"Wie geht es Justin?", fragte Riley.
Riley hatte ein paar Mal mit Paulas Mann gesprochen, ihn aber nie besser kennen gelernt.
Paula seufzte wieder.
"Er ist im letzten Sommer gestorben."
"Das tut mir leid", sagte Riley. "Wie ist es passiert?"
"Es war plötzlich, vollkommen unerwartet. Ein Aneurysma – oder vielleicht ein Herzanfall. Sie haben angeboten eine Autopsie durchzuführen, um es herauszufinden. Ich habe gesagt, 'Warum die Mühe machen?' Es hätte ihn nicht zurückgebracht."
Riley fühlte mit der Frau. Sie wusste, dass Tilda ihre einzige Tochter gewesen war. Der Verlust ihres Mannes konnte nicht leicht sein.
"Wie kommen Sie klar?", fragte Riley.
"Ich leben einen Tag nach dem anderen", sagte Paula. "Es ist einsam hier."
Eine Spur fast unerträglicher Traurigkeit lag in ihrer Stimme, als wäre sie bereit, sich ihrem Mann im Tod anzuschließen.
Riley konnte sich ihre Einsamkeit nicht vorstellen. Sie spürte Dankbarkeit für die Menschen in ihrem Leben – April, Gabriela und jetzt auch Jilly. Riley hatte oft mit der Angst zu kämpfen, sie alle zu verlieren. April war mehr als einmal in Gefahr gewesen.
Und natürlich waren da noch wundervolle alte Freunde, wie Bill. Er hatte ebenfalls seinen Anteil an riskanten Situationen und Gefahren durchlebt.
Ich werde sie nie als selbstverständlich hinnehmen, dachte sie.
"Und wie geht es Ihnen, meine Liebe?", fragte Paula.
Vielleicht hatte Riley deshalb das Gefühl, dass sie mit Paula über Dinge reden konnte, die sie sonst mit kaum jemandem besprach.
"Nun ja, ich bin gerade dabei, ein dreizehnjähriges Mädchen zu adoptieren. Das ist ein richtiges Abenteuer. Oh, und Ryan war für eine Weile zurück. Dann ist er wieder abgehauen. Etwas niedlicheres, Jüngeres ist im ins Auge gefallen."
"Wie fürchterlich für Sie!", sagte Paula. "Ich hatte Glück mit Justin. Er ist nie fremdgegangen. Und ich nehme an, auf lange Sicht gesehen hatte er auch Glück. Er ist schnell gegangen, keine Schmerzen, kein Leiden. Ich hoffe, wenn meine Zeit kommt …"
Paulas Stimme verlor sich.
Riley schauderte.
Paula hatte ihre Tochter an einen Mörder verloren, der niemals seine gerechte Strafe erhalten hatte.
Riley hatte ebenfalls jemanden an einen Mörder verloren, der nie gefasst wurde.
Sie sprach langsam.
"Paula … ich habe immer noch Flashbacks. Und Albträume."
Paula antwortete in einer freundlichen, tröstenden Stimme.
"Ich nehme an, das ist nicht überraschend. Sie waren noch so klein. Und Sie waren dabei, als es passiert ist. Mir wurde erspart, was Sie durchgemacht haben."
Riley stutzte bei ihren Worten.
Es erschien ihr nicht so, als wäre Paula etwas erspart geblieben.
Sicherlich, sie war nicht gezwungen gewesen zu sehen, wie ihre Tochter starb.
Aber das eigene Kind zu verlieren musste schlimmer sein als das, was Riley erlebt hatte.
Paulas Fähigkeit zu selbstlosem Mitgefühl erstaunte Riley immer wieder.
Paula sprach weiter in ihrer tröstenden Stimme.
"Trauer geht nie weg, denke ich. Vielleicht sollten wir das auch nicht wollen. Was würde aus uns werden, wenn ich Justin und Sie ihre Mutter vergessen würden? Ich will niemals so hart werden. Solange ich noch Schmerz und Trauer empfinde, fühle ich mich menschlich … und lebendig. Es ist ein Teil von dem, was wir beide sind, Riley."
Riley hielt die Tränen zurück.
Wie immer sagte Paula ihr genau das, was sie hören musste.
Aber wie immer war es nicht einfach.
Paula fuhr fort, "Und sehen Sie, was Sie aus Ihrem Leben gemacht haben – Sie beschützen andere und sorgen für Gerechtigkeit. Ihr Verlust hat Sie zu dem gemacht, was Sie sind – ein Kämpfer, ein guter und mitfühlender Mensch."
Ein einzelnes Schluchzen löste sich aus Rileys Kehle.
"Oh, Paula. Ich wünschte, es müsste nicht so sein – für keinen von uns. Ich wünschte, ich hätte––"
Paula unterbrach sie.
"Riley, wir reden jedes Jahr darüber. Der Mörder meiner Tochter wird nicht gefasst werden. Es ist niemandes Schuld und ich will sie auch niemandem geben. Vor allem Ihnen nicht. Es war nie Ihr Fall. Es ist nicht Ihre Verantwortung. Jeder hat getan, was er konnte. Das Beste, was Sie tun können, ist einfach mit mir zu reden. Und das macht mein Leben so viel besser."
"Mein Beileid wegen Justin", sagte Riley.
"Danke. Das bedeutet mir viel."
Riley und Paula stimmten zu, im nächsten Jahr wieder zu sprechen und beendeten den Anruf.
Riley saß alleine in ihrem Büro.
Mit Paula zu sprechen war immer innerlich aufwühlend, aber meistens fühlte Riley sich danach besser.
Heute fühlte sie sich schlechter.
Warum?
Zu viel geht schief, wurde Riley klar.
Heute schienen alle Probleme in ihrem Leben zusammenzuhängen.
Und irgendwie konnte sie nicht verhindern, dass sie sich selbst die Schuld für all den Verlust, all den Schmerz gab.
Zumindest spürte sie nicht mehr den Drang zu weinen. Weinen half nicht. Außerdem hatte Riley einiges an Büroarbeit zu erledigen. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und versuchte zu arbeiten.
*
Später am Nachmittag fuhr Riley von Quantico direkt zur Brody Middle School. Jilly wartete bereits auf dem Gehsteig, als Riley hielt.
Jilly sprang auf den Beifahrersitz.
"Ich warte schon seit fünfzehn Minuten!", sagte sie. "Beeil dich! Wir kommen zu spät zum Spiel!"
Riley lachte leise.
"Wir kommen nicht zu spät", sagte sie. "Wir sind genau rechtzeitig."
Riley fuhr in die Richtung von Aprils Highschool.
Während sie fuhr begann Riley wieder, sich Sorgen zu machen.
War Ryan am Haus gewesen und hatte seine Sachen geholt?
Und wann und wie sollte sie den Mädchen beibringen, dass er nicht mehr zurückkam?
"Was ist los?", fragte Jilly.
Riley hatte nicht bemerkt, dass ihr Gesicht ihre Gefühle so deutlich zeigte.
"Nichts", sagte sie.
"Es ist nicht Nichts", sagte Jilly. "Das kann ich sehen."
Riley unterdrückte ein Seufzen. Wie April und Riley selbst, war Jilly mehr als aufmerksam.
Soll ich es ihr jetzt sagen?, fragte Riley sich.
Nein, jetzt war nicht die Zeit. Sie waren auf dem Weg, um bei Aprils Fußballspiel zuzusehen. Sie wollte den Nachmittag nicht mit schlechten Nachrichten ruinieren.
"Es ist wirklich nichts", sagte sie.
Riley hielt wenige Minuten vor Anpfiff vor Aprils Schule. Sie und Jilly gingen zu der Zuschauertribüne, die bereits recht voll war. Riley wurde klar, dass Jilly vielleicht recht gehabt hatte – sie hätten früher kommen sollen.
"Wo können wir sitzen?", fragte Riley.
"Da oben!", sagte Jilly und zeigte auf die oberste Reihe, wo noch einige Plätze frei zu sein schienen. "Ich kann mich vor das Geländer stellen und alles sehen."
Sie gingen die Tribüne nach oben und setzten sich. Kurze Zeit später begann das Spiel. April spielte im Mittelfeld und hatte offenbar viel Spaß. Riley bemerkte sofort, dass sie eine aggressive Spielerin war.
Während sie zusahen kommentierte Jilly, "April sagt, dass sie ihre Fähigkeiten in den nächsten Jahren ausbauen will. Stimmt es, dass Fußball ihr vielleicht ein College Stipendium bringen könnte?"
"Wenn sie wirklich daran arbeitet", sagte Riley.
"Wow. Das ist so cool. Vielleicht kann ich das auch."
Riley lächelte. Es war wundervoll, dass Jilly einen so positiven Ausblick auf die Zukunft hatte. In dem Leben, das sie hinter sich gelassen hatte, war wenig Anlass zur Hoffnung gewesen. Ihre Aussichten waren düster gewesen. Sie hätte vermutlich nicht einmal die Highschool beendet, geschweige denn ein College besucht. Eine ganz neue Welt der Möglichkeiten erschloss sich ihr jetzt.
Ich nehme an, ich mache wenigstens etwas richtig, dachte Riley.
Während Riley zusah, bewegte sich April auf das Tor zu und versenkte einen wundervollen Eckschuss. Sie hatte das erste Tor des Spiels geschossen.
Riley sprang auf, jubelte und klatschte.
Dabei erkannte sie ein weiteres Mädchen im Team. Es war Aprils Freundin Crystal Hildreth. Riley hatte Crystal schon eine Weile nicht mehr gesehen. Der Anblick des Mädchens wühlte einige verworrene Emotionen auf.
Crystal und ihr Vater, Blaine, hatten direkt neben Riley und ihrer Familie gewohnt.
Blaine war ein charmanter Mann. Riley hatte Interesse an ihm gehabt und er an ihr.
Aber all das hatte vor einigen Monaten geendet, als etwas Schreckliches passiert war. Danach waren Blaine und seine Tochter weggezogen.
Riley wollte wirklich nicht an diese Ereignisse erinnert werden.
Sie sah sich in der Menge um. Da Crystal spielte, war sicherlich auch Blaine unter den Zuschauern. Aber im Moment konnte sie ihn nicht sehen.
Sie hoffte, dass sie ihn nicht treffen würde.
*
In der Halbzeit rannte Jilly los, um mit ein paar Freunden zu sprechen, die sie gesehen hatte.
Riley bemerkte, dass sie eine SMS bekommen hatte. Sie war von Shirley Redding, der Immobilienmaklerin, die sie bezüglich des Verkaufs der Hütte ihres Vaters kontaktiert hatte.
Dort stand:
Gute Nachrichten! Rufen Sie mich sofort an!
Riley verließ die Tribüne und wählte die Nummer der Maklerin.
"Ich habe mir den Verkauf angesehen", sagte die Frau. "Das Grundstück sollte mehr als hunderttausend Dollar bringen. Vielleicht sogar das Doppelte."
Riley spürte einen Anflug von Erregung. So eine Summe würde eine große Hilfe für die College Pläne der Mädchen sein.
Shirley fuhr fort, "Wir müssen über Details reden. Passt es Ihnen gerade?"
Tat es natürlich nicht, also verabredeten sie sich für den nächsten Tag. Gerade als sie den Anruf beendete, sah sie, wie sich jemand durch die Menge auf sie zubewegte.
Riley erkannte ihn sofort. Es war Blaine, ihr ehemaliger Nachbar.
Sie bemerkte, dass der gut aussehende, lächelnde Mann noch immer eine Narbe auf seiner rechten Wange hatte.
Riley wurde das Herz schwer.
Gab er Riley die Schuld für diese Narbe?
Sie konnte nicht verhindern, dass sie es tat.
KAPITEL SECHS
Blaine Hildreth spürte eine Welle von widersprüchlichen Gefühlen, während er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Er hatte Riley Paige entdeckt, als sie aufstand, um ihrer Tochter zuzujubeln. Sie sah wie immer sehr lebendig und bemerkenswert aus und er war wie von selbst in der Halbzeit zu ihr gegangen. Jetzt sah sie ihn an, aber er konnte nichts aus ihrem Gesichtsausdruck lesen.
Wie fühlte sie sich, ihn zu sehen?
Und wie fühlte er sich, sie zu sehen.
Blaine konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken zu dem traumatischen Tag vor zwei Monaten wanderten.
Er saß in seinem Wohnzimmer, als er einen fürchterlichen Lärm von nebenan hörte.
Er rannte zu Rileys Haus und fand die Haustür halb offen stehen.
Er stürmte hinein und sah, was vor sich ging.
Ein Mann griff April, Rileys Tochter, an. Der Mann hatte April auf den Boden geworfen und sie wand sich unter ihm, schlug ihn mit ihren Fäusten.
Blaine rannte auf sie zu und zog den Angreifer von April herunter. Er kämpfte mit dem Mann, versuchte ihn zu überwältigen.
Blaine war größer als der Angreifer, aber nicht stärker und nicht annährend so beweglich.
Er schlug immer wieder nach dem Mann, aber die meisten seiner Schläge verfehlten sein Ziel, während die anderen keinen Eindruck zu hinterlassen schienen.
Plötzlich hatte der Mann einen vernichtenden Schlag in seine Magengrube gelandet. Blaine war die Luft weggeblieben. Er war zusammengeklappt.
Dann hatte der Angreifer gegen sein Gesicht getreten …
… und alles um ihn herum war schwarz geworden.
Dann war Blaine im Krankenhaus aufgewacht.
Und jetzt, als er auf Riley zuging, wühlte ihn die Erinnerung ein wenig auf.
Er versuchte, sich zu fangen.
Als er Riley erreichte, wusste er nicht, was er tun sollte. Die Hände zu schütteln kam ihm ein wenig lächerlich vor. Sollte er ihr eine Umarmung geben?
Er sah, dass Rileys Gesicht vor Scham gerötet war. Sie schien auch nicht zu wissen, was sie tun sollte.
"Hi, Blaine", sagte sie.
"Hi."
Sie standen sich einen Augenblick schweigend gegenüber und lachten dann ein wenig über ihre Befangenheit.
"Unsere Mädchen spielen heute sehr gut", sagte Riley.
"Vor allem deins", sagte Blaine.
Aprils Tor früh im Spiel hatte ihn wirklich beeindruckt.
"Bist du mit jemandem hier?", fragte Riley.
"Nein. Und du?"
"Nur Jilly", sagte Riley. "Ich nehme an, du kennst sie nicht. Jilly ist … nun, das ist eine lange Geschichte."
Blaine nickte.
"Meine Tochter hat mir von Jilly erzählt", sagte er. "Sie zu adoptieren ist wirklich eine tolle Sache."
Blaine erinnerte sich an etwas, das Crystal ihm erzählt hatte. Riley versuchte sich wieder mit Ryan zu versöhnen. Blaine, fragte sich, wie das wohl lief. Ryan war zumindest nicht hier beim Spiel.
Recht schüchtern sagte Riley, "Hör zu, wir sitzen ganz oben in der Reihe. Wir haben noch Platz. Willst du den Rest des Spiels mit uns angucken?"
Blaine lächelte.
"Das würde ich gerne", sagte er.
Sie gingen zurück zur Tribüne und erklommen die Stufen nach oben. Ein dünnes, junges Mädchen lächelte, als sie Riley sah. Aber sie sah nicht glücklich aus, als sie Blaine neben ihr bemerkte.
"Jilly, das ist mein Freund, Blaine", sagte Riley.
Ohne ein Wort stand Jilly auf und schickte sich an, wegzugehen.
"Setz dich zu uns, Jilly", sagte Riley.
"Ich setze mich zu meinen Freunden", sagte Jilly, drängte sich an ihnen vorbei und ging die Stufen nach unten. "Sie können mich noch reinquetschen."
Riley sah erschüttert und fassungslos aus.
"Es tut mir leid", sagte sie zu Blaine. "Das war sehr unhöflich."
"Das ist okay", sagte Blaine.
Riley seufzte und sie setzten sich.
"Nein, das ist nicht okay", sagte sie. "Eine ganze Menge Dinge sind nicht okay. Jilly ist wütend, weil ich mit jemandem zusammensitze, der nicht Ryan ist. Er war wieder bei uns eingezogen und sie hat sich sehr an ihn gewöhnt."
Riley schüttelte den Kopf.
"Jetzt zieht Ryan wieder aus", sagte sie. "Ich hatte noch keine Möglichkeit den Mädchen davon zu erzählen", sagte sie. "Oder vielleicht hatte ich einfach noch nicht den Mut. Es wird sie beide sehr treffen."
Blaine war ein wenig erleichtert, dass Ryan nicht mehr auf der Bildfläche war. Er hatte Rileys gutaussehenden Exmann einige Male getroffen und die Arroganz des Mannes war ihm sauer aufgestoßen. Außerdem musste er zugeben, dass er gehofft hatte, Riley wäre frei für eine neue Beziehung.
Aber er fühlte sich gleichzeitig schuldig bei dem Gedanken.
Das Spiel fing bald wieder an. Sowohl April, als auch Crystal spielten gut und Blaine und Riley feuerten sie von Zeit zu Zeit an.
Aber währenddessen dachte Blaine an das letzte Mal, als er Riley gesehen hatte. Es war kurz nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus gewesen. Er hatte an ihre Tür geklopft und ihr gesagt, dass er und Crystal wegzogen. Blaine hatte Riley eine lahme Entschuldigung gegeben. Er hatte gesagt, dass das Stadthaus zu weit von dem Restaurant entfernt war, das er besaß und leitete.
Er hatte außerdem versucht es so klingen zu lassen, als wäre es keine große Sache.
"Es wird sein, als hätte sich nichts geändert", hatte er ihr gesagt.
Das stimmte natürlich nicht und Riley hatte es nicht geglaubt.
Sie war sichtlich verstimmt gewesen.
Es schien keinen guten Zeitpunkt dafür zu geben, also schnitt er das Thema jetzt an.
In einer zögernden Stimme sagte er, "Hör zu, Riley, es tut mir leid, wie die Dinge das letzte Mal gelaufen sind, als wir uns gesehen haben. Als ich dir gesagt habe, dass wir umziehen, meine ich. Das war nicht gerade mein bester Moment."
"Du musst nichts erklären", sagte Riley.
Aber Blaine sah das anders.
Er sagte, "Schau, ich denke, wir beide kennen den Grund für unseren Umzug."