Bryers trat vor und streckte ihr die Hand entgegen. Mackenzie schüttelte sie und nutzte den Moment, um den Mann zu mustern. Er sah aus, als wäre er in seinen frühen Fünfzigern, hatte einen größtenteils grauen Schnurrbart und freundliche, blaue Augen. Sie erkannte sofort, dass er vermutlich sanftmütig und ein echter Südstaaten-Gentleman war, von denen sie schon so viel gehört hatte, seit sie nach Virginia gezogen war.
„Schön, Sie zutreffen“, sagte Bryers, während er ihre Hand schüttelte.
Nun, da sie einander vorgestellt waren, kam Ellington wieder zur Sache. „Haben Sie gerade viel zu tun?“, fragte er Mackenzie.
„Im Moment nicht“, antwortete sie.
„Nun ja, wenn Sie einen Augenblick Zeit hätten, würden Agent Bryers und ich gerne etwas mit Ihnen besprechen.“
Bei diesen Worten sah Mackenzie, wie sich ein Funke Zweifel auf Bryers Gesicht schlich. Bei näherer Betrachtung machte er sogar den Eindruck, als würde er sich nicht ganz wohl fühlen. Vielleicht wirkte er deshalb so zurückhaltend.
„Natürlich“, sagte sie.
„Kommen Sie“, meinte Ellington und deutete auf einen kleinen Studienraum im hinteren Teil des Gebäudes. „Ich gebe Ihnen einen Kaffee aus.“
Mackenzie erinnerte sich an das letzte Mal, als Ellington solch ein Interesse an ihr gezeigt hatte. Es hatte sie hierhergeführt, sie ihrem Traum, ein FBI Agent zu sein, mit allem, was dazu gehörte, nähergebracht. Deshalb ergab es Sinn, ihm jetzt zu folgen. Dabei warf sie einen Seitenblick auf Agent Bryers und fragte sich, warum er so einen unbehaglichen Eindruck machte.
*
„Sie sind bald fertig, nicht wahr?“, fragte Ellington, als sich die drei mit ihren Kaffeebechern, die Ellington in dem winzigen Café gekauft hatte, hinsetzen.
„Es dauert noch acht Wochen“, erwiderte sie.
„Dann fehlen noch Terrorismusbekämpfung, fünfzehn Simulationsstunden und etwa zwölf Stunden Schießübungen, nicht wahr?“, fragte.
„Und woher genau wissen Sie das alles?“, entgegnete Mackenzie besorgt.
Ellington zuckte nur mit den Schultern und grinste sie an. „Es ist gewissermaßen zu einem Hobby von mir geworden, Sie im Auge zu behalten, seit Sie hier angefangen haben. Ich habe Sie vorgeschlagen, weshalb es auch um meinen Kopf geht. Sie haben praktisch alle wichtigen Leute hier beeindruckt. Im Moment ist das alles hier sowieso mehr eine Formalität. Ich würde sagen, wenn Sie in den nächsten acht Wochen nichts gegen die Wand fahren oder abbrennen lassen, gehören Sie dazu.“
Er holte tief Luft und schien sich zu wappnen.
„Was uns zu dem Grund bringt, warum ich mit Ihnen sprechen wollte. Agent Bryers hier befindet sich in einer etwas prekären Lage und bräuchte eventuell Ihre Hilfe. Aber ich werde ihn das erklären lassen.“
Bryers schien sich der Sache immer noch nicht sicher zu sein. Das zeigte sich darin, dass er einige Sekunden verstreichen ließ, nachdem er seinen Kaffeebecher auf den Tisch gestellt hatte, bevor er anfing zu sprechen.
„Nun ja, wie Agent Ellington bereits gesagt hat, haben Sie die wirklich wichtigen Leute tatsächlich beeindruckt. In den vergangenen zwei Tagen habe ich Ihren Namen schon dreimal gehört.“
„In welchem Zusammenhang?“, wollte sie leicht nervös wissen.
„Ich arbeite gerade an einem Fall, der meinen Teampartner, mit dem ich nun schon seit dreizehn Jahre gemeinsam ermittle, aus dem Dienst treibt“, erklärte Bryers. „Er geht sowieso bald in den Ruhestand, weshalb das nicht sehr überraschend ist. Ich liebe den Kerl wie einen Bruder, aber er hat einfach genug. Er hat während seiner achtundzwanzig Jahre als Agent genug gesehen und will keine weiteren Alpträume, die ihm in den Ruhestand folgen. Das lässt natürlich eine Lücke frei, die ein neuer Partner füllen und der in seine Fußstapfen treten muss. Es wäre keine dauerhafte Zusammenarbeit – nur lange genug, um diesen aktuellen Fall hoffentlich zu lösen.“
Mackenzie spürte einen Stich Aufregung in ihrem Herzen und wusste, dass sie sich kontrollieren musste, bevor ihr Verlangen, sich zu beweisen, Überhand gewann. „Und in diesem Zusammenhang wurde mein Name genannt?“, vergewisserte sie sich.
„Das stimmt“, bestätigte ihr Bryers.
„Aber es gibt doch bestimmt genügend erfahrenere Agents, die diese Position besser füllen könnten als ich.“
„Es gibt vermutlich passendere Agents“, gab Ellington nüchtern zu. „Aber soweit wir das beurteilen können, ähnelt dieser Fall in vielen Punkten dem Fall des Vogelscheuchen-Mörders. Zudem denken viele Höhergestellte, dass der Fall perfekt für Sie ist, weil Ihr Name die Runde macht.“
„Aber ich bin doch noch gar kein Agent“, widersprach Mackenzie. „Ich meine, kann man bei so etwas wirklich noch acht Wochen warten?“
„Wir würden nicht warten“, sagte Ellington. „Und ohne hochnäsig klingen zu wollen, aber das FBI macht solche Angebote nicht gerade jedem. Eine Chance wie diese – nun ja, ich wette, dass jeder in Ihrer Klasse alles dafür tun würde. Es ist unglaublich unkonventionell und ein paar wichtige Leute scheinen die Sache auch aus dieser Perspektive zu sehen.“
„Es scheint mir nur…unethisch“, meinte Mackenzie.
„Das ist es auch“, stimmte ihr Ellington zu. „Auf gewisse Weise ist es technisch gesehen sogar illegal. Aber wir können die Ähnlichkeiten zwischen diesem Fall und dem, den Sie in Nebraska aufgeklärt haben, nicht ignorieren. Entweder, wir lassen Sie unbemerkt an dem Fall mitarbeiten, oder wir warten noch einmal drei bis vier Tage und hoffen, dass wir einen neuen Partner für Agent Bryers finden. Und Zeit ist von größter Bedeutung.“
Natürlich wollte sie die Chance ergreifen, aber es fühlte sich übereilt an, fast schon gehetzt.
„Kann ich ein wenig Bedenkzeit haben?“, fragte sie.
„Nein“, erwiderte Ellington. „Tatsächlich würde ich die den Fall betreffenden Unterlagen nach diesem Gespräch in Ihre Wohnung schicken lassen. Ich werde Ihnen ein paar Stunden geben, um sie sich anzuschauen und Sie dann heute Abend nach Ihrer Antwort fragen. Aber Mackenzie…ich rate Ihnen definitiv, diesen Fall anzunehmen.“
Sie wusste, dass sie es tun würde, aber sie wollte weder zu begierig noch zu anmaßend wirken. Außerdem setzte so langsam nun doch die Nervosität ein. Das war ihre große Chance. Und dass ihr ein so erfahrener Agent wie Bryers helfen wollte…nun ja, das war einfach unglaublich.
„Also“, begann Bryers, wobei er sich über den Tisch beugte und seine Stimme senkte. „Bis jetzt haben wir zwei Leichen, die auf derselben Mülldeponie gefunden wurden. Beide waren junge Frauen, die eine zweiundzwanzig, die andere neunzehn. Sie wurden nackt und mit Blutergüssen bedeckt gefunden. Das letzte Opfer zeigt zwar Spuren sexueller Misshandlung, jedoch keine Körperflüssigkeiten. Die Leichen tauchten in einem Abstand von etwa zweieinhalb Monaten auf, doch die Tatsache, dass beide auf derselben Müllhalde und mit der gleichen Art der Verletzungen gefunden wurden…“
„Das ist kein Zufall“, bemerkte Mackenzie, während sie darüber nachdachte.
„Nein, wahrscheinlich nicht“, erwiderte Bryers. „Nehmen wir also einmal an, dass das Ihr Fall wäre, dass sie ihn gerade erst zugeteilt bekommen hätten. Was würden Sie als erstes tun?“
Sie brauchte weniger als drei Sekunden, um eine Antwort zu finden. Als sie sie erklärte, spürte sie, wie sie in eine Art Zone rutschte – einem Gefühl, durch das sie wusste, dass sie Recht hatte. Wenn es je einen Zweifel gegeben hatte, dass sie diese Gelegenheit ablehnen könnte, dann wurde sie bei ihrer Antwort vernichtet.
„Ich würde bei der Mülldeponie beginnen“, sagte sie. „Ich würde mir die Gegend selber, mit meinen eigenen Augen anschauen wollen. Anschließend würde ich mit den Familienangehörigen sprechen. War eine der beiden verheiratet?“
„Die Zweiundzwanzigjährige“, sagte Ellington. „Sie war seit sechzehn Monaten verheiratet.“
„Dann ja“, erwiderte Mackenzie. „Ich würde bei der Mülldeponie anfangen und mich danach mit dem Ehemann unterhalten.“
Ellington und Bryers tauschten wieder einen wissenden Blick aus. Dann nickte Ellington und trommelte mit den Händen auf den Tisch. „Bist du dabei?“, wollte er wissen.
„Ja, ich bin dabei“, antwortete sie, unfähig, ihre Begeisterung noch länger zu kontrollieren.
„Gut“, sagte Bryers. Er griff in seine Tasche und schob ein paar Schlüssel über den Tisch. „Wir sollten keine Zeit verlieren. Lassen Sie uns anfangen.“
KAPITEL DREI
Als sie die Mülldeponie erreichten, war es 13:35 Uhr. Die dreißig Grad Celsius, die draußen herrschten, verschlimmerten den Gestank des Ortes, und die Fliegen brummten so laut, dass sie wie eine Art bizarre Musik klangen. Mackenzie war gefahren, während Bryers auf dem Beifahrersitz gesessen und sie über die Details des Falles informiert hatte.
Als sie aus dem Auto ausstiegen und sich den Müllbergen näherten, dachte Mackenzie, dass sie Bryers durchschaut hatte. Er war größtenteils ein Mann, der sich an Vorschriften hielt. Er kam nicht gerade aus sich heraus und sagte nur wenig, aber er war extrem nervös, dass sie mit ihm in demselben Auto fahren würde, obwohl seine Vorgesetzten dieser Sache mit verschlossenen Augen ihre Zustimmung gegeben hatten. All das konnte sie deutlich an seiner Körperhaltung und den flüchtigen Blicken, die er ihr zuwarf, erkennen.
Mackenzie ging langsam, während Bryers sich den großen, grünen Tonnen näherte. Er lief auf sie zu, als ob er hier arbeiten würde und sie musste sich daran erinnern, dass er bereits hier gewesen war. Er wusste, was ihn erwarten würde, was ihr das Gefühl gab, eine Anfängerin zu sein – was sie ja eigentlich auch war.
Sie ließ sich einen Moment Zeit, die Umgebung in sich aufzunehmen, denn sie hatte sich noch nie die Mühe gemacht, sich mit Mülldeponien zu beschäftigen. Der Bereich, in dem sie und Bryers sich zurzeit befanden – der Teil des Geländes, in dem Fahrzeuge erlaubt waren – war nichts weiter als eine Müllkippe. Er bestand aus sechs großen Metallcontainern, die nebeneinander aufgereiht waren, jeder von ihnen saß in einem Loch im Boden. Hinter den Müllgruben konnte sie einen Bereich sehen, an dem die Ausbeute auf LKWs geladen wurde. Um diese Gruben zu ermöglichen, in denen ein Großteil der Müllberge verschwand, war die gepflasterte Einfahrt und der Parkplatz wie ein Hügel geformt, auf dessen oberstem Punkt sie und Bryers nun standen, während die Straße durch die Mülldeponie und darüber hinaus führte und sich schlängelte, bis man am anderen Ende des Abladeplatzes wieder auf die Schnellstraße gelangte.
Mackenzie musterte den Boden. Dort, wo sie stand, gab es nichts außer zusammengedrücktem Dreck, der erst in Kiesel und dann auf der anderen Seite der großen Tonnen in Teer überging. Sie stand im dreckigen Bereich, auf dem Reifenspuren wie geisterhafte Abdrücke auf dem Boden zu sehen waren. Aufgrund der überkreuzten und verwischten Reifenabdrücke wäre es äußerst schwierig, eine verlässliche Spur zu identifizieren. In letzter Zeit war es trocken und heiß gewesen und es hatte zuletzt vor einer Woche geregnet, doch selbst das war nur ein leichtes Nieseln gewesen. Der trockene Boden würde die Sache noch zusätzlich erschweren.
Weil sie ahnte, dass es nahezu unmöglich war, nützliche Abdrücke aus dem Spurenchaos zu entnehmen, trat sie zu Bryers, der neben einer Müllgrube stand.
„Die Leiche wurde hier drinnen gefunden“, sagte Bryers. „Die Gerichtsmediziner haben bereits Blutproben und Fingerabdrücke des Opfers genommen. Sie hieß Susan Kellerman, war einundzwanzig Jahre alt, und kam aus Georgetown.“
Mackenzie nickte, doch schwieg. Als sie in die Grube schaute, verschoben sich ihre Prioritäten. Sie arbeitete jetzt direkt mit dem FBI zusammen, was ihr das Gefühl gab, ein paar Schritte zu überspringen. Sie würde ihre Zeit nicht damit verschwenden, etwas Offensichtliches zu suchen. Diejenigen, die vor ihr an dem Fall gearbeitet hatten – dazu gehörte wahrscheinlich auch Bryers – hatten diese Arbeit schon erledigt. Deshalb versuchte sich Mackenzie, auf das zu konzentrieren, was noch schleierhaft und womöglich übersehen worden war.
Nachdem sie sich die unmittelbare Umgebung etwa eine Minute lang angesehen hatte, war Mackenzie der Meinung, dass sie alles wusste, was es zu wissen gab. Bis jetzt war das allerdings nicht sonderlich viel.
„Sagen Sie mir“, forderte Bryers sie auf. „Was meinen Sie, warum der Mörder die Leichen hier ablegt? Welche Bedeutung hat das für ihn?“
„Ich glaube nicht, dass es reine Bequemlichkeit ist“, antwortete Mackenzie. „Ich denke, er versucht, auf Nummer sicher zu gehen. Er lässt die Leichen hier zurück, weil er sie loswerden will. Ich schätze auch, dass er in der Nähe lebt…nicht weiter als zwanzig oder dreißig Meilen entfernt. Ich glaube nicht, dass er so weit fahren würde, um eine Leiche loszuwerden…vor allem bei Nacht.“
„Warum bei Nacht?“, fragte Bryers.
Mackenzie wusste, dass er sie testete, aber das machte ihr nichts aus. Im Angesicht der unglaublichen Chance, die ihr gegeben worden war, hatte sie schon mit ein paar Sticheleien gerechnet.
„Weil es für ihn praktisch nur nachts möglich gewesen ist. Es wäre ziemlich dumm, hier bei Tageslicht eine Leiche abzulegen, wenn es nur so von Arbeitern wimmelt.“
„Dann denken Sie also, dass er schlau ist?“
„Nicht unbedingt. Er ist vorsichtig und sorgsam. Das ist nicht das Gleiche wie schlau.“
„Ich habe bemerkt, dass Sie sich nach Reifenabdrücken umgesehen haben“, meinte er. „Das haben wir bereits versucht und nichts gefunden. Es gibt einfach zu viele von ihnen.“
„Ja, das wäre schwierig“, entgegnete sie. „Wie gesagt, der Körper muss außerhalb der Betriebszeiten hier abgelegt worden sein. Ist das auch Ihre Annahme?“
„Ja, das ist sie.“
„Dann gibt es also keine brauchbaren Abdrücke“, fasste Mackenzie noch einmal zusammen.
Er lächelte sie an. „Das stimmt“, meinte er. „Zumindest keine Reifenabdrücke. Aber Fußabdrücke vielleicht. Nicht, dass das von Bedeutung wäre, es gibt einfach zu viele von ihnen.“
Mackenzie nickte und fühlte sich dumm, solch offensichtliche Fakten übersehen zu haben. Aber jetzt gerade brachte sie das auf einen neuen Gedanken.
„Nun ja, er wird die Leiche wohl kaum über der Schulter getragen haben“, bemerkte Mackenzie. „Seine Reifenabdrücke müssen irgendwo sein. Nicht hier, aber vielleicht direkt vor dem Tor. Wir könnten dann versuchen, die Abdrücke, die vor dem Tor aufhören, mit denen hier zu vergleichen. Wir könnten sogar direkt am Rand des Zaunes nachschauen, ob es irgendwelche Hinweise gibt, wo er den Körper möglicherweise hinübergeworfen hat.“
„Das ist ein guter Gedanke“, entgegnete Bryers offensichtlich amüsiert. „Dieses Detail haben die Leute der Spurensicherung erkannt, ich jedoch übersehen. Aber ja, Sie haben Recht. Er hätte sein Auto vor dem Tor abstellen müssen. Dann denken Sie also, dass die Spur, die vor dem Tor aufhört und dann wieder in die entgegengesetzte Richtung davonfährt, von unserem Täter stammen könnte.“
„Das könnte sein“, antwortete Mackenzie.
„Sie denken schon in die richtige Richtung, haben allerdings noch nichts Neues entdeckt. Was haben Sie sonst noch drauf?“
Er war nicht unhöflich oder respektlos, das erkannte sie schon an seinem Ton. Er wollte sie einfach nur anstacheln und zum Weitermachen motivieren.
„Wissen wir, wie viele Fahrzeuge jeden Tag hier durchfahren?“