Bitte, lieber Gott, betete sie. Lass diesen Albtraum enden. Wenigstens so lange, bis ich herausgefunden habe, wo ich bin und bis ich meine Kräfte wiedergefunden habe.
Als sie an sich heruntersah, fiel ihr zum ersten Mal ihre Kleidung auf. Sie trug ein langes, schwarzes Kleid, das mit wunderschönen Stickereien verziert war. Es reichte ihr bis zu ihren Zehen. Das Kleid war für einen offiziellen Anlass geeignet – wie beispielsweise eine Beerdigung –, aber ganz gewiss nicht für einen schnellen Spurt. Weil es ihre Beinfreiheit behinderte, beugte sie sich hinunter und riss es über den Knien ab. Danach konnte sie schon besser laufen.
Aber sie war immer noch nicht schnell genug, außerdem spürte sie, wie sie müde wurde. Die Menschenmenge hinter ihr dagegen schien über endlose Energien zu verfügen, denn sie kam immer näher.
Plötzlich traf etwas sie am Hinterkopf, und sie taumelte vor Schmerz. Als sie die Hand hob, um die Stelle zu ertasten, spürte sie Blut. Die Leute warfen mit Steinen nach ihr.
Mehrere Steine flogen an ihr vorbei, doch dann wurde sie ein weiteres Mal schmerzhaft getroffen, diesmal am Rücken. Der Mob war nur noch wenige Meter entfernt.
In der Ferne sah sie einen steilen Hügel, auf dem sich eine große mittelalterliche Kirche mit einem Kloster erhob. Dort wollte sie Schutz suchen. Hoffentliche schaffte sie es noch bis zu der Kirche.
Doch als der nächste Stein gegen ihre Schulter prallte, wurde ihr klar, dass ihr Plan nicht aufgehen würde. Der Hügel war zu weit entfernt, ihre Kräfte ließen nach, und ihre Verfolger hatten sie schon fast eingeholt. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich der Menge zu stellen und zu kämpfen. Was für eine Ironie! Nachdem sie jede Menge Vampirschlachten überstanden und sogar eine Zeitreise überlebt hatte, würde sie jetzt vielleicht von einer Gruppe dämlicher Dorfbewohner getötet werden.
Caitlin blieb abrupt stehen, drehte sich um und stellte sich dem Mob. Wenn sie schon sterben sollte, dann wollte sie wenigstens im Kampf fallen.
Mit geschlossenen Augen atmete sie tief durch. Als sie sich konzentrierte, blieb die Welt um sie herum stehen. Sie spürte das Gras unter ihren nackten Füßen, während sich ganz langsam, aber sicher eine urtümliche Kraft in ihr ausbreitete und über sie hinwegspülte. Mit aller Macht zwang sie sich, sich an die Wut zu erinnern, an ihre angeborene Urkraft. Einst hatte sie mit übermenschlicher Kraft trainiert und gekämpft, und jetzt wollte sie mit ihrem bloßen Willen erreichen, dass diese Kraft zurückkehrte. Sie hatte das sichere Gefühl, dass die Macht noch irgendwo tief in ihrem Inneren schlummerte.
Während sie so dort stand, fielen ihr sämtliche Schlägertypen und Idioten ein, denen sie in ihrem Leben begegnet war. Sie dachte an ihre Mutter, die ihr nicht einmal Freundlichkeit entgegengebracht hatte. Sie erinnerte sich an diese Schläger in New York, die Jonah und sie durch die Straßen gejagt hatten. Sie dachte an diese Idioten in der Hütte im Hudson Valley, die Sams Freunde gewesen waren. Und sie erinnerte sich daran, wie Cain sie auf Pollepel Island willkommen geheißen hatte. Anscheinend gab es immer und überall brutale Menschen, die auf Streit aus waren. Und es hatte ihr noch nie etwas genützt, vor ihnen davonzulaufen. Also musste sie sich der Situation stellen und kämpfen.
Während sie den Gedanken über die Ungerechtigkeit von all dem nachhing, baute sich die Wut in ihr auf. Sie verdoppelte sich, dann verdreifachte sie sich, bis ihre Adern anschwollen und ihre Muskeln beinahe zu bersten schienen.
Genau in diesem Moment wurde sie von dem Mob umzingelt. Ein Dorfbewohner zückte seinen Knüppel und zielte auf ihren Kopf. Mit ihrer wiederentdeckten Stärke duckte Caitlin sich gerade noch rechtzeitig, bückte sich, packte den Mann und warf ihn über ihre Schulter. Er flog mehrere Meter durch die Luft und landete auf dem Rücken im Gras.
Der nächste Mann holte mit einem großen Stein aus, den er ihr auf den Kopf schlagen wollte, doch sie packte sein Handgelenk und verdrehte es, bis er den Stein fallen ließ. Schreiend sank er auf die Knie.
Ein dritter Dorfbewohner schwang seine Hacke in ihre Richtung, doch sie war zu schnell: Sie wirbelte herum und packte das Gerät noch in der Luft. Dann riss sie es ihm aus der Hand, holte aus und schlug ihn damit auf den Kopf.
Die Hacke mit dem knapp zwei Meter langen Stiel war genau das, was sie brauchte. Sie schwang sie in einem weiten Kreis und schlug alle in Reichweite nieder. Auf diese Weise hatte sie sich in kürzester Zeit einen komfortablen Freiraum geschaffen. Als sie sah, wie ein weiterer Mann mit einem großen Stein ausholte, schleuderte sie die Hacke in seine Richtung und schlug ihm damit den Stein aus der Hand.
Dann lief sie mitten durch die verblüffte Menge, riss einer alten Frau die Fackel aus der Hand und schwang sie wild um sich. Als es ihr gelang, einen Teil des hohen, trockenen Grases in Brand zu setzen, ergriffen viele Dorfbewohner schreiend die Flucht. Nachdem die Feuerwand groß genug geworden war, warf sie die Fackel mitten zwischen die Leute. Sie landete auf dem Rücken eines Mannes, und im Handumdrehen standen er und sein Nachbar in Flammen. Einige Leute kreisten die beiden schnell ein, um das Feuer zu ersticken.
Diese Ablenkung nutzte Caitlin, um ihr Heil in der Flucht zu suchen. Schließlich hatte sie kein Interesse daran, jemanden zu verletzen – sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden, um durchzuatmen und herauszufinden, wo sie sich überhaupt befand.
Sie rannte den Hügel zur Kirche hinauf. Bald erkannte sie, dass sie die Verfolger dank ihrer wiedergefundenen Kraft und Schnelligkeit abhängen konnte. Hoffentlich war das Kirchenportal nicht abgeschlossen.
Die Abenddämmerung brach allmählich herein, und auf dem Marktplatz und entlang der Klostermauern wurden Fackeln angezündet. Als sie näherkam, entdeckte sie einen Nachtwächter weit oben auf den Zinnen des Klosters. Furcht breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er zu ihr hinunterblickte. Dann hielt er eine brennende Fackel hoch über seinen Kopf und schrie: »Ein Vampir! Ein Vampir!«
Gleichzeitig begannen die Kirchenglocken zu läuten. Aus allen Richtungen strömten Leute herbei, während der Nachtwächter immer weiter rief und die Glocken läuteten. Es war eine regelrechte Hexenjagd – alle Leute schienen es auf Caitlin abgesehen zu haben.
Sie lief so schnell, dass ihre ganze Brust schmerzte. Heftig keuchend erreichte sie die große Eichentür der Kirche – gerade noch rechtzeitig. Mit einem Ruck öffnete sie einen Türflügel, huschte hinein und schlug die Tür mit einem Knall hinter sich zu.
Dann sah sie sich verzweifelt um und entdeckte schließlich einen Hirtenstab, mit dem sie die zweiflügelige Tür kurzerhand verbarrikadierte.
Im selben Augenblick krachte es gewaltig, als Dutzende von Händen gegen die schwere Tür hämmerten. Sie erbebte, gab aber nicht nach. Der Hirtenstab hielt – zumindest jetzt noch.
Schnell ließ Caitlin ihren Blick durch den Raum schweifen. Glücklicherweise war die Kirche leer. Sie war riesengroß und wurde von einer sehr hohen Gewölbedecke überspannt. Der Ort wirkte kalt und leer. Hunderte von Kirchenbänken standen auf dem Marmorboden aufgereiht; über dem Altar brannten mehrere Kerzen.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, als hätte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung am anderen Ende der Kirche wahrgenommen.
Das Hämmern an der Tür wurde lauter, und das dicke Holz erzitterte. Caitlin wurde wieder aktiv und lief den Gang entlang auf den Altar zu. Als sie ihn erreicht hatte, entdeckte sie, dass sie recht gehabt hatte: Da war jemand.
Mit dem Rücken zu ihr kniete ein Priester ganz ruhig vor dem Altar.
Caitlin wunderte sich, warum er nicht auf den Lärm reagierte und ihre Anwesenheit einfach ignorierte. Wie konnte er so tief ins Gebet versunken sein? Hoffentlich würde er sie nicht dem Mob ausliefern.
»Hallo?«, sagte Caitlin.
Doch er drehte sich nicht um.
Caitlin ging eilig auf die andere Seite, von wo aus sie ihm ins Gesicht sehen konnte. Er war ein älterer Mann mit weißem Haar, sauber rasiert, und seine leuchtend blauen Augen schienen in Leere zu blicken. Nicht einmal jetzt sah er zu ihr auf. Doch sie spürte etwas. Trotz ihrer derzeitigen Notlage wusste sie, dass er anders war – er war wie sie, er war ein Vampir.
Das Hämmern am Kirchenportal wurde immer lauter, und als eine Türangel brach, sah Caitlin sich voller Angst um. Der Mob war äußerst zielstrebig, und sie wusste nicht, wohin sie flüchten sollte.
»Helfen Sie mir, bitte!«, flehte sie.
Einige Augenblicke lang betete er einfach weiter, dann sagte er schließlich, ohne sie anzusehen: »Wie können sie töten, was bereits tot ist?«
Das Splittern von Holz war zu hören.
»Bitte!«, drängte sie. »Liefern Sie mich ihnen nicht aus.«
Langsam erhob er sich, ruhig und gelassen, und zeigte auf den Altar. »Dort drin«, erklärte er. »Hinter dem Vorhang befindet sich eine Geheimtür. Geh!«
Ihr Blick folgte seinem Finger, aber sie sah nur ein großes Podest, das mit meinem seidenglänzenden Tuch bedeckt war. Schnell lief sie darauf zu, zog das Tuch zur Seite und fand die Geheimtür. Sie öffnete sie und quetschte sich in den winzigen Hohlraum.
Nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, spähte sie durch einen winzigen Spalt nach draußen. Der Priester eilte zu einer Seitentür und stieß sie mit erstaunlicher Kraft auf.
Genau in dem Moment flog das Hauptportal auf, und der Mob ergoss sich in die Kirche.
Schnell machte Caitlin die Tür einen Spalt weit auf und zog den Vorhang wieder ganz zu. Dabei hoffte inständig, dass niemand sie bemerkt hatte. Durch einen schmalen Spalt im Holz und im Vorhang konnte sie erkennen, dass die Leute den Gang entlangrasten und direkt auf sie zuzustürmen schienen.
»Dort entlang!«, rief der Priester. »Die Vampirfrau ist in diese Richtung geflüchtet!«
Dabei zeigte er auf die Seitentür. Die Menge stürzte an ihm vorbei und verschwand wieder in der Nacht.
Einige Augenblicke später hatten auch die letzten Verfolger die Kirche verlassen, und es kehrte wieder Ruhe ein.
Der Priester machte die Tür hinter ihnen zu und schloss sie ab.
Als seine Schritte auf Caitlin zukamen, öffnete sie zitternd vor Furcht und Kälte die geheime Tür.
Er schob den Vorhang zur Seite und sah auf sie hinunter.
Dann streckte er ihr freundlich eine Hand entgegen.
»Caitlin«, sagte er lächelnd. »Wir haben schon sehr lange auf dich gewartet.«
2. Kapitel
Rom, 1790
Kyle stand in der Dunkelheit und atmete heftig. Es gab nur wenige Dinge, die er mehr hasste als enge Räume. Als er die Hand ausstreckte und die Steinwände fühlte, die ihn umgaben, brach ihm der kalte Schweiß aus. Er war gefangen, es gab fast nichts Schlimmeres für ihn.
Er holte aus und schlug mit der Faust ein Loch in die Steinwand. Als sie in Stücke zersprang, musste er seine Augen vor dem Tageslicht schützen.
Wenn Kyle etwas noch mehr hasste, als gefangen zu sein, dann war es helles Tageslicht, das ihn direkt traf, ohne dass er seine Hautfolie angelegt hatte. Schnell sprang er über den Steinschutt und suchte Schutz hinter einer Mauer.
Jetzt atmete er erst einmal tief durch, wischte sich den Staub aus den Augen und musterte orientierungslos seine Umgebung. Das Unangenehme an Zeitreisen war, dass man nie genau wusste, wo man landen würde. Er hatte es seit Jahrhunderten nicht mehr ausprobiert, und er hätte es auch jetzt nicht getan, gäbe es da nicht diesen quälenden Stachel in seinem Fleisch, diese Caitlin.
Nachdem sie New York verlassen hatte, war es Kyle ziemlich bald klar geworden, dass er seinen Krieg nur zum Teil gewonnen hatte. Solange sie immer noch frei herumlief und nach dem Schutzschild suchte, konnte er nie wirklich zur Ruhe kommen. Er war so kurz davor gewesen, den Krieg zu gewinnen, die gesamte Menschheit zu versklaven und der Herrscher aller Vampire zu werden. Doch sie, dieses jämmerliche, kleine Mädchen, stand ihm im Weg. Solange es diesen Schutzschild gab, war seine Macht nicht vollkommen. Also hatte er keine andere Wahl, als Caitlin aufzuspüren und zu töten. Und wenn das bedeutete, dass er eine Zeitreise unternehmen musste, dann würde er auch das tun.
Schnell zog Kyle eine Hautfolie aus der Tasche und wickelte seine Arme, den Hals und den Rumpf ein. Dann sah er sich um und stellte fest, dass er sich in einem Mausoleum befand – es wirkte irgendwie römisch. Rom.
Seit einer Ewigkeit war er nicht mehr in Rom gewesen. Doch er war nicht ganz sicher, ob es wirklich in Rom war – durch das Zerschlagen des Marmors hatte er so viel Staub aufgewirbelt hatte, dass er nicht richtig sehen konnte. Erneut atmete er tief durch, sammelte seine Kräfte und ging nach draußen.
Er hatte recht gehabt, es war tatsächlich Rom. Als er die italienischen Zypressen sah, war ihm klar, dass es kein anderer Ort sein konnte. Er stand mitten auf dem Forum Romanum, vor ihm erstreckten sich das grüne Gras, die Hügel und Täler und die Ruinen der antiken Bauwerke Roms. Der Anblick weckte Erinnerungen – hier hatte er viele Leute getötet, als das Forum Romanum noch genutzt wurde, und einmal war er beinahe selbst ums Leben gekommen. Bei dem Gedanken lächelte er. Er mochte diesen Ort.
Außerdem war er perfekt für seine Zwecke geeignet. Das Pantheon war nicht weit entfernt, was bedeutete, dass er in kürzester Zeit bei den Richtern des Großen Rates von Rom vorsprechen konnte. Sie standen dem mächtigsten Vampirclan in Rom vor, und von ihnen würde er alle Antworten bekommen, die er brauchte. Sehr bald würde er wissen, wo Caitlin sich aufhielt, und wenn alles gut lief, bekäme er auch die Erlaubnis, sie zu töten.
Nicht, dass er eine Erlaubnis brauchen würde. Das war bloß Höflichkeit, Vampir-Etikette, die Befolgung von Jahrtausende alten Traditionen. Man bemühte sich immer um eine Genehmigung, wenn man jemanden auf dem Territorium eines anderen Clans töten wollte.
Doch selbst wenn sie sein Ersuchen ablehnen würden, würde er sich nicht von seinem Plan abhalten lassen. Das könnte die Dinge für ihn schwieriger gestalten, aber er würde einfach jeden töten, der sich ihm in den Weg stellte.
Kyle atmete die Luft Roms tief ein und fühlte sich sofort heimisch. Er war zu lange nicht mehr hier gewesen. Das New York der Neuzeit, die Vampirpolitik und die moderne Zeit hatten ihn zu sehr in Anspruch genommen. Das hier entsprach viel mehr seinem Stil. Als er in der Ferne Pferde und unbefestigte Straßen sah, vermutete er, dass er wahrscheinlich im achtzehnten Jahrhundert gelandet war. Perfekt. Rom war städtisch, aber noch sehr naiv und hatte noch zweihundert Jahre aufzuholen.
Als Kyle seinen Körper genau untersuchte, stellte er fest, dass er diesmal die Reise in die Vergangenheit ziemlich gut überstanden hatte. Bei vorhergehenden Reisen war er wesentlich mitgenommener gewesen und hatte mehr Zeit zur Erholung gebraucht. Nicht so bei dieser Reise – er fühlte sich stärker als je zuvor und war bereit, sofort loszulegen. Er spürte, dass seine Flügel sehr bald wachsen würden, und er direkt zum Pantheon fliegen könnte, wenn er wollte.
Doch er war noch nicht bereit, denn er hatte sich zu lange keinen Urlaub mehr gegönnt. Daher wollte er sich ein wenig umsehen und sich erinnern, wie es gewesen war, hier zu leben.