlebt. Dort, im Keller des Hauses sitzend, hatte sie sich von sauer gewordener Milch ernährt. Jetzt in Deutschland ist sie absolut nicht wählerisch im Essen. Obwohl sie von Beruf Köchin ist und ausgezeichnet kochen kann.
Für mich und Katharina, die mit drei Jahren in den Kindergarten geht, bedeutet der Umgang mit Anita und Franziska eine gute Übung im Deutschen.
Kinderkrippen für unter Dreijährige gibt es in der Stadt nicht. Das heißt: eine einzige ist da aufgenommen werden ein Dutzend Kinder. An Einwohnern hat Marbach um die elftausend.
Wir treffen uns häufig, gehen auf den Spielplatz, trinken daheim Tee. Manchmal bastele ich mit den Kindern, und Anita sagt, ich machte das sehr richtig, wie eine Lehrerin.
Oft streiten sich die Kinder lauthals um das Spielzeug; dann bedaure ich, dass wir die Spielsachen nicht doppelt haben: jedes in zwei Exemplaren.
Kapitel 9
Januar 2008, Russland, Smolensk
Anton Denisjenko. Zwanzig Jahre danach
Noch in Moskau hatte mir Rusanna, eine Freundin aus dem Studium, von einem neuen Internetportal «Klassenkameraden» erzählt; viele hätten dort ihre Freunde aus der Schule und der Hochschule wiedergefunden.
Als ich mich dann schließlich dort registriert hatte, hielt ich im Wesentlichen nur mit denjenigen Kontakt, mit denen ich auch sonst bereits in Verbindung stand.
Eines Abends sah ich das Postfach durch und als ich den Absender und die Mitteilung erblickte, wurde ich starr, mir stockte der Atem.
«Hallo, Lerka! Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst. Wir waren in Kirow in derselben Klasse. Ich bin dann nach Smolensk gezogen. Wenn du dich erinnerst, schreib doch mal, wo du jetzt lebst. Wie geht es dir? Hattest du nicht eine Oma in Smolensk? Fährst du manchmal noch nach Smolensk? Anton Denisjenko».
Antoscha «Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst.» Antoscha Anton Denisjenko.
Die Schüler kannten sich alle seit der ersten Klasse. Du kamst in der sechsten dazu.
Deine Mutter, umwerfend hübsch und klug, hatte sich von deinem Vater getrennt und einen Fabrikdirektor geheiratet. Dein Stiefvater war nach Kirow versetzt worden, um dort wieder eine Fabrik zu leiten. So kams, dass du in unserer Klasse auftauchtest.
Du wohntest in einem Neubau hundert Meter von der Schule. Bloß einmal quer über den Platz.
Du saßest in der letzten Bank. Still und bescheiden. Obwohl es Heranwachsenden oft schwerfällt, sich in ein neues Kollektiv einzufügen, hat dich deine Wesensart zwar keine engen Freunde, aber doch ein paar gute Kameraden finden lassen.
Ich saß weiter vorne; beim Diktat durfte jeder bei mir abschreiben, Vorder-, Hinter- oder Nebensitzer. Und ich freute mich, wenn du an die Tafel gerufen wurdest. Ich liebte es so sehr, dich zu beobachten.
Nach ein paar Jahren wurde dein Vater nach Smolensk versetzt, um auch dort eine Fabrik auf Vordermann zu bringen. Deshalb hast du die zehnte Klasse nicht mehr bei uns beendet.
Du hast mich bei der Abschlussfeier nicht gesehen. In meinem hellblauen Kleid. Du warst nicht da. Dabei hatte ich mit keinem anderen tanzen wollen. Von diesem und von jenem wurde ich aufgefordert; doch ich hab keinen im Gedächtnis behalten.
In Smolensk lebte meine Großmutter. Als ich nach der Schule dorthin gezogen war und an der Pädagogischen Fachschule zu studieren begonnen hatte, hab ich dich wiedergefunden. Das war nicht schwer, unsere Mütter hatten untereinander Verbindung gehalten.
Erinnerst du dich denn nicht mehr, Antoscha? Es war Herbst, und mein siebzehnter Geburtstag. Du kamst zu mir und hast mir, wie immer sehr schüchtern, einen riesigen Strauß prächtiger roter Nelken überreicht. Solche Nelken hab ich weder vorher noch nachher jemals im Leben gesehen.