Der alte Mann zitterte vor Grauen und Kälte; gleichzeitig brach ihm Schweiß aus dem Leibe und überschwemmte die Poren. Die Tür einschlagen, mit den Fäusten sie zerprügeln, die Schamlose, war sein erstes Gefühl. Aber die Füße schwankten unter dem breiten Leib. Kaum noch fand er Kraft, sich in sein Zimmer und zum Bett zu schleppen; dort fiel er mit dumpfen Sinnen in die Kissen wie ein gefälltes Tier.
Der alte Mann lag reglos in seinem Bett; seine Augen starrten offen in das Dunkel. Neben ihm ging unbesorgt und satt der Atem seiner Frau. Erster Gedanke war, sie wachzurütteln, die schreckhafte Entdeckung zu berichten, sich das Herz auszuschreien, auszutoben. Aber wie das aussprechen, laut in Worten, das Entsetzliche? Nein, nie, nie käme ihm dies Wort über die Lippe. Aber was tun? Was tun?
Er versuchte nachzudenken. Aber die Gedanken taumelten wie Fledermäuse blind durcheinander. Es war ja so ungeheuerlich: Erna, das zarte, wohlerzogene Kind mit den schmeichelnden Augen… wann, wann hatte er sie noch über dem Schulbuch lesend gefunden, mit dem kleinen rosigen Finger die schweren Schriftzeichen mühsam nachziehend… wann sie nur in ihrem blassblauen Kleidchen von der Schule zum Zuckerbäcker geführt, den Kinderkuss gefühlt von dem noch bezuckerten Mund … War das nicht gestern gewesen?… Nein, das lag Jahre zurück.., aber wie kindlich hatte sie ihn gestern, ja wirklich gestern noch gebettelt, er möchte ihr den blaugoldenen Sweater kaufen, der in der Auslage sich so bunt vordrängte. „Papachen, bitte! bitte!“ – mit gefalteten Händen und dem Lachen, dem selbstgewissfrohen, dem er nie widerstehen konnte… Und jetzt, jetzt schlich sie, zehn Zoll von seiner Tür, nachts hinaus in das Bett eines fremden Mannes und wälzte sich dort gierig und nackt…
„Mein Gott!… mein Gott!“… er stöhnte unwillkürlich auf, der alte Mann. „Diese Schande! diese Schande! … mein Kind, mein zartes, behütetes Kind mit irgendeinem Mann… Mit wem?… Wer kann es nur sein?… Wir sind doch erst drei Tage hier in Gardone, und sie hat keinen von den geschniegelten Laffen vorher gekannt, nicht diesen schmalköpfigen Conte Ubaldi, nicht den italienischen Offizier und diesen Mecklenburger Herrenreiter… erst beim Tanzen am zweiten Tage sind sie bekannt geworden, und schon soll sie einer… Nein, das kann nicht der Erste gewesen sein, nein… das muss schon früher begonnen haben… zu Hause… und ich weiß nichts, ich ahne nichts, ich Narr, ich geschlagener Narr … Aber was weiß ich denn überhaupt von ihnen?… Den ganzen Tag schufte ich für sie, sitze vierzehn Stunden im Kontor, genau so wie früher mit dem Musterkoffer auf der Bahn… nur Geld für sie zu schaffen, Geld, Geld, damit sie schöne Kleider haben und reich werden … und abends, wenn ich heimkomme, müde, zerschlagen, da sind sie fort: im Theater, auf Bällen, in Gesellschaft… was weiß ich denn von ihnen, was sie treiben den ganzen Tag?… Nur das weiß ich jetzt, dass mein Kind nachts mit ihrem jungen reinen Leib zu den Männern geht wie eine von der Straße… Oh, diese Schande!“
Der alte Mann stöhnte immer wieder auf. Jeder neue Gedanke riss die Wunde tiefer: ihm war, als läge sein Gehirn blutig offen und wühlten rote Maden darin.
„Aber warum habe ich das alles geduldet?… Warum liege ich jetzt noch da und quäl mich ab, indes sie sich satt schläft mit ihrem unzüchtigen Leib?… Warum bin ich nicht gleich hineingefahren in das Zimmer, damit sie weiß, ich kenne ihre Schande?… Warum habe ich ihr nicht die Knochen zerprügelt?… Weil ich schwach bin … weil ich feig bin… Immer war ich schwach gegen sie beide… alles habe ich ihnen nachgegeben… ich war ja stolz, ihnen das Leben leicht sein zu lassen, wenn schon meines verdorben war… mit den Fingernägeln habe ich das Geld zusammengekratzt, Pfennig für Pfennig… das Fleisch hätte ich mir von den Händen reißen lassen, sie nur zufrieden zu sehen… Aber kaum ich sie reich gemacht, schon haben sie sich meiner geschämt… nicht elegant genug bin ich ihnen mehr gewesen… zu ungebildet… wo hätte ich Bildung lernen sollen? Mit zwölf Jahren haben sie mich schon aus der Schule genommen, und ich hab verdienen müssen, verdienen, verdienen… Musterkoffer tragen, von Dorf zu Dorf fahren, und dann von Stadt zu Stadt agentieren, ehe ich mein eigenes Geschäft auftun konnte…, und kaum waren sie oben und im eigenen Haus, da mochten sie meinen alten ehrlichen guten Namen nicht mehr… den Kommissionsrat, Geheimrat habe ich mir kaufen müssen, damit man sie nicht mehr Frau Salomonsohn anspricht, damit sie vornehm tun können… Vornehm! Vornehm!… Ausgelacht haben sie mich, wenn ich mich wehrte gegen die Vornehmtuerei, gegen ihre feine Gesellschaft, wenn ich ihnen erzählte, wie meine Mutter, Gott hab sie selig, das Haus führte, still, bescheiden, nur für den Vater und uns… altmodisch haben sie mich genannt… Du bist altmodisch, Papachen, hat sie immer gespottet… ja, altmodisch, ja… und jetzt liegt sie mit fremden Männern in fremdem Bett, mein Kind, mein einziges Kind… Oh, diese Schande, diese Schande…“
So furchtbar stieß dem alten Mann die seufzende Qual aus der Brust, dass die Frau an seiner Seite erwachte. „Was ist es?“ fragte sie schlaftrunken. Der alte Mann rührte sich nicht und hielt den Atem an. Und so lag er reglos im finstern Sarg seiner Qual bis in den Morgen hinein, von den Gedanken zerfressen wie von Würmern.
Morgens am Frühstückstisch war er als Erster zur Stelle. Aufseufzend setzte er sich hin, jeder Bissen widerte ihn an.
„Wieder allein“, dachte er, „immer allein!… Wenn ich morgens ins Büro gehe, schlafen sie noch behäbig und faul von ihren Tanzereien und Theatern… wenn ich abends heimkomme, sind sie schon fort auf Vergnügung, in Gesellschaft: da können sie mich nicht brauchen… oh, das Geld, das verfluchte Geld hat sie verdorben… das hat sie mir fremd gemacht… Ich Narr hab es zusammengescharrt und mich dabei selber bestohlen, mich hab ich arm gemacht damit und sie selber schlecht… fünfzig sinnlose Jahre habe ich geschuftet, keinen freien Tag mir gegönnt, und jetzt bin ich allein…“
Er wurde allmählich ungeduldig. „Warum kommt sie nicht… ich will mit ihr reden, ich muss es ihr sagen… wir müssen weg von hier, sofort… warum kommt sie nicht… wahrscheinlich ist sie noch müde, schläft prächtig mit gutem Gewissen, indes ich mir das Herz zerreiße, ich Narr… Und die Mutter putzt sich stundenlang, muss baden, sich appretieren, maniküren, frisieren lassen, die kommt nicht vor elf herab… ist es da ein Wunder?… was soll da werden aus einem Kind?… Oh, das Geld, das verfluchte Geld.“
Von rückwärts knisterte leichter Schritt. „Morgen, Papachen, gut geruht?“ Etwas beugte sich zart von der Seite heran, dünner Kuss streifte die hämmernde Stirn. Unwillkürlich scheute er mit dem Kopf zurück: der süßlichschwüle Geruch des Coty-Parfüms ekelte ihn. Und dann…
„Was hast du, Papachen… wieder schlechter Laune … Einen Kaffee, Kellner, und ham and eggs… Schlecht geschlafen oder schlechte Nachrichten?“
Der alte Mann bezwang sich. Er duckte den Kopf, ohne Mut, aufzuschauen, und schwieg. Nur ihre Hände sah er auf dem Tisch, die geliebten Hände: lässig und manikürt spielten sie wie verwöhnte schmale Windhunde auf dem weißen Rasen des Tuches. Er zitterte. Scheu tastete sein Blick die zarten jungfräulichen Arme empor, die kindlichen, die ihn früher… wie lange war das her? … so oft umschlungen vor dem Schlafengehen… Er sah die feine Wölbung der Brüste, die locker unter dem neuen Sweater im Atmen bebten. „Nackt… nackt… mit einem fremden Mann sich gewälzt“, dachte er ingrimmig. „All das hat er gefasst, betastet, beschmeichelt, geschmeckt, genossen… mein Fleisch und Blut… mein Kind… oh, dieser fremde Schuft… oh… oh.“
Unbewusst hatte er wieder gestöhnt. „Was hast du denn, Papachen?“ drängte sie schmeichlerisch heran.
„Was ich habe?“ dröhnte es in ihm. „Eine Hure zur Tochter, und nicht den Mut, es ihr zu sagen.“
Aber er murrte nur undeutlich: „Nichts! Nichts!“ und griff hastig nach der Zeitung, sich aus aufgeschlagenen Blättern eine Palisade[17] zu bauen gegen ihren fragenden Blick, denn immer mehr fühlte er sich unmächtig, ihren Augen zu begegenen. Seine Hände zitterten. „Jetzt müsste ich es ihr sagen, jetzt, solange wir allein sind“, quälte es ihn. Aber die Stimme versagte sich; nicht einmal aufzuschauen fand er die Kraft.
Und plötzlich, mit einem Ruck stieß er den Sessel zurück und flüchtete schweren Schrittes gegen den Garten; denn er fühlte, wie wider seinen Willen ihm eine dicke Träne über die Wange rollte. Und das sollte sie nicht sehen.
Der alte kurzbeinige Mann irrte im Garten herum und starrte lang auf den See. Ganz blind innen von zurückgestockten Tränen konnte er sich doch nicht erwehren, zu sehen, wie schön diese Landschaft war: hinter silbrigem Licht grünwellig aufsteigend, schwarz schraffiert mit den dünnen Strichen von Zypressen[18] blickten weichfarbig die Hügel und hinter ihnen schroffer die Berge, streng und doch ohne Hochmut die Lieblichkeit des Sees überschauend, wie ernste Männer geliebter Kinder belangloses Spiel. Wie das lind sich aufbreitete mit offener, blumiger, gastlicher Gebärde, wie das lockte, gütig und glücklich zu sein, dies zeitlos selige Lächeln Gottes in seinen Süden hinein! „Glücklich!“ Der alte Mann wiegte verworren den allzu schweren Kopf.
„Hier könnte man glücklich sein. Einmal hab ich’s auch haben wollen, auch einmal selber fühlen, wie schön die Welt der Sorglosen ist… einmal nach fünfzig Jahren Schreiben und Rechnen und Feilschen und Schachern auch einmal paar helle Tage genießen wollen… einmal, einmal, einmal, ehe man mich einscharrt… fünfundsechzig Jahre, mein Gott, da hat der Tod einem die Hand schon im Leib, und das Geld hilft einem nichts mehr und die Doktoren… Nur ein paar leichte Atemzüge wollte ich vorher, auch einmal etwas für mich… Aber mein Vater selig hat schon immer gesagt: „Das Vergnügen ist nichts für unsereinen, man trägt seinen Pack am Rücken bis ins Grab“… Gestern hab ich gemeint, auch ich dürft einmal mir’s wohl sein lassen… gestern da war ich so etwas wie ein glücklicher Mensch, hab mich gefreut an meinem schönen hellen Kind, mich gefreut an ihrer Freude… und schon hat mich Gott gestraft, schon nimmt er mir’s weg… Denn das ist vorbei jetzt für immer… Ich kann nicht mehr sprechen mit meinem eigenen Kind… ich kann ihr nicht mehr in die Augen schauen, so schäm ich mich… Immer werde ich daran denken müssen, zu Hause, im Büro und nachts im Bett: wo ist sie jetzt, wo war sie, was hat sie getan?… nie mehr ruhig nach Hause kommen, und da sitzt sie und springt mir entgegen, und das Herz geht mir auf, wenn ich sie sehe, jung und schön … Wenn sie mich küsst, werde ich mich fragen, wer hat sie gestern gehabt, diese Lippen… immer in Angst leben, wenn sie von mir fort ist, und immer mich schämen, wenn ich ihre Augen sehe. – Nein, so kann man nicht leben… so kann man nicht leben…“
Der alte Mann torkelte murmelnd hin und her wie ein Betrunkener. Immer starrte er wieder auf den See, immer liefen ihm wieder die Tränen in den Bart hinein. Er musste den Zwicker abnehmen und stand mit seinen kurzsichtigen nassen Augen so tölpelig auf dem schmalen Weg, dass ein Gärtnerjunge, der eben vorbei kam, verdutzt stehenblieb, laut auflachte und mit ein paar italienischen Spaßworten dem Verworrenen nachhöhnte. Das weckte den alten Mann aus seinem Schmerztaumel; er griff nach dem Zwicker und schlich zur Seite in den Garten, irgendwo dort auf einer Bank sich vor dem Menschen zu vergraben.
Aber kaum dass er sich abseitiger Stelle im Garten genähert, so schreckte ihn ein Lachen von links her wieder auf… ein Lachen, das er kannte und das ihm jetzt das Herz zerriss. Seine Musik war das gewesen, neunzehn Jahre lang, dies leichte Lachen ihres Übermuts… für dieses Lachen hatte er die Nächte durchfahren dritter Klasse bis Posen und Ungarn hinein, nur um dann etwas ihnen hinzuschütten, gelben Humus, aus dem diese unbesorgte Heiterkeit blühte… einzig für dieses Lachen hatte er gelebt und sich die Galle krank geärgert im Leibe … nur damit dies Lachen immer klingend blieb um den geliebten Mund. Und nun schnitt es in die Eingeweide wie eine glühende Säge, dies verfluchte Lachen.
Und doch zog es den Widerstrebenden an. Sie stand am Tennisplatz, das Rakett wirbelnd in der nackten Hand, lockeren Gelenks es hochwerfend im Spiel und wieder fangend. Und immer gleichzeitig mit dem aufgewirbelten Schläger wirbelte das übermütige Lachen in den azurnen[19] Himmel hinauf. Die drei Herren sahen ihr bewundernd zu, der Conte Ubaldi im lockern Tennishemd, der Offizier in seiner straffkleidenden, sehnenspannenden Uniform, und der Herrenreiter in tadellosen Breeches, drei scharf profilierte männliche Gestalten wie Statuen um dies wie ein Schmetterling flatternde Spielding. Der alte Mann starrte selbst gefangen hin. Mein Gott, wie schön sie war in ihrem hellen fußfreien Kleid, die Sonne fließend zerstäubt im blonden Haar! Und wie selig diese jungen Glieder ihre eigene Leichtigkeit fühlten in Sprung und Lauf, berauscht und berauschend mit diesem rhythmisch lockern Gehorchen der Gelenke. Jetzt warf sie übermütig den weißen Tennisball in die Luft, einen zweiten, einen dritten ihm nach; wunderbar, wie in Biegen und Haschen die schlanke Gerte ihres Mädchenleibes sich schwang, aufschnellend jetzt, den letzten zu greifen. So hatte er sie nie gesehen, so aufgezündet von übermütigen Flammen, weiße, fliehende, wehende Flamme selbst mit dem silbernen Rauch des Lachens über dem Lodern des Leibes – eine jungfräuliche Göttin, dem Efeu des südlichen Gartens, dem weichen Blau des spiegelnden Sees panisch entstiegen: so tanzhaft wild spannte sich nie daheim dieser schmale starrsehnige Leib im eifernden Spiele. Nie, nein, nie hatte er sie so gesehen, innerhalb der dumpfen, mauergedrängten Stadt, nie ihre Stimme in Zimmer und Straße gehört so lerchenhaft losgebunden vom irdisch Dumpfen der Kehle in eine fast singende Heiterkeit, nein, nein, nie war sie so schön gewesen. Der alte Mann starrte und starrte hin. Er hatte alles vergessen, er sah nur und sah diese weiße, fliehende Flamme. Und so hätte er gestanden, endlos ihr Bild einsaugend mit leidenschaftlichem Blick, hätte sie nicht endlich mit flinker Drehung, mit einem jappenden aufflatternden Sprung auch den letzten der jonglierten Bälle aufgefangen und atmend, keuchend, erhitzt mit lachend stolzem Blick an die Brust gedrückt. „Brava, Brava“ -wie nach einer Opernarie applaudierten die drei Herren, die angeregt ihrem geschickten Fangball zugesehen. Diese gutturalen Stimmen weckten den alten Mann aus der Bezauberung. Grimmig starrte er sie an.
„Da sind sie, die Schurken[20]“, hämmerte ihm das Herz. „Da sind sie… Aber wer ist es von ihnen?… wer hat sie gehabt von den dreien?… Wie fein sie ausstaffiert sind, parfümiert und rasiert, diese Tagediebe… unsereins musste in ihrem Alter im Kontor sitzen mit ausgeflickten Hosen und sich die Absätze krumm treten bei den Kunden… und ihre Väter, die sitzen vielleicht heute noch so und schinden sich ihretwegen die Nägel blutig… sie aber fahren in der Welt herum, stehlen dem lieben Herrgott den Tag, haben braune, unbesorgte Gesichter und helle, freche Augen… da kann man leicht frisch sein und vergnügt und braucht so einem eitlen Kind nur ein paar verzuckerte Worte hinzuwerfen, und schon kriecht sie ins Bett… Aber wer ist es von den dreien, welcher ist es? … Einer von ihnen, ich weiß es, der sieht ihr durch das Kleid ins Nackte, und schmatzt mit der Zunge: die hab ich gehabt… kennt sie heiß und bloß und denkt sich, heute abend wieder, und blinzelt ihr zu, – oh, dieser Hund!… ihn totpeitschen können, diesen Hund!“