Crane legte seine Hände ineinander und fügte hinzu…
„Klingt das nicht wesentlich plausibler, als von irgendeinem Psychopath auszugehen, der zehn lange Jahre… im Übrigen was genau gemacht hat? Winterschlaf?“
Sam holte tief Luft.
Fang diese Diskussion jetzt nicht noch einmal von vorne an, sagte sie sich.
Es ergab keinen Sinn, noch einmal zu erklären, was genau an Cranes Theorie sie störte. Zum einen war es der Hammer. Sie hatte selbst nachgesehen und bemerkt, dass Ogdens Hammer alle noch säuberlich in seinem Werkzeugkasten verstaut waren. Schleppte dieser Durchreisende also einen Hammer mit sich, wenn er von einer Stadt zur nächsten zog?
Das war sicherlich möglich.
Doch es kam ihr ein bisschen lächerlich vor.
Crane grummelte beleidigt: „Ich habe diesem Meredith Typen gesagt, dass du gelangweilt bist und eine überaus aktive Fantasie hast, und dass er es vergessen soll. Aber um ehrlich zu sein, war das ganze Gespräch ziemlich peinlich. Ich mag es nicht, wenn meine Leute über mich hinweg eigene Entscheidungen treffen. Es war nicht deine Sache, diese Anrufe zu machen. Das FBI um Hilfe zu bitten ist meine Aufgabe, nicht deine.“
Sam musste sich auf die Zunge beißen, um ihre Gedanken nicht laut auszusprechen.
Es gelang ihr, mit ruhiger Stimme zu sagen…
„Ja, Chief.“
Crane gab einen scheinbar erleichterten Seufzer von sich.
„Ich werde es dieses eine Mal dabei belassen und kein Disziplinarverfahren einleiten“, sagte er. „Um ehrlich zu sein, wäre ich echt froh, wenn keiner der Kerle herausfindet, dass das alles passiert ist. Hast du irgendjemandem von dem Quatsch erzählt, den du da getrieben hast?“
„Nein, Chief.“
„Dann sollte das auch so bleiben“, sagte Crane.
Daraufhin wandte er sich von ihr ab und begann ein neues Tetrisspiel. Sam verließ sein Büro, ging zu ihrem Tisch und setzte sich, um in Ruhe über diese Niederlage nachzudenken.
Wenn ich mit niemandem darüber sprechen darf, explodiere ich, dachte sie.
Doch hatte sie gerade versprochen, den anderen Cops nichts von alldem zu erzählen.
Wer blieb dann noch?
Ihr fiel genau eine Person ein… diejenige, die überhaupt der Grund gewesen war, weshalb sie hier war, um sich in diesem Job zu behaupten…
Mein Dad.
Er war selbst Cop gewesen, als damals die Bonnett Familie hier ermordet worden war.
Die Tatsache, dass der Fall nie gelöst worden war, hatte ihn jahrelang beschäftigt.
Vielleicht kann mir Dad irgendetwas darüber erzählen, dachte sie.
Vielleicht hatte er irgendwelche Gedanken dazu.
Doch Sam begriff schnell, dass das wahrscheinlich keine sonderlich gute Idee war. Ihr Vater wohnte jetzt in einem örtlichen Altersheim und war mittlerweile dement. Er hatte gute und schlechte Tage, doch einen Fall aus seiner Vergangenheit zu erwähnen, würde ihn ganz bestimmt nur verstören und verstimmen. Und das wollte Sam nicht.
Bevor ihr Partner Dominic für ihre morgendliche Rundfahrt hier eintrudelte, gab es nicht viel zu tun. Sie hoffte, dass er bald kommen würde, sodass sie ihre Runde fahren konnten, bevor die Hitze zu drückend wurde. Heute wurden außerordentlich hohe Temperaturen erwartet.
Sich bis dahin den Kopf über etwas zu zerbrechen, an dem sie sowieso nichts ändern konnte, war wohl wenig sinnvoll – auch wenn es sich dabei um einen Serienmörder handelte, der sich direkt hier in Rushville aufhielt, einen Mörder, der sich womöglich gerade darauf vorbereitete, erneut zuzuschlagen.
Versuch nicht daran zu denken, sagte sie sich.
Dann gähnte sie und murmelte…
„Als ob mir das gelingen würde.“
KAPITEL SECHS
Blaine saß am Steuer und fuhr sie zurück nach Fredericksburg, als Rileys Handy vibrierte. Sie war überrascht und besorgt zu sehen, von wem der Anruf kam.
Handelt es sich um irgendeinen Notfall? fragte sie sich.
Gabriela rief nie einfach nur an, um zu quatschen, und sie hatte explizit versprochen, sie während ihrer zwei Wochen am Strand nicht zu stören. Sie hatte Riley nur ab und zu eine SMS geschickt, um sie wissen zu lassen, dass zuhause alles in Ordnung war.
Rileys Vorahnung schien sich zu bewahrheiten, als sie den Anruf annahm und sofort die Panik in Gabrielas Stimme ausmachte…
„Señora Riley – wann werden Sie zuhause sein?“
„In ungefähr einer halben Stunde“, antwortete Riley. „Wieso?“
Sie hörte, wie Gabriela tief Luft holte bevor sie weitersprach…
„Er ist hier.“
„Von wem sprichst du?“, fragte Riley nach.
Als Gabriela nicht sofort antwortete, verstand Riley endlich…
„Oh mein Gott“, sagte sie. „Ryan ist da?“
„Sí“, antwortete Gabriela.
„Was will er?“, wollte Riley wissen.
„Er sagt es mir nicht. Aber er sagt, es ist wichtig. Er will auf Sie warten.“
Beinahe hätte Riley Gabriela gebeten, Ryan ans Telefon zu holen. Doch dann dämmerte ihr, dass, was auch immer Ryan von ihr wollte, er das sicherlich nicht am Telefon mit ihr besprechen wollte. Nicht während die anderen im Auto ihr zuhörten.
Stattdessen sagte Riley: „Lass ihn wissen, dass ich bald zuhause sein werde.“
„Das werde ich“, antwortete Gabriela.
Sie legte auf und starrte aus dem Autofenster.
Nach wenigen Augenblicken sagte Blaine: „Ähm… habe ich gerade richtig gehört, war da die Rede von…?“
Riley nickte.
Die Mädchen hatten auf der Rückbank Musik gehört und von dem Gespräch nichts mitbekommen. Doch nun war auch ihre Aufmerksamkeit geweckt.
„Was ist?“, fragte April. „Was ist los?“
Riley seufzte und sagte: „Es ist dein Vater. Er ist zuhause und wartet auf uns.“
April und Jilly stöhnten beide laut auf.
Dann fragte Jilly: „Kannst du Gabriela nicht sagen, dass sie ihn vor die Tür setzen soll?“
Riley war versucht zu gestehen, dass sie tatsächlich große Lust dazu gehabt hätte. Allerdings hätte sie es nicht fair gefunden, diese Aufgabe auf Gabriela abzuwälzen.
Stattdessen sagte sie…
„Du weißt, dass ich das nicht machen kann.“
April und Jilly stöhnten beide erneut, dieses Mal noch genervter.
Riley konnte nur zu gut verstehen, wie ihre beiden Töchter sich fühlten. Ryans letzter unangekündigter Besuch bei ihnen Zuhause war für alle unangenehm verlaufen – nicht zuletzt für Ryan selbst. Sein wiederholter Versuch sich bei den Mädchen anzubiedern, hatte nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. April hatte sich ihm gegenüber sehr kühl benommen und Jilly war einfach nur unhöflich gewesen.
Riley konnte keiner der beiden deshalb Vorwürfe machen.
Einmal zu viel hatte Ryan ihnen Hoffnungen gemacht, dass er ihnen ein Vater sein würde, nur um sie im Nachhinein wieder komplett hängenzulassen. Die Mädchen wollten nun nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Was will er nur schon wieder? fragte Riley sich und seufzte.
Was auch immer es war, sie hoffte, dass es nicht ihre gute Laune und die schönen Erinnerungen an den Urlaub, den sie gerade miteinander verbracht hatten, trüben würde. Es waren wundervolle zwei Wochen gewesen, trotz Rileys Traum von ihrem Vater. Seitdem hatte sie ihr Bestes gegeben, um Agent Merediths Anruf zu vergessen.
Doch nun schien die Nachricht von Ryans Besuch ihre düsteren Gedanken wieder hervorzulocken.
Ein Hammer, dachte sie.
Jemand wurde mit einem Hammer ermordet.
Sie ermahnte sich streng, dass sie das Richtige getan hatte, als sie Chief Meredith abgesagt hatte. Außerdem hatte er sie seitdem auch nicht noch einmal angerufen, was sicherlich nur bedeuten konnte, dass er es doch nicht so ernst genommen hatte.
Es war wahrscheinlich nichts, dachte sie.
Nur ein Fall für die örtliche Polizei.
*
Die Anspannung hatte merklich zugenommen als Blaine endlich den SUV vor Rileys Townhaus parkte. Ein teurer Audi parkte bereits dort. Es war natürlich Ryans Auto – doch konnte Riley sich nicht erinnern, ob es dasselbe Auto war, mit dem er letztes Mal gekommen war. Es gefiel ihm, immer das neueste Modell zu fahren, unabhängig davon, wie viel ihn das kostete.
Nachdem sie geparkt hatten, begann Blaine nervös einige Worte zu stammeln. Er wollte Riley und ihren Töchtern helfen, ihre Koffer ins Haus zu tragen, aber…
„Wäre das nicht komisch?“, fragte Blaine Riley.
Riley unterdrückte ein genervtes Seufzen.
Natürlich war es das, dachte sie.
Blaine und Ryan hatten sich nur wenige Male gesehen, und diese Treffen waren alles andere als herzlich verlaufen – zumindest was Ryans Verhalten anging. Blaine hatte sein Bestes gegeben, Ryan gegenüber wohlgesonnen zu sein, doch Ryan hatte durchgehend gekränkt und feindselig gewirkt.
Riley, April und Jilly konnten ihre Koffer ohne Probleme auch alleine ins Haus bringen. Sie waren nicht wirklich auf Blaines Hilfe angewiesen. Außerdem wollte Riley vermeiden, Blaine in eine unangenehme Situation zu bringen, und doch…
Warum zur Hölle sollte es ausgerechnet Blaine unangenehm sein, sich in meinem Haus aufzuhalten?
Blaine und Crystal wegzuschicken, war keine Lösung für ihr Problem.
Riley sagte zu Blaine: „Kommt einfach mit rein.“
Also stiegen sie aus und trugen sämtliche Koffer ins Haus. Zusammen mit Darby, Jillys kleinem Hund, der riesige Ohren hatte, stand Gabriela bereits an der Tür und nahm die Heimkehrenden in Empfang. Der Hund sprang freudig um sie herum, doch Gabriela sah nicht annähernd so freudig aus wie Darby.
Als sie die Koffer im Flur abstellten, konnte Riley Ryan bereits im Wohnzimmer sitzen sehen. Eine leichte Panik stieg in ihr auf, als sie sah, dass er zwei Koffer dabeihatte…
Plant er etwa, hier wieder einzuziehen?
Aprils schwarzweiße Katze Marbles lag schnurrend auf seinem Schoß.
Ryan schaute auf.
Er lächelte schwach und sagte mit ziemlich wehleidiger Stimme…
„Ein Kätzchen und ein Hund! Wahnsinn, wie viel sich verändert hat!“
Mit flinken Händen und einem genervten Murmeln riss April die Katze von Ryans Schoß.
Ryan sah so aus, als hätte ihn die Geste verletzt. Doch Riley konnte verstehen, wie sich April fühlen musste.
Als April und Jilly sich beide in Richtung der Treppe aufmachten, sagte Riley…
„Wartet, Mädchen. Habt ihr Blaine und Crystal nichts zu sagen?“
Ein wenig bestürzt darüber, dass sie es beinahe vergessen hatten, dankten April und Jilly Blaine und Crystal für die schöne Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten.
Crystal umarmte jede von ihnen. „Ich rufe dich morgen an“, sagte sie zu April.
„Und nehmt eure Sachen mit nach oben“, wies Riley die beiden an.
April und Jilly schnappten sich beide ihre Koffer. Da April noch immer Marbles auf dem Arm hatte, sammelte Jilly die restlichen Sachen auf. Mit Darby auf ihren Fersen, stiegen die beiden schließlich die Treppe hinauf. Wenige Sekunden später hörte man das Knallen zweier Türen.
Gabriela warf Ryan einen bestürzten Blick zu und verschwand in ihre eigene Wohnung.
Ryan sah Blaine an und sagte vorsichtig: „Hi, Blaine. Ich hoffe, ihr hattet alle einen guten Urlaub.“
Riley stand vor Staunen der Mund offen.
Er macht sich die Mühe, höflich zu sein, dachte sie.
Nun war sie sich sicher, dass hier etwas mächtig faul war.
Blaine machte eine leichte Bewegung mit der Hand und sagte: „Es war super, Ryan. Wie geht es dir?“
Ryan zuckte mit den Schultern und antwortete nicht.
Riley hatte fest vor, sich von Ryan nicht beeinflussen zu lassen.
Sie küsste Blaine liebevoll auf den Mund und sagte: „Danke für die wundervolle Zeit.“
Blaine wurde rot, offensichtlich verunsichert durch die Gesamtsituation.
„Danke dir – und den Mädchen“, sagte er.
Crystal schüttelte Riley die Hand und dankte ihr ebenso.
Blaine flüsterte Riley zu: „Ruf mich nachher an.“
Riley nickte, und Blaine verließ mit seiner Tochter das Haus.
Riley holte tief Luft und wandte sich nun der letzten im Wohnzimmer verbleibenden Person zu. Ihr Ex-Mann starrte sie mit einem stummen und flehenden Blick an.
Was will er? fragte sie sich aufs Neue.
Immer wenn Ryan auftauchte, hatte Riley sich normalerweise eingestehen müssen, dass ihr Ex-Mann nach wie vor ein sehr attraktiver Mann war – etwas größer, älter und durchtrainierter als Blaine, immer perfekt gepflegt und gut gekleidet. Doch dieses Mal war etwas anders. Er sah zerknittert, traurig und kaputt aus. Sie hatte ihn noch nie so gesehen.
Riley wollte ihn gerade fragen, was los sei, als er sagte…
„Hast Du vielleicht etwas zu trinken?“
Riley blickte ihm ins Gesicht. Es sah mager und fahl aus. Sie fragte sich…
Ob er in letzter Zeit öfter trinkt?
Hat er bereits etwas getrunken, bevor er hierhergekommen ist?
Sie spielte kurz mit dem Gedanken seine Bitte abzulehnen, stand dann aber auf, ging in die Küche und machte zwei Gläser mit Bourbon auf Eis fertig. Sie brachte die Drinks ins Wohnzimmer und setzte sich in den Sessel direkt gegenüber von ihm. Sie wartete bis er selbst zu sprechen begann.
In sich zusammengesunken und mit hängenden Schultern sagte er schließlich mit heiserer Stimme…
„Riley – ich bin ruiniert.“
Rileys Mund stand offen.
Was meinte er damit? fragte sie sich.
KAPITEL SIEBEN
Riley saß da und starrte ihn an. Ryan wiederholte seine Worte abermals…
„Ich bin ruiniert. Mein ganzes Leben – ruiniert.“
Riley war erschüttert. Sie konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so viel Niedergeschlagenheit ausgestrahlt hatte. Arroganz und Selbstsicherheit waren viel eher seine Art.
„Was meinst du damit?“, fragte sie ihn.
Er seufzte tief und elendig und sagte dann: „Paul und Barrett – sie drängen mich aus der Kanzlei.“
Riley konnte ihren Ohren nicht trauen.
Paul Vernasco und Barrett Gaynor waren Ryans Partner seitdem die drei die Kanzlei zusammen gegründet hatten. Darüber hinaus waren sie immer Ryans engste Freunde gewesen.
Sie fragte: „Was um Himmels Willen ist denn zwischen euch passiert?“
Ryan zuckte mit den Schultern und sagte zurückhaltend: „Sie meinen, dass ich zur Bürde für die Kanzlei geworden bin… ich weiß es nicht.“
Doch Riley hatte den starken Eindruck, dass er genau wusste, wovon die Rede war und wieso seine Partner ihn loswerden wollten.
Sie brauchte nur einen Versuch, um den Grund zu erraten.
„Sexuelle Belästigung“, sagte sie.
Ryan stöhnte auf.
„Schau, es war alles nur ein Missverständnis“, sagte er.
Riley musste sich fast auf die Zunge beißen, um nicht zu antworten…
„Ja, na klar war es nur ein Missverständnis.“
Rileys Blick vermeidend begann Ryan: „Ihr Name ist Kyanne, sie ist Juniorpartnerin. Sie ist jung…“
Seine Stimme verstummte für einen Moment, und Riley dachte…
Natürlich ist sie jung.
Sie waren immer alle jung.
Ryan sagte: „Ich dachte, dass alles auf Gegenseitigkeit beruhte. Wirklich. Es hat mit einem harmlosen Flirt begonnen – auf beiden Seiten, glaub mir. Dann ist alles eskaliert… naja, sie ist zu Paul und Barrett und hat sich über das feindseliges Arbeitsumfeld beschwert. Sie haben versucht, sie mit einer Vertraulichkeitsvereinbarung zu besänftigen, aber sie wollte nicht klein beigeben. Sie war nicht zu überzeugen, außer damit, dass ich gehe.“
Er verstummte wieder, und Riley versuchte sich das, was er ungesagt ließ, dazu zu denken. Es war nicht schwer, sich ein mögliches Szenario vorzustellen. Ryan war von einer schönen und lebhaften Juniorpartnerin bezaubert worden, womöglich einer ambitionierten jungen Frau, die ein Auge auf eine mögliche Partnerschaft in der Kanzlei geworfen hatte.
Wie weit ist Ryan gegangen? fragte Riley sich.
Sie bezweifelte, dass er ihr im Tausch gegen sexuelle Gefälligkeiten eine Beförderung versprochen hatte…
So ein Widerling ist er nun auch wieder nicht, dachte sie.
Und vielleicht sagte Ryan ja sogar die Wahrheit, wenn er meinte, dass die Anziehung auf Gegenseitigkeit beruht hatte, zumindest anfangs. Vielleicht hatten sie sogar eine Affäre mit beidseitigem Einverständnis gehabt. Doch an irgendeinem Punkt war etwas schief gegangen und der Frau, Kyanne, hatte nicht gefallen, was dann passiert war.