Man hatte ihn drüben bemerkt. Die Tochter schwang salutierend das Rakett und lachte ihm zu, die Herren grüßten. Er dankte nicht, starrte nur überschwemmten, blutunterlaufenen Blicks auf ihren übermütigen Mund:
„Dass du noch so lachen kannst, du Schamlose… aber auch der eine da lacht vielleicht in sich hinein und denkt sich, da steht er, der alte dumme Jud, der nachts sein Bett zerschnarcht… wenn der wüsste, der alte Narr!… Ja, ich weiß, ihr lacht, ihr tretet über mich weg wie über einen schmutzigen Kotzen… aber die Tochter, die ist fesch und willig, die läuft euch hurtig ins Bett… und die Mutter, schon ein wenig dick ist sie und aufgetakelt, geschminkt und gestrichen, aber doch, redete man ihr zu, sie würde vielleicht auch noch ein Tänzchen wagen… Habt ja recht, ihr Hunde, habt ja recht, wenn sie euch nachrennen, die läufigen Weiber, die ehrlosen… Was geht’s euch an, dass sich dem ändern das Herz dabei zerkrümmt… wenn ihr nur euren Spaß habt, wenn sie nur ihren Spaß haben, die ehrlosen Weiber… Mit dem Revolver sollte man euch niederknallen, mit der Hetzpeitsche über euch fahren… Aber ihr habt ja recht, solang es keiner tut… solange man nur den Zorn in sich frisst wie ein Hund sein Ausgeworfenes… habt ja recht, wenn man so feig ist, so erbärmlich feig… nicht hingeht, die Schamlose packt und am Ärmel von euch wegreißt… wenn man bloß stumm dabeisteht, die Galle im Mund, feig… feig… feig..“
Mit den Händen hielt sich der alte Mann am Geländer, so schüttelte ihn ohnmächtiger Zorn. Und plötzlich spie[21] er vor den eigenen Fuß und taumelte aus dem Garten.
Der alte Mann tappte hinein in die kleine Stadt, vor einer Auslage blieb er plötzlich stehen; allerhand Dinge touristischen Gebrauchs, Hemden und Netze, Blusen und Angelzeug, Krawatten, Bücher, Backwerk bauten sich dort aus zufälligem Beieinander zu künstlichen Pyramiden und farbigen Etageren. Aber sein Blick starrte nur auf ein einziges Ding, das verachtet zwischen dem eleganten Gerümpel[22] lag: ein Knotenstock, dick und klobig, mit eiserner Bergspitze gehärtet, schwer in der Hand und furchtbar wohl niederfallend im Schlag. „Niederschlagen… niederschlagen, den Hund!“ Der Gedanke versetzte ihn in einen wirren, fast wollüstigen Taumel; es stieß ihn hinein in die Kramerei, wo er jenen knolligen Kolben gegen geringes Entgelt erstand. Und kaum das schwere, wuchtiggefährliche Ding in der Faust, fühlte er sich stärker: immer macht ja eine Waffe den körperlich Schwachen mehr seiner gewiss. Er spürte, wie vom Griff her die Muskeln vehementer sich spannten: „Niederschlagen… niederschlagen, den Hund!“ murmelte er zu sich selbst, und unbewusst wurde sein schwer stolpernder Schritt fester, aufrechter, geschwinder; er ging, ja er lief den Strandweg auf und ab, schweiß atmend schon, aber mehr dank der durchgebrochenen Leidenschaft als des beschleunigten Ganges. Denn immer hitziger krampfte sich die Hand an den wuchtigen Griff. Mit seiner Waffe trat er in die bläuliche Schattenkühle der Halle, sofort gereizten Blicks den unsichtbaren Gegner suchend. Und wirklich, in der Ecke, auf den weichen Strohkörben saßen sie alle beisammen, Whisky und Soda aus dünnen Strohröhren saugend, heiter gesprächig in faulenzerischer Geselligkeit: seine Frau, seine Tochter und die unvermeidlichen drei. „Welcher ist es? welcher ist es?“ dachte er dumpf, die Faust um den schweren Knoten gepresst. „Wem von ihnen den Schädel zerschlagen?… wem?… wem?“ Aber schon sprang, sein unruhiges Suchen missverstehend, Erna auf und ihm entgegen. „Da bist du, Papachen! Wir haben dich überall gesucht. Denk dir, Herr von Medwitz nimmt uns mit in seinem Fiat, wir fahren bis nach Desenzano den ganzen See entlang.“ Dabei drängte sie ihn zärtlich dem Tische zu, als ob er sich für die Einladung noch bedanken sollte.
Die Herren waren höflich aufgestanden und boten ihm die Hand. Der alte Mann zitterte. Aber an seinem Arme lag weich und betäubend dies Beschwichtigende ihrer warmen Gegenwart. In einer Ohnmacht des Willens nahm er, eine nach der ändern, die dargebotene Hand, setzte sich stumm, holte eine Zigarre heraus und kaute den Zorn seiner verbissenen Zähne in die weiche Masse. Über ihn hinweg flatterte das abgerissene Gespräch, französisch geführt, von übermütigem Lachen mehrstimmig überflogen.
Der alte Mann saß stumm geduckt und biss an seiner Zigarre, dass der Saft ihm braun in die Zähne rann. „Recht haben sie… recht haben sie“, dachte er. „Anspucken soll man mich… jetzt habe ich ihm noch die Hand gereicht!… allen dreien, aber ich weiß doch, dass einer von ihnen der Schurke ist… ruhig sitze ich am selben Tisch mit ihm… ich schlage ihn nicht nieder, nein, ich schlage ihn nicht nieder, ich reiche ihm höflich die Hand… Recht haben sie, ganz recht, wenn sie über mich lachen… Und wie sie über mich hinwegreden, als ob ich gar nicht da wäre!… als ob ich schon unter der Erde läge… und dabei wissen doch beide, Erna und ihre Mutter, dass ich kein Wort Französisch verstehe… beide wissen sie’s, beide, aber keine fragt mich irgend etwas nur zum Schein, nur damit ich nicht so lächerlich dasitze, so entsetzlich lächerlich… Luft bin ich für sie, Luft… ein unangenehmes Anhängsel, etwas Lästiges, Störendes … etwas, dessen man sich schämt und das man nur nicht wegtut, weil es Geld verdient… Geld, Geld, dieses dreckige, erbärmliche Geld, mit dem ich sie verdorben habe… dieses Geld, auf dem der Fluch Gottes liegt… Kein Wort reden sie zu mir, meine Frau, mein eigenes Kind, nur für diese Lungerer, für diese glatten, geputzten Laffen haben sie Blicke… wie sie ihnen zulachen, aufgekitzelt, als wären sie ihnen mit der Hand ans Fleisch gefahren… Und ich, ich dulde das alles… Ich sitze da, höre zu, wie sie lachen, und verstehe nichts, und sitze doch da, statt aufzuschlagen mit der Faust… da, mit dem Stock auf sie zu dreschen und sie auseinanderzutreiben, ehe sie sich zu paaren beginnen vor meinen eigenen Augen… ich erlaube das alles… ich sitze da, stumm, dumm, feig… feig… feig…“
„Gestatten Sie“, fragte in diesem Augenblick in mühseligem Deutsch der italienische Offizier und griff nach dem Feuerzeug.
Da fuhr, aufgeschreckt aus seinen gehitzten Gedanken, der alte Mann empor und starrte den Ahnungslosen grimmig an. Der Zorn stand noch heiß in ihm. Einen Augenblick krampfte die Hand den Stock. Dann aber zerrte sich der Mund schon wieder schief herab und zerging in ein unsinniges Grinsen: „Oh, ich gestatte“, wiederholte er, und die Stimme schlug schneidend über. „Gewiss gestatte ich, hehe… alles gestatte ich… was Sie wollen… hehe… alles gestatte ich… alles, was ich habe, steht ja zu Ihrer Verfugung… mit mir kann man sich alles gestatten…“
Der Offizier sah ihn befremdet an. Der Sprache unkund, hatte er nicht ganz verstanden. Aber dieses schiefe, grinsende Lachen beunruhigte ihn. Der deutsche Herr fuhr unwillkürlich auf, die beiden Frauen kalkweiß – für einen Augenblick stand die Luft zwischen ihnen allen starr und atemlos wie in der dünnen Pause zwischen Blitz und dem nachrollenden Donner.
Aber dann lockerte sich die wilde Verzerrung, der Stock glitt aus der gekrampften Faust. Wie ein geprügelter Hund kroch der alte Mann in sich zurück und hüstelte verlegen, von seiner eigenen Kühnheit erschreckt. Hastig knüpfte Erna, um die peinliche Spannung abzuschwächen, das abgerissene Gespräch neuerdings an; der deutsche Baron antwortete mit sichtlich beflissener Heiterkeit, und nach wenigen Minuten schon lief der gestockte Schwall wieder sorglos dahin.
Der alte Mann saß vollkommen abwendig inmitten der Schwatzenden, man hätte glauben können, er schliefe. Der wuchtige Stock, seinen Händen entsunken, pendelte[23] zwecklos zwischen den Beinen. Immer tiefer glitt das Haupt in die aufgestützte Hand. Aber niemand achtete mehr auf ihn: über sein Schweigen rollte die plaudernde Woge klingend hinweg, manchmal sprühte an übermütig scherzendem Wort Schaum von Gelächter funkelnd empor; er aber lag unten reglos in unendlichem Dunkel, ertrunken in Scham und Schmerz.
Die drei Herren standen auf, Erna folgte eilfertig und langsamer die Mutter; sie gingen, heiterem Vorschlag folgend, ins Musikzimmer nebenan und hielten es nicht für nötig, den dumpf vor sich Hindösenden besonders aufzufordern. Erst von der plötzlichen Leere um sich betroffen, wachte er auf, wie ein Schlafender aufschreckt vom Gefühl der Kälte, wenn nachts die Decke heruntergeglitten ist und kalte Zugluft den bloßen Leib überstreicht. Unwillkürlich tappte der Blick auf die verlassenen Sessel; aber da hämmerte schon vom Klaviersalon nebenan klapprig und reißerisch ein Jazz, er hörte Lachen und aufmunternde Rufe. Sie tanzten nebenan. Ja, tanzen, immer tanzen, das konnten sie! Immer wieder sich das Blut aufjagen, immer sich geil aneinanderreiben, bis der Braten gar war. Tanzen, abends, nachts und am hellichten Tag, die Faulenzer, die Müßiggänger, damit kirrten sie die Weiber.
Erbittert fasste er wieder den derben Stock und schlurfte ihnen nach. An der Tür blieb er stehen. Der deutsche Herrenreiter saß am Klavier und rasselte, halb umgewendet, um den Tanzenden gleichzeitig zuzusehen, auswendig und ungefähr einen amerikanischen Gassenhauer über die Tasten. Erna tanzte mit dem Offizier, die Mutter, schwerfällig und stark, schob der langstielige Conte Ubaldi nicht ohne Mühe rhythmisch vor und zurück. Aber der alte Mann starrte nur auf Erna und ihren Partner. Wie der Windhund leicht und schmeichlerisch seine Hände auf ihre zarte Schulter legte, als gehöre dieses Wesen ihm gänzlich an! Wie ihr Körper wiegend und hingebend, gleichsam sich versprechend, an den seinen drängte, wie sie ineinanderwuchsen vor seinen eigenen Augen in mühsam verhaltener Leidenschaft! Ja, der war es, der – denn in diesen beiden flutenden Körpern glühte sichtlich ein Einanderkennen, eine schon ins Blut gedrungene Gemeinschaft. Ja, der war es, der – nur der konnte es sein, er las an ihren Augen, die, halbgeschlossen und doch überströmend, in diesem flüchtigen Schweben ein heißer Genossenes erinnernd widerstrahlten – der war es, der Dieb, der nächtens glühend griff und durchdrang, was sich jetzt in dünnem wogendem Kleid halbdurchsichtig verhehlte, sein Kind, sein Kind! Unwillkürlich trat er heran, sie jenem wegzureißen. Aber sie bemerkte ihn nicht. Mit jeder Bewegung dem Rhythmus, dem unmerklich sie lenkenden Druck des Führers, des Verführers hingegeben: rückgelehnten Hauptes mit feucht geöffnetem Mund, ganz Trunkenheit und Selbstvergessen, wogte sie leise im weichen Geström der Musik, den Raum nicht fühlend, die Zeit nicht und den Menschen, den zitternden, keuchenden alten Mann, der blutunterlaufenen Blicks auf sie starrte in einer fanatischen Verzückung des Zornes. Nur sich selbst fühlte sie, ihre eigenen jungen Glieder, widerstandslos folgend dem knatternden Riss der jappenden, wirbelnden Tanzmelodie; nur sich selbst fühlte sie und dass ein Männliches atemnah sie begehrte, starker Arm sie umfing und sie sich bewahren musste in dieser weichen Schwebe, ihm nicht entgegenzustürzen mit begehrlichen Lippen und heiß einziehender Luft des Sich-Gebens. Und all dies war magisch dem alten Mann im eigenen erschütterten Blut bewusst: immer, wenn der Tanz sie von ihm wegströmte, war ihm, als ginge sie unter für immer.
Plötzlich riss wie eine klirrende Saite[24] die Musik mitten im Takte ab. Der deutsche Baron sprang auf: „Assez joué pour vous“, lachte er. „Maintenant je veux danser moimême.[25] “ Alle stimmten übermütig bei, die Gruppe löste sich aus der bewegten Zweiheit des Tanzes in ein locker flatterndes Beisammensein.
Der alte Mann kam wieder zu sich: etwas tun jetzt, etwas sagen! Nicht so tölpelig, so jämmerlich überflüssig dabeistehen! Eben wogte seine Frau vorbei, ein wenig keuchend von der Anstrengung und doch warm von Zufriedenheit. Der Zorn gab ihm einen plötzlichen Entschluss. Er trat ihr in den Weg: „Komm“, keuchte er ungeduldig, „ich habe mit dir zu reden.“
Sie blickte ihn verwundert an: Schweißperlen feuchteten ihm die blasse Stirn, seine Augen blickten irr. Was wollte er denn? Warum gerade jetzt sie stören? Schon formte sich ausweichendes Wort auf der Lippe; aber da war etwas so Zuckendes, so Gefährliches in seinem Gehaben, dass sie, des grimmigen Ausbruchs von vordem sich plötzlich erinnernd, ihm widerwillig folgte.
„Excusez, messieurs, un instant![26] “ wandte sie sich zuvor noch entschuldigend zu den Herren zurück. „Bei ihnen entschuldigt sie sich“, dachte ingrimmig der Aufgeregte, „bei mir haben sie sich nicht entschuldigt, wie sie vom Tisch aufgestanden sind. Ich bin der Hund für sie, der Fußfetzen, auf dem man herumtritt. Aber sie haben recht, sie haben recht, wenn ich es dulde.“
Sie wartete mit streng hochgezogenen Augenbrauen; wie ein Schüler vor dem Lehrer stand er zuckender Lippe vor ihr.
„Nun?“ forderte sie ihn schließlich heraus.
„Ich will nicht… ich will nicht…“ stammelte er endlich unbeholfen. „Ich will nicht, dass ihr…, dass ihr mit diesen Leuten da verkehrt.“
„Mit welchen Leuten?“ – absichtlich nicht verstehend, hob sie indigniert den Blick, als hätte er sie selber beleidigt.
„Mit denen da“ – wütend schwenkte er seinen niedern Kopf in die Richtung des Musikzimmers hinüber -, „es passt mir nicht… ich will es nicht…“
„Und warum nicht?“
„Immer dieser inquisitorische Ton“, dachte er erbittert, „als ob ich ihr Bedienter wäre“; und aufgeregter stotterte er: „Ich habe meine Gründe… Es passt mir nicht… Ich will nicht, dass Erna mit diesen Leuten spricht… Ich muss nicht alles sagen.“
„Dann tut es mir leid“, hochfahrend lehnte sie ab. „Ich finde alle drei Herren außerordentlich wohlerzogene Leute, weit bessere Gesellschaft, als wir sie zu Hause finden.“
„Bessere Gesellschaft!… Diese Tagediebe… diese … diese“… Der Zorn würgte immer unerträglicher. Und plötzlich stampfte er auf. „Ich will es nicht… ich verbiete es… hast du verstanden?“
„Nein“, antwortete sie kaltblütig. „Ich habe gar nichts verstanden. Ich weiß nicht, warum ich dem Kind sein Vergnügen verderben sollte…“
„Sein Vergnügen!… sein Vergnügen!… „ er taumelte wie unter einem Hieb, rot das Gesicht, die Stirn überströmt von feuchtem Schweiß – die Hand tastete ins Leere nach dem schweren Stock, sich anzuhalten oder loszuschlagen damit. Aber er hatte ihn vergessen. Das brachte ihn wieder zu sich. Er zwang sich – eine warme Welle strich ihm plötzlich über das Herz. Er trat näher, als wollte er ihre Hand fassen. Seine Stimme wurde ganz klein, bettlerisch fast. „Du… du verstehst mich nicht … ich will ja nichts für mich… ich bitte euch nur darum … es ist meine erste Bitte seit Jahren: fahren wir fort von hier… fort, nach Florenz, nach Rom, wohin ihr wollt, alles ist mir recht… Ihr könnt alles bestimmen, ganz wie ihr wollt… nur fort von hier, ich bitte dich… fort,… nur fort, heute noch… heute… ich… ich kann es nicht länger ertragen… ich kann nicht.“
„Heute?“ sie runzelte erstaunt und abweisend die Stirne. „Heute abreisen? Was sind das für lächerliche Ideen … und nur weil dir die Herren unsympathisch sind… Du musst ja nicht mit ihnen verkehren.“
Er stand noch da, die Hände flehentlich erhoben. „Ich kann es nicht ertragen, habe ich dir gesagt… ich kann nicht, ich kann nicht. Frag mich nicht weiter, ich bitte dich… aber glaube mir, ich kann es nicht ertragen… ich kann es nicht. Einmal tut mir etwas zuliebe, ein einziges Mal für mich…“
Darüben hatte das Klavier wieder zu hämmern begonnen. Sie blickte auf, von diesem Schrei wider Willen gefasst; aber wie unsagbar lächerlich sah er aus, der kleine dicke Mann, das Gesicht rot wie vor einem Schlagfluß, die Augen wirr und verquollen, die Hände aus zu kurzen Ärmeln zitternd ins Leere erhoben: es war peinlich, ihn so jämmerlich stehen zu sehen. Das mildere Gefühl erstarrte im Wort: