Wahrscheinlich aus gutem Grund, dachte Riley sich.
Was hätte Kyanne auch anderes tun können, als zu erkennen, dass ihre Zukunft in der Kanzlei von ihrer Beziehung zu Ryan abhing? Er war schließlich ein vollwertiger Partner. Er hatte die Macht in ihrer Beziehung.
Und doch stimmte etwas nicht, das konnte Riley spüren…
Sie sagte: „Also drängen Paul und Barrett dich zum Gehen? Das ist ihre Lösung?“
Ryan nickte, und Riley schüttelte ungläubig den Kopf.
Paul und Barrett waren selbst keine Heiligen. Im Laufe der Jahre hatte Riley mehrfach mitanhören müssen, zu welch abwertende Bemerkungen sich die drei Partnern hinabließen. Sie war sich sicher, dass deren eigenes Verhalten dem Ryans um nichts nachstand – möglicherweise sogar um einiges schlimmer war.
Sie sagte: „Ryan, du hast gesagt, dass sie keine Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnen wollte.“
Ryan nickte und nahm einen Schluck.
Sehr vorsichtig fuhr Riley fort: „Wie viele Vertraulichkeitsvereinbarungen wegen sexueller Belästigung sind denn über die Jahre auf deinem Konto verbucht worden?“
Ryan stöhnte erneut auf, und Riley wusste, dass sie auf die schmerzhafte Wahrheit gestoßen war.
Sie fügte hinzu: „Und Paul und Barrett – wie viele Vertraulichkeitsvereinbarungen gehen auf deren Konten?“
Ryan fuhr fort: „Riley, ich würde nur äußerst ungerne solche Details –“
„Nein, natürlich würdest du das nur ungern preisgeben“, unterbrach Riley ihn. „Ryan, du wirst hier als Sündenbock benutzt. Das weißt du, oder? Paul und Barrett versuchen das Image der Kanzlei reinzuwaschen, es so aussehen zu lassen, als hätten sie eine Null-Toleranz Grenze was Belästigung angeht. Indem sie dich loswerden, wollen sie das demonstrieren.“
Ryan zuckte mit den Schultern und sagte: „Ich weiß. Aber was soll ich machen?“
Riley wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Sie wollte ihm gegenüber kein Mitgefühl zeigen. Er hatte sich diese Grube über die Jahre hinweg selbst gegraben. Trotzdem ärgerte es sie, wie seine Partner ihn jetzt ans Messer lieferten.
Aber sie wusste, dass es nichts gab, was er jetzt noch dagegen unternehmen konnte. Außerdem bereitete ihr etwas anderes mehr Sorgen.
Sie zeigte auf die Koffer und fragte: „Was sollen denn die hier?“
Ryan blickte einen Augenblick zu den Koffern.
Dann sagte er mit stockender Stimme: „Riley, ich kann nicht nach Hause.“
Riley musste Luft holen.
„Was meinst Du damit?“, fragte sie. „Hast du dein Haus verloren?“
„Nein, noch nicht. Es ist nur…“
Ryans Stimme stockte, dann sagte er…
„Ich kann das nicht alleine durchstehen. Ich kann nicht alleine in diesem Haus wohnen. Ich erinnere mich andauernd an glückliche Zeiten mit dir und April. Ich denke ständig daran, wie ich alles ruiniert habe. Das Haus bricht mir das Herz, Riley.“
Er holte ein Taschentuch hervor und betupfte seine Augen. Riley war ratlos. Sie hatte Ryan sehr selten weinen gesehen. Beinahe hätte sie selbst zu weinen begonnen.
Doch sie wusste, dass sie gerade ein ernsthaftes Problem zu lösen hatte.
Sie sagte mit sanfter Stimme…
„Ryan, hier kannst du nicht bleiben.“
Ryan fiel in sich zusammen wie ein Luftballon, in den sich ein Nagel bohrte. Riley wünschte, dass ihre Worte ihn weniger verletzt hätten. Aber sie musste ehrlich mit ihm sein.
„Ich habe jetzt mein eigenes Leben“, sagte sie. „Ich habe zwei Mädchen, um die ich mich kümmern muss. Und es ist ein gutes Leben. Blaine und ich meinen es ernst miteinander – sehr ernst. Es ist sogar so, dass…“
Sie wollte ihm schon von Blaines Plänen erzählen, sein eigenes Haus für sie auszubauen.
Aber sie sah ein, dass das gerade zu viel gewesen wäre.
Stattdessen sagte sie: „Du kannst das alte Haus verkaufen.“
„Ich weiß“, sagte Ryan, immer noch leise weinend. „Das hatte ich geplant. Aber in der Zwischenzeit… ich kann einfach nicht dort wohnen.“
Riley wollte gerne etwas tun, um ihn zu trösten – seine Hand halten, ihn umarmen oder ihm irgendeine andere körperliche Geste des Trosts geben.
Es war verlockend und einige ihrer alten Gefühle für ihn kamen wieder in ihr hoch, aber…
Tu es nicht, sagte sie sich.
Bleib cool.
Denk an Blaine.
Denk an die Kinder.
Ryan schluchzte nun wie ein Schlosshund. Mit beinahe schon wahnsinniger Stimme sagte er…
„Riley, es tut mir leid. Ich will noch einmal von vorne anfangen. Ich will ein guter Ehemann und ein guter Vater sein. Ich könnte es bestimmt, wenn wir es nur… noch einmal versuchen würden.“
Sie hielt weiterhin Abstand zu ihm und sagte…
„Ryan, das können wir nicht. Dafür ist es viel zu spät.“
„Es ist nie zu spät“, rief Ryan. „Lass uns einfach wegfahren, nur wir beide, alles wird wieder gut.“
Riley spürte einen Schauder.
Er begreift nicht, was er da sagt, dachte sie.
Er hat gerade einen Nervenzusammenbruch.
Sie war sich nun ziemlich sicher, dass er schon früher am Tag getrunken haben musste.
Dann sagte er mit einem nervösen Lachen…
„Ich hab’s! Lass uns zur alten Hütte deines Vaters fahren! Ich war noch nie dort, kannst du dir das vorstellen? Nicht einmal in all den Jahren. Wir könnten dort einige Tage verbringen und –“
Riley unterbrach ihn scharf: „Ryan, nein.“
Er starrte sie an, als könne er seinen Ohren nicht trauen.
In besänftigendem Ton fuhr Riley fort: „Ich habe die Hütte verkauft, Ryan. Aber selbst wenn ich sie noch gehabt hätte…“
Sie verstummte für einen Moment und sagte dann…
„Ryan, du musst dich da jetzt selbst durchkämpfen. Ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber ich kann es nicht.“
Ryans Schultern sackten nach unten, und sein Schluchzen wurde leiser. Er schien sich Rileys Worte zu Herzen zu nehmen.
Sie sagte: „Du bist ein starker, kluger, einfallsreicher Mann. Du kannst das alles noch zu deinen Gunsten wenden. Ich weiß, dass du das kannst. Aber ich kann da nicht mitspielen. Es wäre nicht gut für mich – und wenn du ehrlich mit dir selbst bist, dann weißt du, dass es auch für dich nicht gut wäre.“
Ryan nickte elendig.
„Du hast Recht“, sagte er, nun mit festerer Stimme. „Ich hab’ es mir selbst eingebrockt, und nun muss ich es auch selbst wieder geradebiegen. Es tut mir leid, dass ich dich damit belästigt habe. Ich gehe jetzt.“
Als er sich erhob, sagte Riley…
„Warte einen Moment. Du bist gerade in keinem Zustand um hinters Steuer zu steigen. Lass mich dich fahren. Du kannst zurückkommen und dein Auto abholen, wenn es dir wieder besser geht.“
Ryan nickte erneut.
Riley war erleichtert, dass sie sich jetzt nicht erst darüber streiten mussten, und dass sie nicht gezwungen war, ihm die Autoschlüssel mit Gewalt wegzunehmen.
Riley wagte es nun auch, ihn am Arm zu nehmen, um ihn hinaus und zu ihrem eigenen Auto zu führen. Er schien sie auch tatsächlich als Stütze zu brauchen.
Während der Fahrt schwiegen sie beide. Als sie vor dem großen schönen Haus vorfuhren, in dem sie einst alle zusammen gewohnt hatten, sagte er: „Riley, es gibt da etwas, dass ich dir noch sagen wollte. Ich… ich finde, dass du das richtig toll machst. Und ich wünsche dir wirklich alles Gute.“
Riley hatte plötzlich einen Kloß im Hals.
„Oh, Ryan –“, begann sie.
„Nein, hör mir bitte zu, das ist jetzt wichtig. Ich bewundere dich. Du hast so viele großartige Dinge getan. Du warst immer eine gute Mutter für April, und nun hast du Jilly adoptiert, und jetzt hast du eine neue Beziehung begonnen, und ich sehe, dass er ein wirklich toller Kerl ist. Und nebenbei hast du zu allem Überfluss auch noch deine Arbeit gemacht, die Bösen geschnappt und Leben gerettet. Ich weiß nicht, wie du es machst. Dein Leben ist einfach stimmig.“
Riley war zutiefst überwältigt – und gleichzeitig zutiefst verstört.
Wann war das letzte Mal gewesen, dass Ryan so etwas zu ihr gesagt hatte?
Sie wusste einfach nicht, was sie ihm antworten konnte.
Zu ihrer Erleichterung stieg Ryan aus, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Riley saß noch im Auto und starrte auf das Haus, in dem Ryan verschwand. Sie fühlte wirklich mit ihm. Sie konnte sich selbst nicht vorstellen, jetzt alleine in diesem Haus zu sein – nicht mit all den Erinnerungen, die es beherbergte, den guten wie den schlechten.
Und seine Worte hallten in ihr nach…
„Dein Leben ist einfach stimmig.“
Sie seufzte und murmelte vor sich hin…
„Das ist nicht wahr.“
Es war eine echte Herausforderung für sie, zwei Mädchen zu erziehen, während sie ihrer vereinnahmenden und allzu oft gefährlichen Arbeit nachging. Sie hatte zu viele Richtungen gleichzeitig eingeschlagen, war zu viele Verpflichtungen eingegangen, und sie hatte noch nicht gelernt, damit umzugehen.
Würde es immer so bleiben?
Und wie würde sich Blaine in dieses Leben einfügen lassen?
War eine erfolgreiche Ehe in ihrer Lage überhaupt möglich?
Der Gedanke, eines Tages in einer Situation zu stecken, die mit Ryans vergleichbar war, ließ sie erschaudern.
Dann ließ sie das Haus, in dem sie einmal gelebt hatte, hinter sich und machte sich auf den Weg nach Hause.
KAPITEL ACHT
Riley lief in ihrem Wohnzimmer auf und ab.
Sie sagte sich, dass sie sich einfach entspannen sollte, dass sie seit ihrem Urlaub ja wusste, wie das ging. Doch jedes Mal erinnerte sie sich an das, was ihr Vater in ihrem Albtraum zu ihr gesagt hatte…
„Du bist ein Jäger, genau wie ich.“
Im Moment fühlte sie sich sicherlich nicht wie ein Jäger.
Viel eher wie ein Tier im Käfig, dachte sie.
Es war der erste Schultag, und sie hatte die Mädchen gerade zur Schule gebracht. Jilly war höchsterfreut, endlich dieselbe High School wie ihre Schwester zu besuchen. Die neuen Schüler und ihre Eltern hatten die typische Begrüßungsrede im Hauptauditorium erhalten. Anschließend hatte es eine kurze Führung durch die Klassenzimmer gegeben. April konnte zusammen mit Riley und Jilly an der Führung teilnehmen.
Obwohl Riley nicht die Möglichkeit gehabt hatte, mit jedem Lehrer ausführlich zu sprechen, war es ihr gelungen, sich allen als Jillys Mutter und April als Jillys Schwester vorzustellen. Einige von Jillys neuen Lehrern waren auch schon einmal Aprils Lehrer gewesen und wussten nur Gutes über sie zu berichten.
Als Riley nach der Einführungsveranstaltung noch bleiben wollte, machten sich beide Mädchen über sie lustig.
„Und was willst du machen?“, hatte April gefragt. „Mit Jilly zusammen im Unterricht sitzen?“
Riley hatte geantwortet, dass sie vielleicht genau das tun sollte, nur um ein entsetztes Stöhnen von Jilly zu hören zu bekommen.
„M-o-o-o-m! Das wäre so uncool!“
April hatte gelacht und gesagt: „Mom, jetzt sein nicht so ein ‘Kopter!“
Als Riley gefragt hatte, was ein „Kopter“ sei, hatte April ihr erklärt, dass das Wort für „Helikopter-Eltern“ stand.
Eines dieser Worte, die ich kennen sollte, hatte sich Riley gedacht.
Jedenfalls hatte Riley Jillys Gefühle respektiert und war nach Hause gefahren – und nun war sie hier. Gabriela war mit einer ihrer unzähligen Cousinen zum Mittagessen verabredet und wollte danach den Einkauf machen. Also war Riley ganz alleine im Haus, nur mit einer Katze und einem Hund, die nicht im Geringsten an ihr interessiert waren.
Ich muss damit aufhören, dachte sie sich.
Riley ging in die Küche und holte sich einen Snack. Dann zwang sie sich, sich aufs Sofa zu setzen und den Fernseher anzumachen. Die Nachrichten deprimierten sie, deshalb schaltete sie auf eine seichte Serie um. Sie hatte keine Ahnung, worum es in der Handlung gerade genau ging, doch eignete sich die Seifenoper zumindest eine Weile lang ganz gut als Ablenkung.
Doch es dauerte nicht lang, und ihre Aufmerksamkeit begann sich auf etwas anderes zu konzentrieren, und sie bemerkte, dass sie erneut darüber nachdachte, was Ryan während seines unangenehmen Besuchs hier gesagt hatte…
„Ich kann das nicht alleine durchstehen. Ich kann nicht alleine in diesem Haus leben.“
In diesem Moment hatte Riley das Gefühl, zu wissen, wie er sich fühlen musste.
Waren ihr Ex-Mann und sie sich doch ähnlicher als sie es sich eingestehen wollte?
Sie versuchte, sich selbst vom Gegenteil zu überzeugen. Im Gegensatz zu Ryan kümmerte sie sich um ihre Familie. Später würden die Mädchen und Gabriela nach Hause kommen, und sie würden alle gemeinsam zu Abend essen. Vielleicht würden Blaine und Crystal ihnen dieses Wochenende auch wieder Gesellschaft leisten.
Dieser Gedankengang machte Riley bewusst, dass Blaine seit der Situation mit Ryan etwas auf Abstand gegangen war. Riley konnte auch verstehen, warum das so war. Riley hatte mit Blaine nicht über den Besuch von Ryan sprechen wollen – es erschien ihr zu vertraulich und persönlich – und es war nur natürlich, dass Blaine das unruhig machte.
Sie verspürte das plötzliche Bedürfnis, ihn sofort anzurufen, doch sie wusste, dass Blaine noch viele Stunden Arbeit vor sich hatte. Nach seiner Rückkehr war es notwendig gewesen, die Abläufe in seinem Restaurant wieder in ihre gewohnten Bahnen zu lenken.
Riley konnte nicht umhin, sich schrecklich alleine in ihrem eigenen Haus zu fühlen…
Genau wie Ryan.
Sie fühlte sich ein wenig schuldig vor ihrem Ex-Mann – obwohl sie nicht genau wusste, weshalb. Nichts von dem, was in seinem Leben schieflief, war ihre Schuld gewesen. Trotzdem verspürte sie den schwachen Wunsch, ihn anzurufen, um herauszufinden, wie es ihm ging. Vielleicht konnte sie ihm ein wenig beistehen. Doch das war natürlich eine außerordentlich dumme Idee. Das letzte was sie jetzt tun sollte war, ihm irgendwelche irreführenden Signale zu senden und ihn glauben zu lassen, dass sie womöglich doch noch eine Zukunft zusammen hatten.
Während die Figuren aus der Serie stritten, weinten, einander ohrfeigten und durch die verschiedenen Betten wanderten, kam Riley ein anderer Gedanke in den Sinn.
Manchmal erschien ihr das eigene Leben zu Hause, ihre Familie und ihre Beziehungen nicht viel realer als das, was sie gerade im Fernsehen sah. Die tatsächliche Anwesenheit der geliebten Menschen schaffte es, sie von dem tiefliegenden Gefühl der Isolation abzulenken. Doch schon wenige Stunden alleine zuhause genügten, um sie schmerzlich daran zu erinnern, wie sie sich im Inneren tatsächlich fühlte.
Es gab da eine Leere in ihr, die nur durch eine Sache gefüllt werden konnte…
Durch welche genau?
Durch Arbeit.
Doch welche Bedeutung hatte ihre Arbeit für sie selbst oder für irgendjemand anderen?
Sie erinnerte sich erneut an etwas, was ihr Vater zu ihr im Traum gesagt hatte…
„Es ist ein verdammt sinnloses Leben, das du da führst – Gerechtigkeit für Menschen einzufordern, die bereits tot sind, für genau die Menschen, die keine Gerechtigkeit mehr brauchen.“
Sie fragte sich…
Ist das wahr?
Ist das, was ich tue, wirklich sinnlos?
Sicherlich nicht, denn sie hielt oftmals Mörder auf, die sonst mit großer Sicherheit weitere Opfer gefordert hätten.
Sie rettete auf lange Sicht gesehen Leben – so viele Leben, das konnte sie sich gar nicht vorstellen.
Und doch, damit sie überhaupt einen Job hatte, musste irgendjemand morden, und irgendjemand musste sterben…
Es beginnt immer mit dem Tod.
Oft blieben die Fälle ihr noch lange nach ihrem Abschluss im Gedächtnis und stifteten selbst noch dann in ihr ein Unbehagen, wenn die Mörder bezwungen und zur Rechenschaft gezogen worden waren.
Sie machte den Fernseher wieder aus, da die Seifenoper sie zu nerven begann. Dann lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und dachte an ihren letzten Fall, die Serienmörderin in Georgia.