Interviews Aus Dem Kurzen Jahrhundert - Westhagen Monika 2 стр.


Heute wissen wir, an wen die erste Runde ging, die Entscheidende: sie wurde von den fünfzigtausend Soldaten gewonnen, die man mit Panzern geschickt hatte, um den Aufstand niederzuschlagen. Und Marcos? Was war aus dem Mann geworden, der auf eine gewisse Art dafür gesorgt hatte, dass die Legende von Emiliano Zapata, dem Helden der mexikanischen Revolution von 1910 wieder auflebte?

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19 Uhr, Hotel Flamboyant: Unser Kontaktmann kommt pünktlich. Er heißt Antonio und ist ein mexikanischer Journalist, der nicht einmal, sondern zehn oder zwanzig Mal im Dschungel war. Sicher, heute ist es nicht mehr wie noch vor einem Jahr, als Marcos noch ein relativ ruhiges Leben mit den Seinen im kleinen Dorf von Guadalupe Tepeyac, am Eingang zur Selva führte, mit Handy und PC “bewaffnet“ und mit Internetverbindung, jederzeit bereit, die Abgesandten der amerikanischen TV-Sender zu empfangen. Für die Indios hat sich bis heute nichts verändert, für Marcos und die Seinen schon – alles ist anders: nach der letzten Offensive der Regierung mussten sich die Anführer der Zapatisten wirklich und wahrhaftig in den Bergen verstecken. Hier gibt es keine Telefone, es gibt keinen Strom, keine Straßen: nichts.

Der colectivo (wie man hier diese komischen Taxi-Minibusse nennt) verschwindet rasch Kurve für Kurve in die Nacht. Im Innenraum riecht es nach Schweiß und nach feuchtem Stoff. Man braucht zwei Stunden bis nach Ocosingo , einem Pueblo am Eingang zum Dschungel. Auf den belebten Straßen treffen wir auf lachende Mädchen mit langen schwarzen Haaren und Indio-Gesichtern und auf viel Militär – überall. Die Zimmer des einzigen Hotels haben keine Fenster, nur ein Gitter in der Tür. Es sieht aus wie eine Gefängniszelle. Im Radio kommt eine Nachricht: «Heute hat die Mutter von Marcos erklärt: Mein Sohn, der Universitätsprofessor Rafael Sebastian Guillen Vicente, 38 Jahre, geboren in Tampico, ist der Sub-Comandante Marcos».

Am nächsten Tag haben wir einen neuen Führer. Er heißt Porfirio. Auch er ist ein Indio.

In seinem Minibus brauchen wir fast sieben Stunden durch Schlaglöcher und Staub, bevor wir in Lacandon, der letzten Ortschaft ankommen. Hier endet die befestigte Straße. Es beginnt der Dschungel. Es regnet nicht, aber der Schlamm reicht uns trotzdem bis zu den Knien. Geschlafen wird in Baracken am Weg, im Dschungel. Nach zwei Tagen strammem und kräftezehrendem Marsch durch den unwirtlichen Dschungel, halb erstickt wegen der Feuchtigkeit, kommen wir im Dorf an. Die Gemeinde nennt sich Giardin ; wir sind im Gebiet der Montes Azules . Hier wohnen etwas zweihundert Menschen. Alles Alte, Kinder und Frauen. Die Männer sind im Krieg. Man empfängt uns freundlich. Nur weniger sprechen Spanisch. Alle sprechen Tzeltal , den Dialekt der Maya. «Werden wir Marcos treffen?» fragen wir «Kann sein», Porfirio nickt zustimmend.

Um drei Uhr morgens werden wir sanft geweckt: wir müssen aufbrechen. Es scheint kein Mond, aber es gibt viele Sterne. Nach einem Marsch von einer halben Stunde kommen wir an eine Hütte. Im Inneren sind die Gestalten von drei Männern zu erahnen. Drinnen ist es dunkel, schwarz wie ihre Skimützen. Nach dem Steckbrief der Regierung ist Marcos ein Universitätsprofessor mit Abschluss in Philosophie mit einer Dissertation über Althusser, der an der Pariser Sorbonne promoviert hat. An diesem Punkt wird die Stille in der Hütte von einer Stimme in französischer Sprache unterbrochen: «Wir haben nur zwanzig Minuten. Ich würde lieber Spanisch sprechen, wenn das in Ordnung ist. Ich bin Sub-Comandante Marcos. Das Aufnahmegerät benutzen Sie besser nicht, denn wenn Sie abgehört werden, hätten wir alle ein Problem, vor allem Sie. Auch wenn wir uns offiziell im Waffenstillstand befinden, sucht man mich in Wirklichkeit mit allen Mitteln. Sie können mich fragen, was Sie wollen.»

Warum nennen Sie sich Sub-Comandante?

Man sagt über mich: «Marcos ist der Capo». Das stimmt nicht. Die Anführer sind sie, das zapatistische Volk, ich habe nur militärisch die Verantwortung. Sie haben mich beauftragt, für sie zu sprechen, weil ich Spanisch spreche. Die Kameraden benutzen mich als Sprachrohr. Ich gehorche nur.

Zehn Jahre im Untergrund sind lang... Wie leben Sie in den Bergen?

Ich lese. Von den zwölf Büchern, die ich mit in den Dschungel genommen habe ist eins der Canto General von Pablo Neruda. Ein anderes ist der Don Quijote ...

Und sonst?

Ansonsten vergehen die Tage und Jahre während unseres Kampfes. Wir sehen Tag für Tag dieselbe Armut, dieselbe Ungerechtigkeit... Du kannst hier nicht leben, ohne dass der Wille zu kämpfen, etwas zu verändern, stärker wird. Da müsstest du schon entweder Zyniker sein, oder ein Hurensohn. Dann sind da noch Dinge, die Journalisten mich für gewöhnlich nicht fragen. Das wir uns nämlich hier im Dschungel schon mal von Mäusen ernähren oder den Urin der Kameraden trinken müssen, um bei den langen Ortswechseln nicht zu verdursten … mehr ist dazu nicht zu sagen.

Was fehlt Ihnen? Was haben Sie zurück gelassen?

Mir fehlen Zucker und ein paar trockene Socken. Tag und Nacht nasse Füße zu haben, in der Kälte, das wünsche ich niemandem, und Zucker ist das einzige, was uns der Dschungel nicht liefern kann, man muss ihn von weit her beschaffen; wegen der physischen Anstrengungen braucht man ihn. Für diejenigen von uns, die aus der Stadt kommen sind bestimmte Erinnerungen gleichbedeutend mit Masochismus. Wir sagen uns ständig vor: «Erinnerst du dich an das Eis aus Coyoacàn ? Und die Tacos von Division del Norte ?». Erinnerungen. Wenn wir hier einen Fasan oder ein anderes Tier fangen, dann muss man drei oder vier Stunden warten, bis es fertig zubereitet ist. Und wenn die Truppe kurz vor dem Verhungern ist und das Fleisch roh isst, dann haben alle am nächsten Tag Durchfall. Das Leben ist hier anders und man sieht die Dinge anders … Moment, Sie haben mich gefragt, was ich in der Stadt zurückgelassen habe. Ein Metro-Ticket, einen Haufen Bücher, ein Heft voll mit Gedichten … und ein paar Freunde. Nicht viele, den einen oder anderen.

Wann werden Sie Ihr Gesicht zeigen?

Ich weiß es nicht. Ich denke, dass unsere Skimützen auch eine positive ideologische Bedeutung haben und sich mit unserem Verständnis der eigenen Revolution decken, die nicht individueller Natur ist, die keinen Anführer hat. Mit der Skimütze auf dem Kopf sind wir alle Marcos.

Nach Ansicht der Regierung verstecken Sie Ihr Gesicht, weil Sie etwas zu verbergen haben…

Die haben nichts kapiert. Aber das eigentliche Problem ist nicht mal die Regierung, sondern es sind vielmehr die reaktionären Kräfte der Chiapas, die Viehzüchter und Großgrundbesitzer der Region mit ihren privaten “weißen Wachen“. Ich glaube nicht, dass ein großer Unterschied zwischen der traditionellen rassistischen Einstellung eines Weißen aus Südafrika gegenüber einem Schwarzen und der eines Grundbesitzers der Chiapas gegenüber einem Indio besteht. Hier liegt für einen Indio die Lebenserwartung bei 50-60 Jahren für die Männer und bei 45-50 für die Frauen.

Und die Kinder?

Die Kindersterblichkeit ist sehr hoch. Ich möchte jetzt auch Ihnen die Geschichte von Paticha erzählen. Vor langer Zeit, bei einem Umzug von einem Dschungelgebiet in ein anderes kamen wir zufällig durch ein kleines, sehr ärmliches Dorf, wo wir stets von einem Zapatisten Kameraden mit einem drei bis vierjährigen Kind empfangen wurden. Die Kleine hieß Patricia, sprach ihren Namen aber «Paticha» aus. Ich habe sie gefragt, was sie einmal werden möchte, wenn sie groß ist und sie hat mir immer geantwortet: «una Guerrigliera». Eines Nachts fanden wir sie mit hohem Fieber vor. Antibiotika hatten wir nicht und sie hatte 40° Fieber oder höher. Die nassen Sachen trockneten an ihrem Körper wie an einem Ofen. Sie starb in meinen Armen. Patricia hatte keine Geburtsurkunde. Sie hatte auch keine Sterbeurkunde. Für Mexiko hat sie niemals existiert. Auch ihr Tod hat nie existiert. Das ist die Realität der Indios aus den Chiapas.

Die Zapatistenbewegung hat das gesamte politische System Mexikos in die Krise gestürzt, hat aber nicht gewonnen.

Mexiko braucht Demokratie und Personen, die über den Parteien stehen und diese garantieren. Wenn unser Kampf dazu beiträgt, dieses Ziel zu erreichen, dann war er nicht vergebens. Die Armee der Zapatisten wird jedoch niemals zu einer politischen Partei konvertieren. Sie wird von der Bildfläche verschwinden. Und am Tag, an dem das geschieht, werden wir eine Demokratie haben.

Und wenn das nicht geschieht?

Militärisch gesehen sind wir eingekesselt. Die Wahrheit ist, dass die Regierung schwerlich nachgeben werden wird, denn die Chiapas und insbesondere der Dschungel von Lacandona schwimmen buchstäblich in einem Meer von Öl. Und das Öl aus Chiapas ist die Garantie, die der mexikanische Staat den Vereinigten Staaten für die Milliarden von Dollar gegeben hat, die ihr die USA geliehen haben. Die Regierung kann also den Amerikanern gegenüber nicht zugeben, dass sie die Situation nicht unter Kontrolle hat.

Und Ihr?

Wir hingegen haben nichts zu verlieren. Unser Kampf ist ein Kampf ums Überleben und für einen Frieden in Würde.

Unser Kampf ist ein gerechter Kampf.

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Peter Gabriel

Der Rock-Kobold

Bei jedem seiner (seltenen) Auftritte unterstreicht der legendäre Gründer und Frontmann der Gruppe Genesis, dass sein Hunger nach jeglicher Form eines musikalischen, kulturellen und technologischen Experiments wirklich keine Grenzen kennt.

Ich traf Peter Gabriel zu diesem Exklusiv-Interview während der Musikshow «Sonoria», einem dreitätigen Event in Mailand, das ausschließlich dem Rock gewidmet war. Während einer zweistündigen großen Musikdarbietung sang und tanzte Gabriel, hüpfte auf der Bühne herum wie eine Sprungfeder und begeisterte das Publikum in einem Spektakel, das, wie immer, weit über das hinausging, was man von einem normalen Rockkonzert erwartet.

Am Ende des Konzerts lud er mich ein, zu ihm in die Limousine zu steigen, die ihn zum Flughafen brachte und auf der Fahrt erzählte er von sich, von seinen Zukunftsplänen, seinem sozialen Engagement im Kampf gegen Rassismus und Ungerechtigkeit an der Seite von Amnesty International, von seiner Passion für multimediale Technologien und von den Geheimnissen seiner neuen Scheibe «Secret World Live», die demnächst gerade überall in der Welt auf den Markt kommen sollte.

War das Ende des Rassismus in Sudafrika, das Ende der Apartheit u.a. auch ein Siegeszug des Rock?

Es war ein Sieg des südafrikanischen Volkes. Ich glaube aber, dass die Rockmusik auf irgendeine Weise zu diesem Ergebnis beigetragen hat.

Auf welche Weise?

Ich glaube, dass die Musiker viel getan haben, um die öffentliche Meinung in Europa und in Amerika in Bezug auf diese Thematik zu sensibilisieren. Ich habe selbst Songs wie "Biko" geschrieben, um zu erreichen, dass Politiker diverser Länder die Sanktionen gegen Südafrika unterstützten und Druck machten. Es war ein kleiner Beitrag, der sicherlich nicht die Welt verändert, aber es macht einen Unterschied, einen kleinen Unterschied, der uns alle mit einbezieht. Es sind nicht immer die großen Events, die thea-tralischen Gesten, die am Ende über die Ungerechtigkeit triumphieren.

In welcher Hinsicht?

Um ein Beispiel zu nennen: In den USA gibt es zwei alte Damen aus dem Middlewest, die das Schreckgespenst aller Folterknechte Lateinamerikas sind. Sie verbringen ihre Zeit damit, unablässig Briefe an Gefängnisdirektoren zu schreiben. Und weil sie sehr gut informiert sind, werden ihre Briefe häufig in amerikanischen Zeitschriften mit großer Auflage und großer Resonanz veröffentlicht. Davon profitieren auch auf die politischen Gefangenen, deren Namen sie öffentlich gemacht haben, die man – auf wundersame Weise – plötzlich nicht mehr schikaniert. Das meine ich, wenn ich von kleinen Unterschieden spreche. Im Grunde genommen hat unsere Musik für sie dieselbe Bedeutung wie ein Brief!

Ihr Engagement gegen den Rassismus ist eng verbunden mit der Aktivität Ihres Aushängeschildes, der Real World, zu Gunsten der ethnischen Musik ...

Das ist richtig. Für mich war es eine große Befriedigung, dass ich so viele unterschiedliche Musiker aus so entfernten Ländern, von China über Indonesien und Russland bis Afrika zusammenbringen konnte. Wir haben Künstler herausgebracht wie die chinesischen Guo Brothers oder den Pakistani Nusrat Fateh. In ihren Werken wie in denen der anderen Musiker von Real World habe ich viel Inspirierendes gefunden. Den Rhythmus, die Harmonie, die Stimmen... Bereits ab 1982 habe ich übrigens damit begonnen, mich in dieser Richtung zu engagieren, indem ich das Bath Festival organisiert habe, das im Grund genommen zugleich der erste öffentliche Auftritt der von mir gerade ins Leben gerufenen Körperschaft mit Namen “Womad - World of Music Arts and Dance” war. Hier haben Menschen die Möglichkeit, sich aktiv am Event zu beteiligen und zusammen mit den afrikanischen Gruppen auf vielen Bühnen zu spielen. Alles in allem war es eine so spannende und bedeutsame Erfahrung, dass das Experiment später in vielen Teilen der Welt wiederholt wurde: Japan, Spanien, Tel Aviv, Frankreich...

Gelten Sie deshalb als Erfinder der World Music?

Real World und die World Music sind in erster Linie ein Markenzeichen, unter dem Musik von Artisten aus aller Welt publiziert wird, damit diese Musik überall in der Welt verbreitet werden kann, Eingang findet in Plattenläden, Radiosender... Dennoch hoffe ich, dass dieses Logo rasch verschwindet, nämlich dann, wenn die Künstler die für mich ihre Musik aufnehmen, berühmt werden. Kurz gesagt, ich möchte, dass das geschieht, was mit Bob Marley und der Reggae-Musik passierte: die Leute sagen nicht mehr «das ist Reggae», sie sagen «das ist Bob Marley». Ich hoffe, dass mit der Zeit niemand meine Künstler mehr mit «das ist World Music betitelt.»

Sie haben sich in letzter Zeit stark in Richtung multimedialer Technologien orientiert. Ihre CD «Xplora 1» traf auf ein breites Interesse. Wie lässt sich das alles mit den Aktivitäten von Real World verbinden?

Mit und auf dieser CD kann man viele Dinge tun, zum Beispiel unter den Stücken der einzelnen Künstler auswählen, indem man auf die CD-Hülle klickt. Ich möchte aber sehr viel mehr solcher Optionen anbieten, denn die Interaktivität ist ein Medium, das die Musik zu Menschen bringt, die noch nicht viel Kontakt damit hatten. Im Grunde genommen ist es das, was Real World versucht, traditionelle Musik – die, wenn Sie so wollen, home made ist, mit den Möglichkeiten zu verschmelzen, die uns die neue Technologie bietet.

Wollen Sie damit sagen, dass Ihrer Ansicht nach die Rockmusik sich inzwischen selbst nicht mehr genügt und der Intervention des Hörers bedarf? Möchten Sie, dass jeder beim Produkt Rock selbst Hand anlegen kann?

Nicht unbedingt. Ich zum Beispiel höre die meiste Zeit Musik im Auto und möchte vermeiden, dass ich dazu einen Bildschirm

oder einen Computer brauche. Wenn mich dagegen ein Künstler interessiert, oder wenn ich mehr über seine Vita wissen möchte, wo er herkommt, was er denkt, dann habe ich mit Multimedia ein visuelles Instrumentarium an der Hand, mit dem ich diese Bedürfnisse befriedigen kann. Letztlich würde ich dafür plädieren, dass alle CDs künftig über diese doppelte Nutzerebene verfügen würden: einmal die einfache Hörfunktion und einmal die Möglichkeit, die darauf gespeicherten Daten im wahrsten Sinne des Wortes zu “erforschen” Mit “Xplora1” wollten wir eine kleine, eigene Welt schaffen, in der die Menschen sich bewegen und entscheiden können, in der sie Entscheidungen treffen und mit ihrem Umfeld und mit der Musik interagieren können. Im Inneren der CD kann man viele Dinge tun, wie beispielsweise einen virtuellen Rundgang durch die Aufnahmestudios von Real World machen, an vielen Events teilnehmen (u.a. an der Verleihung des Grammy Awards oder am Womad Festival), man kann Clips aus Konzerten anhören, meine Karriere mit Genesis von Anfang bis heute nachverfolgen, und schließlich einen Remix meiner Songs nach Lust und Laune starten.

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